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BFH - Entscheidung vom 16.07.2019

X B 114/18

Normen:
FGO § 96 Abs. 1 Satz 1
AO § 162
FGO § 96 Abs. 1 S. 1
AO § 162

Fundstellen:
BFH/NV 2019, 1127

BFH, Beschluss vom 16.07.2019 - Aktenzeichen X B 114/18

DRsp Nr. 2019/12717

Anforderungen an die Beweiswürdigung bei unterbliebener Verwertung der Schätzung eines vom Finanzgericht selbst beauftragten gerichtseigenen Prüfers

NV: Ein FG verstößt gegen seine Pflicht, die Entscheidung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnen, wenn es im Urteil ohne nähere Begründung die vom FA vorgenommene Vollschätzung der Einnahmen übernimmt und sich nicht mit der in den Gerichtsakten enthaltenen Stellungnahme des vom FG selbst beauftragten gerichtseigenen Prüfers auseinandersetzt, der mit einer vertret- und nachvollziehbaren Begründung zu einer wesentlich geringeren Schätzung als das FA kommt.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 19.07.2018 – 13 K 3338/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Köln zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Normenkette:

FGO § 96 Abs. 1 Satz 1; AO § 162 ;

Gründe

I.

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erzielte von Januar 2002 bis März 2007 gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines Bordells in angemieteten Räumen in der A–Straße in X. In Bezug auf dieses Objekt ist zwischen dem Kläger und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) unstreitig, dass der Kläger als Betreiber des Bordells anzusehen ist. Seinen Gewinn ermittelte er durch Betriebsvermögensvergleich.

Daneben gehören dem Kläger zwei weitere Gebäude in X, in denen unstreitig der Prostitution nachgegangen wird (B–Straße und C–Straße). In Bezug auf diese Objekte ist allerdings streitig, ob der Kläger lediglich Räume an Prostituierte vermietet und daraus Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt hat (so der Kläger) oder ob er auch insoweit als Bordellbetreiber gewerblich tätig war (so die Auffassung des Wohnsitz-FA).

Für die Streitjahre des vorliegenden Verfahrens (2005 und 2006) hat das FA drei jeweils eigenständige Bordellbetriebe angenommen und auf der Grundlage dieser Auffassung —in seiner Eigenschaft als Betriebs-FA— Bescheide über die gesonderte Feststellung von Einkünften aus Gewerbebetrieb für den Betrieb A–Straße sowie entsprechende Gewerbesteuermessbescheide für dieses Objekt erlassen.

Das Wohnsitz-FA führte im Herbst 2002 eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung im Objekt A–Straße durch. Dabei legte der Kläger keine Uraufzeichnungen vor. Der Prüfer nahm deshalb eine griffweise Hinzuschätzung von 3 % der erklärten Erlöse vor. Am 21. September 2005 führte das FA —in Begleitung der Steuerfahndung— eine Umsatzsteuer-Nachschau ebenfalls im Objekt A–Straße durch. Dabei wurden drei Prostituierte angetroffen. Die Steuerfahndung fand Uraufzeichnungen für die Zeit vom 3. August 2005 bis 16. September 2005 vor und behielt diese ein.

In den Kassenberichten für die Streitjahre, die in die Steuererklärungen einflossen, zeichnete der Kläger täglich jeweils nur einen Gesamtbetrag für "Zimmermiete" einerseits und "Getränke" andererseits auf. Weitere Uraufzeichnungen —mit Ausnahme der am 21. September 2005 aufgefundenen— liegen nicht vor. Etwaige Zahlungen des Klägers an die Prostituierten wurden nicht aufgezeichnet und auch nicht als Betriebsausgaben geltend gemacht.

Im Jahr 2008 wurde ein Steuerstrafverfahren gegen den Kläger eingeleitet. In diesem Rahmen führte das Wohnsitz-FA eine Außenprüfung beim Kläger durch, die auch das Objekt A–Straße umfasste.

