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BVerwG - Entscheidung vom 31.01.2018

9 B 11.17

Normen:
VwGO § 86 Abs. 2
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1-2
VwGO § 108 Abs. 2

BVerwG, Beschluss vom 31.01.2018 - Aktenzeichen 9 B 11.17

DRsp Nr. 2018/14559

Vernehmung von Zeugen zur Frage der Existenz des Weges und seiner Nutzung durch die Öffentlichkeit i.R.d. Beweiswürdigung des Gerichts

Es ist Sache des Tatsachengerichts, sich im Wege der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden. Die Freiheit, die der Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände. Der Topos der allgemeinen Lebenserfahrung beschreibt die Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachen einschließlich ihrer Ursachen- und Wirkungszusammenhänge. Diese Wahrscheinlichkeit kann sich so stark verdichten, dass Erfahrungssätze nicht nur auf eine bestimmte Tatsachenfeststellung hinführen, sondern selbst zum Maßstab richterlicher Überzeugung werden. Hat das Gericht seine Überzeugung von der Benutzung des verfahrensgegenständlichen Waldweges auf eine allgemeine Lebenserfahrung des Inhalts gestützt, die Besucher eines hoch frequentierten Naherholungsziels hätten alle dorthin führenden Zuwegungen, insbesondere die für sie jeweils kürzeste und damit u.a. den über das Grundstück des Klägers verlaufenden Weg genutzt, der eine kurze, bekannte und gut verkehrstaugliche Verbindung zum Strandbad dargestellt habe, ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7 500 € festgesetzt.

Normenkette:

VwGO § 86 Abs. 2 ; VwGO § 108 Abs. 1 S. 1-2; VwGO § 108 Abs. 2 ;

Gründe

Die Beschwerde, die sich allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO stützt, bleibt ohne Erfolg. Die Revision ist nicht deshalb zuzulassen, weil ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann.

1. Ohne Erfolg macht die Beschwerde geltend, das Berufungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ) verletzt.

Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist es Sache des Tatsachengerichts, sich im Wege der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden. Die Freiheit, die der Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht zuzuordnen (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272> m.w.N., Beschluss vom 14. Juli 2010 - 10 B 7.10 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 66 Rn. 4). Ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und damit ein Verfahrensfehler ist aber ausnahmsweise dann gegeben, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet, ferner wenn das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätten aufdrängen müssen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2014 - 9 B 39.14 - NVwZ-RR 2014, 877 Rn. 9 <insoweit in Buchholz 424.01 § 34 FlurbG Nr. 4 nicht abgedruckt> m.w.N.).

a) Ein derartiger Verfahrensfehler liegt entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht deshalb vor, weil das Oberverwaltungsgericht seine Überzeugung von der Benutzung des verfahrensgegenständlichen Waldweges auf eine allgemeine Lebenserfahrung des Inhalts gestützt hat, die Besucher eines hoch frequentierten Naherholungsziels, wie vorliegend dem Strandbad mit Gaststätte am R. See, hätten alle dorthin führenden Zuwegungen - insbesondere die für sie jeweils kürzeste - und damit u.a. den über das Grundstück des Klägers verlaufenden Weg genutzt, der für aus L. kommende Ausflügler eine kurze, bekannte und gut verkehrstaugliche Verbindung zum Strandbad dargestellt habe.

Der Topos der allgemeinen Lebenserfahrung beschreibt die Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachen einschließlich ihrer Ursachen- und Wirkungszusammenhänge. Diese Wahrscheinlichkeit kann sich so stark verdichten, dass Erfahrungssätze nicht nur auf eine bestimmte Tatsachenfeststellung hinführen, sondern - wenngleich sie weder zu einer Umkehr der Beweislast führen noch das Gericht von der Pflicht zur Amtsermittlung entbinden - selbst zum Maßstab richterlicher Überzeugung werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15. November 1957 - 6 C 165.57 - Buchholz 234 § 7 G 131 Nr. 32 S. 117 ff.). In diesem Fall ist die vom Kläger angemahnte g e s o n d e r t e Feststellung eines typischen Geschehensablaufs, wie sie einen Anscheinsbeweis kennzeichnet (zur Abgrenzung s. Höfling/Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO , 4. Aufl. 2014, § 108 Rn. 158 ff.), weder erforderlich noch möglich. Denn die allgemeine Lebenserfahrung ist mit dem typischen Geschehensablauf identisch. Dass Besucher eines Badeplatzes regelmäßig über den für sie kürzesten geeigneten Weg gehen bzw. fahren ist von einer derartigen Offenkundigkeit. Das Berufungsgericht konnte daher seinem Urteil diesen Umstand ohne Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zugrunde legen.

