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BGH - Entscheidung vom 25.04.2018

2 StR 194/17

Normen:
StPO § 353 Abs. 2

Fundstellen:
NStZ 2019, 42
NStZ-RR 2019, 39
StV 2019, 532

BGH, Urteil vom 25.04.2018 - Aktenzeichen 2 StR 194/17

DRsp Nr. 2018/8658

Schuldspruch wegen wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes; Aufhebung des Strafausspruchs wegen eines Wertungsfehlers

Das Tatgericht ist nicht schon dann aufgrund des Zweifelssatzes an der Verurteilung eines Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes gehindert, wenn "Aussage gegen Aussage" steht und keine weiteren belastenden Indizien vorliegen. Wird die Tat vom mutmaßlichen Opfer in einer Zeugenaussage geschildert, kann der Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage dieses einzigen Belastungszeugen überzeugt ist. Aus den Urteilsgründen muss sich dann ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom 26. Oktober 2016 im Strafausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Normenkette:

StPO § 353 Abs. 2 ;

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten verurteilt. Nach Aufhebung dieses Urteils durch Senatsurteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 (StV 2017, 9 f.) und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht, hat dieses den Angeklagten erneut wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen verurteilt, nunmehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg, im Übrigen ist es unbegründet.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Im Jahr 1996 lernte der Angeklagte die Zeugin I. H. kennen, die verheiratet war und aus deren Ehe die Kinder S. (1985), M. (1987) und J. H. (1990) hervorgegangen waren. Ihre Ehe war von Alkoholmissbrauch durch den Ehemann belastet. Der Angeklagte hielt sich oft in der Ehewohnung auf und übernahm dort Hausmeistertätigkeiten. Anfang 1997 kam es zur Trennung der Eheleute. Am 6. Februar 1997 bezog I. H. mit ihren Kindern eine Wohnung im ersten Obergeschoss eines Wohnhauses, die sie sodann gemeinsam mit dem Angeklagten bewohnte. Etwa zweieinhalb Jahre später mieteten der Angeklagte und I. H. eine Wohnung im zweiten Obergeschoss hinzu. In der Zeit, in welcher sie dort wohnten, kam es zu einer Mehrzahl von sexuellen Übergriffen des Angeklagten auf die Nebenklägerin J. H. . Dabei manipulierte der Angeklagte an der Scheide der Nebenklägerin und ließ sich von ihr mit der Hand bis zum Samenerguss befriedigen. Die Taten wurden, soweit sie konkretisierbar sind, zwischen Februar 1997 und Oktober 2001 beim gemeinsamen Bad des Angeklagten mit der Nebenklägerin (Taten 1 und 2) oder im Wohnzimmer (Tat 3), im Zeitraum von 1999 bis Oktober 2001 im Kinderzimmer und im Schlafzimmer der Erwachsenen (Tat 4) oder nur im Schlafzimmer der Erwachsenen (Tat 5) sowie im Zeitraum von Februar 1997 bis Oktober 2001 in einem Lastkraftwagen begangen (Taten 6 und 7).

2. Im Frühjahr 1999 berichtete die Nebenklägerin erstmals ihrer Mutter von den sexuellen Übergriffen. Diese konfrontierte den Angeklagten mit den Vorwürfen, der jedoch Missbrauchshandlungen abstritt und die Nebenklägerin eindringlich ansah, worauf diese die Anschuldigungen zurücknahm. In den Sommerferien 1999 hielt sich die Nebenklägerin bei ihrer Großmutter auf und äußerte auch dieser gegenüber Missbrauchsvorwürfe gegen den Angeklagten. Die Großmutter informierte ihren Sohn Mi. , der am 6. August 1999 Strafanzeige erstattete. Dadurch erfuhr auch das Jugendamt von den Missbrauchsbehauptungen. Dessen Mitarbeiterin P. wurde bei einem Gespräch in der Familie von M. H. , dem Bruder der Nebenklägerin, darauf hingewiesen, er sei ebenfalls vom Angeklagten missbraucht worden. Das Jugendamt schaltete deshalb die Zeugin Ha. als Fachkraft ein. Beide Kinder wiederholten ihr gegenüber die Missbrauchsvorwürfe. Daraufhin organisierte das Jugendamt eine Therapie für die Kinder bei der Jugendhilfe F. .

I. H. glaubte indes an eine Verschwörung gegen den Angeklagten, weil die Großmutter den Angeklagten nicht als ihren Partner akzeptierte. Die Kinder bemerkten, dass ihre Mutter unter der Trennung von dem Angeklagten litt, der aus dem Haus verwiesen worden war. Sie vermissten ihn ebenfalls und "entschlossen sich daher auch aufgrund der langjährigen Orientierung am Angeklagten, die Vorwürfe zurückzunehmen und stattdessen zu behaupten, sie seien von ihrer Großmutter instruiert worden, entsprechende Angaben zu machen".