Während der Prüfung nahm ein Herr M Kontakt mit der Steuerfahndung auf. Der Steuerfahnder fertigte über das Gespräch bei M kein Vernehmungsprotokoll, sondern lediglich einen Vermerk über eine "Besprechung" an. Dieser Vermerk ist nur vom Steuerfahnder, nicht aber von M unterschrieben. Den Akten ist nicht zu entnehmen, dass der Vermerk dem M überhaupt vorgelegt worden ist. Ausweislich des Vermerks äußerte M, er kenne den Kläger bereits langjährig, sei mit ihm befreundet und als Hausmeister/ Verwalter/Bewirtschafter bei ihm angestellt gewesen. Er habe die Prostituierten zwischen den verschiedenen Objekten hin– und hergefahren, eine Bankvollmacht besessen und in den häufigen Urlauben des Klägers die Bordelle abgerechnet.

Wie im Objekt B–Straße hätten die Prostituieren in jedem Objekt des Klägers bei täglicher Abrechnung 50 % des Dirnenlohns erhalten. Dabei hätten sie die Vorauszahlungen der Freier entgegengenommen, die Geldscheine zusammen mit einem Zettel, auf denen ihr "Künstlername" verzeichnet gewesen sei, zusammengerollt und mit einem Gummiband fixiert. In dieser Form sei das Geld in einen verschlossenen Briefkasten eingeworfen worden. Am Tagesende sei der Briefkasten geöffnet und mit jeder Prostituierten abgerechnet worden. Im Objekt A–Straße seien tagsüber ca. fünf, abends ca. zehn Prostituierte anwesend gewesen. In den Jahren 2005 und 2006 sei dort allerdings kaum etwas gelaufen; es seien nur die Kosten eingespielt worden, die sich auf ca. 11.000 € bis 12.000 € monatlich belaufen hätten. In guten Zeiten seien hier hingegen monatlich 50.000 € bis 60.000 € umgesetzt worden. Der Kläger habe für alle Objekte die Werbung vorgenommen.

M war Anfang 2006 im Streit aus dem Betrieb des Klägers ausgeschieden. Anschließend forderte er vom Kläger die Erfüllung eines nach seiner Darstellung bestehenden Darlehensrückzahlungsanspruchs. Der Kläger zeigte M wegen Erpressung an. In diesem Zusammenhang erklärte M in seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, er habe gegen den Kläger eine Darlehensforderung über ca. 60.000 €, die er aber nicht belegen könne. Als er von der Fahndungsprüfung beim Kläger gehört habe, habe er die Chance gesehen, diesem "ein auszuwischen und ihm noch mal Druck zu machen, damit ich an mein Geld komme". Die Aussage beim FA sei wahrheitsgemäß gewesen. Später habe der Kläger ihn gebeten, ihm durch eine günstige Aussage behilflich zu sein. M habe dies in Aussicht gestellt, sofern der Kläger ihm 50.000 € zahle. Es habe dann noch einige Verhandlungen mit dem Kläger, aber keine Zahlungen gegeben.

Der Betriebsprüfer vertrat die Auffassung, die Kassenführung im Objekt A–Straße sei nicht ordnungsgemäß. So seien die Tageseinnahmen unvollständig und nicht einzeln aufgezeichnet worden. Die Einnahmen, die sich aus den für den 3. August 2005 bis 16. September 2005 vorliegenden Uraufzeichnungen ergäben, stimmten an keinem Tag mit den auf der Grundlage des Kassenbuchs erklärten Erlösen überein. Kartenzahlungen seien nicht zutreffend erfasst worden. Der Kläger als Bordellbetreiber hätte zudem nicht nur die ihm verbliebenen Teile der Entgelte der Freier, sondern deren Gesamtbetrag als eigene Einnahmen erklären müssen. Der Prüfer nahm eine Vollschätzung der Einnahmen anhand der folgenden Parameter vor: 
–  täglicher Einsatz von fünf Prostituierten bei je drei Kunden (insgesamt 15 "Programme" täglich); 
–  343 Öffnungstage im Jahr 2005; 364 Öffnungstage im Jahr 2006; 
–  Durchschnittspreis: 100 € je "Programm". 