b) Ebenfalls unbegründet ist der Einwand des Klägers, das Berufungsgericht habe seiner Entscheidung keine auf den maßgeblichen Stichtag - den 31. Juli 1957 - bezogenen Feststellungen zugrunde gelegt. Vielmehr beziehen sich die Feststellungen ausweislich der einleitenden Formulierungen auf Seite 10, 1. und 3. Absatz, sowie Seite 12, 2. Absatz, des Urteils ausdrücklich auf den vorgenannten Stichtag. Dass der Badeplatz bzw. das Strandbad am R. See zu diesem Zeitpunkt ein stark besuchtes Naherholungsziel war, hat das Gericht Ansichtskarten der 1930er, 1940er, der Nachkriegs- und der 1960er Jahre sowie daraus entnommen, dass der See das einzige Badegewässer in der Region war. Der Umstand, dass der Weg nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mindestens seit 1843 in der gegenwärtigen Örtlichkeit liegt, rechtfertigt darüber hinaus ohne Weiteres den Rückschluss, dass er ortskundigen Besuchern des Strandbads bekannt war. Soweit das Gericht von der Verkehrstauglichkeit des Weges ausgegangen ist, hat es entscheidungstragend auf die Nutzung durch den allgemeinen Fuß- und Radverkehr abgestellt. Diese Feststellung findet ihre Bestätigung darin, dass der Weg in einer 1957 erschienen Karte als "unterhaltener" Weg eingezeichnet ist. Inwiefern die vom Kläger mit Anlagenkonvolut BK1 vorgelegten Aufnahmen des heutigen Zustands des Weges der Feststellung des Oberverwaltungsgerichts eindeutig widersprechen sollen, hat die Beschwerde nicht näher dargelegt, weshalb die Feststellung auch nicht als aktenwidrig anzusehen ist. Hinsichtlich der Befahrbarkeit des Weges bzw. dessen Nutzung durch Pkw hat das Gericht selbst ausgeführt, dass es hierauf für seine Entscheidung nicht ankam.

c) Dass das Gericht die öffentliche Nutzung des Weges nicht dadurch in Frage gestellt gesehen hat, dass die Beklagte keine Unterlagen zu Unterhaltungsmaßnahmen vorlegen konnte, verletzt ebenfalls nicht den Überzeugungsgrundsatz. Soweit das Berufungsgericht ausgeführt hat, derartigen Belegen komme ohnehin nur indizielle Wirkung zu, ist dieser Satz ohne Weiteres so zu verstehen, dass das Gericht in einem Nachweis von Unterhaltungsmaßnahmen nur ein Indiz für eine öffentliche Nutzung gesehen hätte, es mithin davon ausgegangen ist, dass sich die Öffentlichkeit des Weges auch ohne die vorgenannten Unterlagen, wie vorliegend, aus anderen Indizien - hier insbesondere aus der jahrzehntelangen Existenz des Weges sowie dessen Eigenschaft als kürzeste Verbindung zwischen einer Ortschaft und einem viel besuchten Strandbad - ergeben kann. Kam es nach dem insoweit maßgeblichen Gesichtspunkt des Berufungsgerichts mithin auf die Durchführung von Unterhaltungsmaßnahmen oder deren Nachweis nicht an, so waren die weiteren Ausführungen zur vermeintlichen Plausibilität der Erklärungen der Beklagten nicht entscheidungstragend. Dass jedenfalls die Aufbewahrungsfristen für Maßnahmen bis zu dem hier maßgeblichen Stichtag im Jahr 1957 abgelaufen waren, dürfte überdies angesichts der Länge der verstrichenen Zeit offenkundig sein, sodass auch insoweit keine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes erkennbar ist.

d) Unbegründet ist darüber hinaus die Rüge, das Berufungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen, indem es das Vorbringen des Klägers bezüglich des Vermerks der Leiterin des Bauamts der Beklagten vom 19. Juni 2002 nicht zur Kenntnis genommen bzw. nicht in Erwägung gezogen habe.

Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind im Urteil (nur) die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Nicht erforderlich ist, dass sich die Begründung mit jedem einzelnen vorgetragenen Gesichtspunkt auseinandersetzt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2008 - 4 B 30.08 - juris Rn. 11). Der vorgenannte Vermerk enthält Ausführungen zum Wegfall der Beschilderung eines Parkplatzes, der am Ende eines in die Nähe des Sees führenden Weges liegt, sowie zum Wegfall der Beschilderung der Benutzungsbeschränkung des streitgegenständlichen Weges, "weil dieses die alternativ beste Lösung ist, um mit Fahrzeugen in die Nähe des Seeendes zur Gaststätte zu gelangen. (Bisher gab es die Möglichkeit, zum Parkplatz zu fahren und dann über ein kurzes hügeliges Stück Fußweg, nicht für Behinderte geeignet, zur Gaststätte zu laufen.)" Inwiefern dieser Vermerk den Schluss rechtfertigen soll, der im Urteil als "Weg 2" bezeichnete Weg sei bis 2002 die einzige öffentliche Zugangsmöglichkeit zum Seeende gewesen, erschließt sich nicht. Soweit der Kläger aus den vorstehenden Formulierungen in seinen Schriftsätzen vom 15. Februar 2010, 3. Dezember 2012 und 4. Juli 2016 den Schluss gezogen hat, es habe zuvor keine Möglichkeit gegeben, mit Fahrzeugen zur Gaststätte zu gelangen, ist diese Schlussfolgerung eher fernliegend. Dessen ungeachtet musste das Gericht auf sie nicht eingehen, weil es eine Nutzung des Weges durch Fußgänger und Radfahrer für ausreichend erachtet hat, um das Merkmal der Öffentlichkeit zu begründen. Auf die Befahrbarkeit mit Pkw kam es danach nicht an.