Die Missbrauchsvorwürfe fanden auch Eingang in das familiengerichtliche Verfahren über die Scheidung der Ehe von I. und K. H. und das Recht der elterlichen Sorge. Dort wurde ein psychologisches Gutachten durch die Sachverständige Dipl.-Psych. Dr. Ku. eingeholt. Bei deren Exploration erklärten J. und M. H. , dass es keine Missbrauchshandlungen gegeben habe, sondern ihre Großmutter sie zu entsprechenden Behauptungen aufgefordert habe. Die Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Missbrauchsbehauptungen "einer aussagepsychologischen Überprüfung nicht standhielten, es aber dennoch viele Hinweise darauf gebe, dass die Zurücknahme der kindlichen Aussagen bewusst falsch von den Kindern getätigt worden sei". Daraufhin wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten am 29. Februar 2000 eingestellt. Der Angeklagte war im Oktober 1999 in die Wohnung von I. H. zurückgekehrt und setzte danach die sexuellen Übergriffe fort.

Aus der Beziehung mit I. H. ging die am 7. Mai 2001 geborene Tochter B. hervor. Kurz vor deren Geburt nahm der Angeklagte auch eine intime Beziehung mit der damals 19-jährigen C. L. (später P. ) auf. Als I. H. davon erfuhr, trennte sie sich vom Angeklagten.

II.

Die Revision ist unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch richtet. Jedoch ist der Strafausspruch wegen eines Wertungsfehlers aufzuheben.

1. Die Beweiswürdigung unterliegt keinen rechtlichen Bedenken.

a) Das Tatgericht ist nicht schon dann aufgrund des Zweifelssatzes an der Verurteilung eines Angeklagten gehindert, wenn "Aussage gegen Aussage" steht und keine weiteren belastenden Indizien vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153 , 158). Wird die Tat vom mutmaßlichen Opfer in einer Zeugenaussage geschildert, kann der Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage dieses einzigen Belastungszeugen überzeugt ist. Der Tatrichter muss sich dabei bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenige Verteidigungsmöglichkeiten besitzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367 , 368 mwN). Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 351/14). Hierbei sind das Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien in einer Gesamtschau zu bewerten (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Juli 2016 - 2 StR 59/16, NStZ-RR 2016, 382 ; Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16, StV 2018, 193 , 194).

b) Den danach an die Sachdarstellung und die Beweiswürdigung zu stellenden Anforderungen genügt das angefochtene Urteil.

Insbesondere sind keine Lücken in der Beweiswürdigung oder Erörterungsmängel zu verzeichnen. Das sachverständig beratene Landgericht hat nicht übersehen, dass die Äußerungen der Nebenklägerin nach erstmaliger Erhebung von Missbrauchsvorwürfen wechselnd waren, was es jedoch mit den jeweiligen Gegebenheiten in der Familie erklärt hat. Auch hat es erkannt, dass die Nebenklägerin durch verschiedene Personen aus dem familiären Umfeld, Mitarbeitern des Jugendamts und Sachverständigen im familiengerichtlichen Verfahren sowie im Strafverfahren vielfach mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs konfrontiert war. Es hat aber eine suggestive Beeinflussung mit der Folge der Erinnerungsverfälschung rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch, dass das Landgericht dem Aussageverhalten des Bruders der Nebenklägerin im Ergebnis keine Beweisbedeutung beigemessen hat. Die Aussageentstehung und -entwicklung, die Aussagemotivation der Nebenklägerin sowie die Qualität ihrer Angaben hat das Landgericht berücksichtigt. Daraus hat es Hinweise auf die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Angaben gewonnen, die einzelne Glaubhaftigkeitsbedenken wegen Inkonstanz in Teilbereichen der Angaben sowie Beurteilungsunsicherheiten wegen zwischenzeitlicher Aktenlektüre der Nebenklägerin zurücktreten lassen. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.

2. Die Strafzumessung enthält dagegen einen Wertungsfehler, der zur Aufhebung des Strafausspruchs führt.

a) Das Landgericht hat "die erheblichen Folgen der Taten für die Nebenklägerin" bei jeder Einzeltat als Strafschärfungsgrund gewertet. Jedoch sind dem Täter Beeinträchtigungen des Opfers nur mit vollem Gewicht bei den Einzeltaten anzulasten, soweit sie unmittelbare Folge der Einzeltaten sind. Beeinträchtigungen, die sich erst aus der Vielzahl der Taten ergeben, können erst bei der Gesamtstrafenbildung gewichtet werden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 22. Juli 2014 - 2 StR 84/14, NStZ-RR 2014, 340 , und vom 12. September 2017 - 2 StR 101/17).

Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass bereits bestimmte Einzeltaten die Nebenklägerin besonders belastet haben, so dass diese bei den Einzelstrafen uneingeschränkt berücksichtigt werden könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 - 5 StR 541/17). Deshalb ist die pauschale Berücksichtigung bei der Bemessung der Einzelstrafen - und erneut bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe - rechtsfehlerhaft.

b) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die verhängten Einzelstrafen auf dem Rechtsfehler beruhen. Dies entzieht zugleich der Gesamtstrafe die Grundlage.

c) Der zur Aufhebung des Strafausspruchs führende Wertungsfehler betrifft die getroffenen Feststellungen nicht; diese können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO ). Der neue Tatrichter kann ergänzende Feststellungen treffen, die zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

d) Bei der neuen Festsetzung der Einzelstrafen ist, was im angefochtenen Urteil hinsichtlich der Einzelstrafen in den Fällen 1 - 5 übersehen wurde, das Verschlechterungsverbot gemäß § 358 Abs. 2 StPO zu beachten.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Gießen, vom 26.10.2016
Fundstellen
NStZ 2019, 42
NStZ-RR 2019, 39
StV 2019, 532