Diejenigen 50 % der Bruttoeinnahmen, die der Kläger an die Prostituierten ausgezahlt habe, seien als Betriebsausgaben anzusehen. Diese Beträge würden "zugunsten des Stpfl. i.H.v. 30 % als Betriebsausgaben berücksichtigt, obwohl die Voraussetzungen des § 160 AO nicht vorliegen".

Das FA folgte dem Prüfer zunächst, reduzierte dann jedoch in den Einspruchsentscheidungen die Schätzungen aufgrund des Ergebnisses eines Verfahrens über die Aussetzung der Vollziehung in einem Parallelverfahren. Es ging nun von den folgenden Parametern aus: 
–  täglicher Einsatz von fünf Prostituierten bei je zwei Kunden (insgesamt 10 "Programme" täglich). Zur Begründung für die angenommene Zahl von fünf Prostituierten führte das FA aus, zwar ergäben sich aus den aufgefundenen Uraufzeichnungen für August/September 2005 nur drei Prostituierte täglich. Allerdings folgten aus den "Aussagen" des M und seines Nachfolgers (Herr P), der Werbung im Internet sowie einer Zeugenaussage beim Bundeskriminalamt höhere Zahlen. Hinsichtlich der —im Vergleich zur Schätzung des Betriebsprüfers reduzierten— Zahl der täglichen Kunden je Prostituierter folge das FA den Uraufzeichnungen für August/ September 2005, auch wenn sich aus der "Aussage" des M höhere Zahlen ergäben; 
–  294 Öffnungstage im Jahr 2005; 288 Öffnungstage im Jahr 2006. Dies folge aus den eigenen Erlösbuchungen des Klägers; 
–  Durchschnittspreis: 123 € je "Programm". Die Erhöhung dieses Schätzungsparameters begründete das FA mit den Uraufzeichnungen für August/September 2005. Insgesamt kam es nun auf Einnahmen aus Prostitutionsleistungen von 1.230 € täglich; 
–  zusätzlich seien Einnahmen aus einer Kalkulation der Getränkeverkäufe anzusetzen, die in der Schätzung des Betriebsprüfers noch im Gesamtbetrag enthalten waren. 

Am 13. Februar 2013 stellte der zuständige Strafrichter das Steuerstrafverfahren auf Antrag der Steuerfahndung gemäß § 153 der Strafprozessordnung ohne Auflagen ein. Zur Begründung heißt es im entsprechenden Abschlussvermerk der Steuerfahndung, ein Nachweis, der den hohen Anforderungen der strafrechtlichen Beweiswürdigung Rechnung trage, sei nicht zu erbringen. Zudem könne ein Vorsatz zumindest hinsichtlich der Höhe der Beträge nicht nachgewiesen werden.

Während des anschließenden Klageverfahrens beauftragte das Finanzgericht (FG) den gerichtseigenen Prüfer. Dieser vertrat in seinen "Feststellungen" vom 12. August 2013 die Auffassung, die vom FA vorgenommene Schätzung anhand der durchschnittlich anwesenden Prostituierten, der Durchschnittsentgelte und der durchschnittlichen Programmanzahl sei zwar nicht falsch, aber nicht erforderlich. Letztlich maßgebend sei der durchschnittliche Tagesumsatz, der anhand der aufgefundenen Uraufzeichnungen feststellbar sei (620,98 € täglich). Hieraus ergäben sich die einzigen Anhaltspunkte für den tatsächlichen Umfang der Geschäftstätigkeit. Für den Bereich der Getränkekalkulation habe das FA diese Aufzeichnungen zugrunde gelegt; für die Kalkulation der Prostitutionsleistungen sei es hingegen von wesentlich höheren Werten ausgegangen.

Die Berichterstatterin des FG übersandte die Stellungnahme des FG-Prüfers am 15. August 2013 den Beteiligten. Im Begleitschreiben führte sie aus, es handele sich um die "vorläufige Arbeitsunterlage" für die Vorbereitung eines Erörterungstermins, der im November 2013 stattfinden solle. Sie bat ferner um die Benennung von Zeugen, deren Befragung für sinnvoll gehalten werde, damit diese "zeitnah geladen werden können". Der Kläger beantragte im Schreiben vom 16. September 2013 die Vernehmung mehrerer Zeugen. Zu dem angekündigten Erörterungstermin kam es —aus Gründen, die sich den Akten nicht entnehmen lassen— in der Folgezeit nicht.