e) Schließlich verletzt es nicht den Überzeugungsgrundsatz, dass das Gericht aus der Klassifizierung der topographischen Karte von 1957 als "vertrauliche Verschlusssache" nicht geschlussfolgert hat, der Weg sei vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und daher von dieser nicht genutzt worden. Das Gericht hat die vorgenannte Karte nicht als Beleg für die öffentliche Nutzung, sondern für das Vorhandensein des Weges berücksichtigt. Erstere hingegen hat es aus der jahrzehntelangen Existenz des Weges sowie dessen Eigenschaft als kürzeste Verbindung zwischen der aus Richtung L. kommenden Hauptstraße und dem Naherholungszentrum gefolgert. Für diese, auf den tatsächlichen Kenntnissen der Besucher vor Ort beruhenden Rückschlüsse ist die Deklaration amtlicher Kartenwerke als Verschlusssache unbeachtlich. Das gilt zumal deshalb, weil das Gericht darüber hinaus festgestellt hat, dass der Weg auch in einem staatlichen Kartenwerk von 1966 eingetragen war, und sein Fehlen auf vereinzelten anderen vom Kläger vorgelegten Karten wohl auf deren (generell) geringeren Detaillierungsgrad zurückzuführen ist.

2. Das angefochtene Urteil verletzt nicht deshalb den Grundsatz rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO , Art. 103 Abs. 1 GG ) oder die gerichtliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO ), weil das Gericht davon abgesehen hat, die von der Beklagten zur Frage der Existenz des streitgegenständlichen Weges und seiner Nutzung durch die Öffentlichkeit benannten, vom Gericht zunächst geladenen Zeugen zu vernehmen.

Die Hinweispflicht soll einer Überraschungsentscheidung vorbeugen, die dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war; sie verlangt ebenso wenig wie der Grundsatz rechtlichen Gehörs, dass das Gericht den Beteiligten vorab seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs mitteilt (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Mai 1984 - 1 BvR 967/83 - BVerfGE 67, 90 <95> und vom 5. November 1986 - 1 BvR 706/85 - BVerfGE 74, 1 <5>; BVerwG, Beschluss vom 6. November 2012 - 9 BN 2.12 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 111 Rn. 2). Dass das Gericht einen zuvor nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hätte, hat der Kläger nicht geltend gemacht. Der Kläger musste nach dem Abschluss der Erörterung und nach Aufnahme seiner Berufungsanträge damit rechnen, dass das Oberverwaltungsgericht ohne Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen eine abschließende Entscheidung in der Sache trifft. Soweit er nunmehr rügt, jedenfalls hinsichtlich des Zeugen K. habe das Berufungsgericht nicht darauf hingewiesen, dass auf die Einvernahme endgültig verzichtet werden könne, hätte der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Beweisantrag stellen können (§ 86 Abs. 2 VwGO ), falls er nun seinerseits die Vernehmung des Zeugen K. für erforderlich hielt.

Ohne einen solchen Beweisantrag lässt der Verzicht auf die Vernehmung der Zeugen keinen Rechtsfehler erkennen. Mit gleichlautenden schriftlichen Erklärungen vom 1. Februar 2010 haben die 1922 und 1927 geborenen Zeugen bestätigt, der streitgegenständliche Weg habe bereits in ihrer Kindheit und darüber hinaus bestanden und sei genutzt worden. Nach der Vorlage ärztlicher Bescheinigungen, denen zufolge der gesundheitliche Zustand beider Zeugen deren Teilnahme an der mündlichen Verhandlung ausschloss, sowie angesichts des Umstands, dass das Berufungsgericht das Vorhandensein und die öffentliche Nutzung des Weges bereits aus anderen Gründen als erwiesen erachtete, musste sich ihm nicht aufdrängen, die von der Beklagten benannten Zeugen zu vernehmen.

3. Dahingestellt bleiben kann, ob die ergänzende Beschwerdebegründung des Klägerbevollmächtigten vom 13. März 2017 im Zeitpunkt des Nichtabhilfebeschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom 15. März 2017 dort eingegangen war und daher von diesem hätte berücksichtigt werden müssen. Denn mit Beschluss vom 8. Juni 2017 hat das Berufungsgericht erneut - und nunmehr unter Berücksichtigung des vorgenannten Schriftsatzes - über die Nichtabhilfe entschieden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO , die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3 GKG , § 52 Abs. 1 VwGO (vgl. Ziff. 43.3 des Streitwertkatalogs).

Vorinstanz: OVG Berlin-Brandenburg, vom 07.12.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 1 B 4.16