In seinem angefochtenen Urteil bestätigte das FG —ohne Beweisaufnahme— die Erlösschätzung des FA (Tageseinnahmen 1.230 €). Der Kläger habe hiergegen keine substantiierten Einwendungen erhoben. Es korrigierte allerdings zugunsten des Klägers einige Übertragungsfehler, die dem FA bei der Übernahme der unstreitigen sonstigen Betriebsausgaben des Klägers unterlaufen waren. Ferner setzte es die an die Prostituierten weitergeleiteten Einnahmebeteiligungen mit 50 % der Bruttoeinnahmen an, da die Voraussetzungen des § 160 der Abgabenordnung ( AO ) nicht vorlägen.

Der Kläger begehrt die Zulassung der Revision wegen Verfahrensmängeln.

Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.

II.

Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).

1. Der Kläger rügt zu Recht, das FG habe seine urteilstragende Überzeugung entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, weil es die Stellungnahme des FG-Prüfers nicht in seine Entscheidungsfindung einbezogen habe.

a) Gesamtergebnis des Verfahrens ist der gesamte durch das Klagebegehren begrenzte und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierte Prozessstoff (Beschluss des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 24. August 2006 – II B 112/05, BFH/NV 2006, 2264 , unter II.4., m.w.N.). Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 9. Juli 2012 – III B 66/11, BFH/NV 2012, 1631 , Rz 18, m.w.N.).

b) Zum Gesamtergebnis des vorliegenden Verfahrens gehörten auch die ausführlichen schriftlichen "Feststellungen" des vom FG selbst beauftragten gerichtseigenen Prüfers vom 12. August 2013.

Die Bedeutung dieser Stellungnahme des FG-Prüfers für das Klageverfahren war aus der Sicht eines unvoreingenommenen Beteiligten sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht hoch. In tatsächlicher Hinsicht stellte die Beauftragung des FG-Prüfers die einzige Sachaufklärungsmaßnahme dar, die das FG während des gesamten, fast sechs Jahre dauernden Klageverfahrens vorgenommen hat. Die Erkenntnisse des FG-Prüfers waren daher ein zentraler Bestandteil der gerichtlichen Akte; weitere Erkenntnisquellen enthielt die FG-Akte —neben den Schriftsätzen der Beteiligten— nicht. In rechtlicher Hinsicht hat das FG den Beteiligten bei der Übersendung der Stellungnahme des FG-Prüfers den einzigen rechtlichen Hinweis des gesamten Verfahrens erteilt, indem es diese Stellungnahme als "vorläufige Arbeitsgrundlage" bezeichnet hat.

Vor dem Hintergrund dieser —sowohl objektiv gegebenen als auch subjektiv für die Verfahrensbeteiligten erkennbaren— erheblichen Bedeutung der Stellungnahme des FG-Prüfers gehörte sie zum "Gesamtergebnis des Verfahrens" i.S. des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO . Das FG hätte sie daher in seine Entscheidungsfindung einbeziehen müssen, auch wenn es inhaltlich nicht daran gebunden war. Tatsächlich hat das FG die Stellungnahme des FG-Prüfers in seinem Urteil aber weder erwähnt noch sich inhaltlich damit auseinandergesetzt.

c) Demgegenüber vertritt das FA in seiner Beschwerdeerwiderung die Auffassung, das FG habe die Stellungnahme des FG-Prüfers nicht einbeziehen müssen, weil diese von der unvertretbaren Annahme ausgegangen sei, die Schätzung müsse sich an der niedrigst denkbaren Untergrenze orientieren.

Dem kann der Senat nicht folgen. Die Stellungnahme des FG-Prüfers enthält die vom FA bezeichnete Aussage, eine Schätzung müsse sich an der niedrigst denkbaren Untergrenze orientieren, weder ausdrücklich noch sinngemäß. Im Gegenteil war die vom FG-Prüfer gewählte Schätzungsmethode ausgesprochen naheliegend: Das FA hatte im Rahmen einer unangekündigten Umsatzsteuer-Nachschau am 21. September 2005 beim Kläger Unterlagen aufgefunden, aus denen sich für den zusammenhängenden Zeitraum vom 3. August bis zum 16. September 2005 insgesamt 41 Einzelwerte ergaben (41 Öffnungstage innerhalb von 45 Kalendertagen), für die auch das FA nicht bestreitet, dass es sich dabei um die tatsächlich erzielten Tageseinnahmen handeln dürfte. Das FA hatte den —im Vergleich herausragend hohen— einzelnen Tageswert für den 12. August 2005 (1.250 €) als Grundlage zumindest für die Plausibilisierung der Schätzung der Tageseinnahmen des gesamten zweijährigen Streitzeitraums herangezogen. Der FG-Prüfer hatte demgegenüber vorgeschlagen, den Durchschnittswert aller 41 Einzelwerte zugrunde zu legen. Dieser Durchschnittswert für den genannten Zeitraum von 1 ½ Monaten betrug 620,98 €, der in der Einspruchsentscheidung angesetzte Tagesdurchschnittserlös —der nahezu dem herausragenden Einzelwert für den 12. August 2005 entspricht— hingegen 1.230 €, lag also fast doppelt so hoch wie der sich aus den Uraufzeichnungen ergebende Durchschnittswert.

Weshalb ausgerechnet der vom FA herausgegriffene, erkennbar überdurchschnittlich hohe Wert eines einzigen Tages für den gesamten zweijährigen Prüfungszeitraum repräsentativ sein und die Schätzung plausibilisieren soll, haben weder das FA noch das FG begründet. Dies wäre aber notwendig gewesen, da es nicht ferngelegen hätte, den Durchschnittswert, der sich aus den eigenen Aufzeichnungen des Klägers ergibt, die über einen gewissen Zeitraum geführt worden sind und deren inhaltliche Richtigkeit weder vom FA noch vom FG angezweifelt worden ist, als Grundlage einer methodisch korrekten Schätzung anzusehen, wie es der FG-Prüfer getan hat. Diese Methodik haben FA und FG in Bezug auf die Schätzung der Getränkeumsätze selbst angewendet, obwohl diese Erlöse in denselben Uraufzeichnungen niedergelegt sind wie die Prostitutionsumsätze.

2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Angesichts der sehr langen bisherigen Verfahrensdauer weist der Senat zur Förderung des weiteren Verfahrens —ohne Bindungswirkung für das FG— auf die folgenden Punkte hin:

a) Weder den Ausführungen des FG noch den vorliegenden Akten lässt sich eine Begründung dafür entnehmen, weshalb die Finanzverwaltung für die Vorjahre bis einschließlich 2004 von einem einheitlichen, in den Objekten A–Straße, B–Straße und C–Straße ausgeübten Bordellbetrieb ausgeht, ab dem Jahr 2005 aber drei eigenständige Betriebe annimmt und demgemäß für die Streitjahre eine Befugnis zur Durchführung eines Verfahrens der gesonderten Feststellung des Gewinns aus dem Betrieb A–Straße sowie zum Erlass eines eigenständigen Gewerbesteuermessbescheids für diesen Betrieb in Anspruch nimmt.

Sollte es wegen der Einheitlichkeit der gewerblichen Betätigung des Klägers —die dieser allerdings für die Objekte B–Straße und C–Straße bereits dem Grunde nach bestreitet— schon keine verfahrensrechtliche Grundlage für den Erlass der vorliegend angefochtenen Bescheide geben, wären diese bereits aus diesem Grunde aufzuheben, ohne dass noch auf ihre materielle Rechtmäßigkeit einzugehen wäre.

b) Gegen die Annahme von FA und FG, es bestehe dem Grunde nach eine Schätzungsbefugnis nach § 162 AO , bestehen keine Bedenken. Auch der Kläger selbst hat materielle Unrichtigkeiten seiner Buchführung eingeräumt.

c) Hinsichtlich der Höhe der Schätzung wird angesichts der sich nach Aktenlage aufdrängenden Beweisnotwendigkeiten und aufgrund der vom Kläger gestellten, entscheidungserheblichen Beweisanträge eine Entscheidung ohne Beweisaufnahme voraussichtlich nicht möglich sein.

aa) Das FG hat sich hinsichtlich der Höhe der Einnahmen die Schätzung des FA aus der Einspruchsentscheidung vollständig zu Eigen gemacht. Damit hat es auch die Auffassung des FA übernommen, es liege eine "Aussage" des M vor. Sollte das FG sich auch im zweiten Rechtsgang —in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis oder durch die Übernahme von Elementen der Schätzung des FA— auf "Aussagen" des M stützen wollen, wird es zu beachten haben, dass dies nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz eine Zeugenvernehmung des M voraussetzt. Denn es liegt kein ordnungsgemäßes Vernehmungsprotokoll des M vor, sondern nur ein von M nicht autorisierter Vermerk eines Steuerfahnders über eine Besprechung mit M. Zudem hat der Kläger substantiiert Zweifel an der Glaubwürdigkeit des M vorgebracht. In einem solchen Fall darf das FG von der unmittelbaren Erhebung eines wesentlichen Beweises grundsätzlich nicht absehen.

bb) In der Einspruchsentscheidung hatte sich das FA —was das FG u.a. zur Grundlage seiner Würdigung gemacht hat— hinsichtlich der Zahl der anwesenden Prostituierten auch auf vermeintliche Angaben des P, des Nachfolgers des M, gestützt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass diese Angaben (in der A–Straße seien zwei bis sieben Frauen eingesetzt worden) nur in einem undatierten Vermerk des Fahndungsprüfers enthalten sind. Der Prüfer hat in diesem Vermerk ausgeführt, P habe einer Zeugenvernehmung nicht zugestimmt; er habe nur ein informelles Gespräch führen wollen. Der Prüfer selbst hat die Angaben des P als "so allgemein" bewertet, dass sie "nicht brauchbar" seien. Vor diesem Hintergrund hätte das FG die ––auch auf die vermeintlichen Angaben des P gestützte— Einnahmenschätzung des FA nur dann übernehmen dürfen, wenn es den P vernommen hätte.

cc) Ferner weist der Senat darauf hin, dass sich —vorbehaltlich etwa noch durchzuführender Beweiserhebungen— derzeit in den Akten nur solche objektiven Beobachtungen finden, in denen von der Anwesenheit von drei Prostituierten im Objekt A–Straße die Rede ist. So wurden sowohl bei einer Besichtigung des Bordells durch die Kriminalpolizei am 23. Januar 2002 als auch bei der Umsatzsteuer-Nachschau am 21. September 2005 sowie einer "örtlichen Ermittlung" am 7. Dezember 2006 jeweils drei Prostituierte angetroffen, niemals aber die vom FA und FG angenommene höhere Zahl von fünf Prostituierten.

Zwar ist das FG in seiner Beweiswürdigung frei und kann —wenn es sich anhand weiterer Beweismittel davon hat überzeugen können— seiner Schätzung auch andere Zahlen zugrunde legen. Es hat sich aber in jedem Fall mit den genannten objektiven Beobachtungen, die sich aus den Akten ergeben und grundsätzlich von hohem Beweiswert sind, auseinanderzusetzen.

dd) Der Senat verkennt nicht die erheblichen Schwierigkeiten, denen staatliche Stellen sich gegenüber sehen, wenn sie die steuerlichen Verhältnisse von Personen aufklären sollen, die ihre Einkünfte durch den Betrieb von Bordellen oder durch Prostitution erzielen. Diese Schwierigkeiten rechtfertigen es aber nicht, dass die einzige in der Finanzgerichtsbarkeit zur Sachaufklärung berufene Tatsacheninstanz von vornherein von jedem Versuch einer Sachaufklärung absieht.

d) Zu Recht hat das FG für Zahlungen an die Prostituierten 50 % der Erlöse als Betriebsausgaben berücksichtigt. Die Voraussetzungen des § 160 AO lagen nicht vor.

3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .

4. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

Vorinstanz: FG Köln, vom 19.07.2018 - Vorinstanzaktenzeichen 13 K 3338/12
Fundstellen
BFH/NV 2019, 1127