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BGH - Entscheidung vom 14.11.2018

2 StR 419/18

Normen:
StGB § 176a Abs. 2 Nr. 1

Fundstellen:
StV 2019, 536

BGH, Beschluss vom 14.11.2018 - Aktenzeichen 2 StR 419/18

DRsp Nr. 2019/4232

Erfüllung des Tatbestands des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes durch Einführens des Daumes in den Mund eines Kindes; Auslegung des Begriffs „Eindringen in den Körper“ im Sinne des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB

Eine penetrierende sexuelle Handlung allein führt noch nicht zur Qualifikation des sexuellen Missbrauchs. Erforderlich ist auch, dass der Täter mit dem Kind dabei entweder den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt. Die Beischlafähnlichkeit der sexuellen Handlung setzt keine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Bewegungsablauf beim Vaginalverkehr voraus.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 14. Mai 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a)

soweit der Angeklagte im Fall 5 der Urteilsgründe verurteilt wurde,

b)

im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.

2.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3.

Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StGB § 176a Abs. 2 Nr. 1 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes und sexuellen Missbrauchs in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge, soweit er verurteilt wurde. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO .

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte ein Nachbar der Mutter der am 6. März 2001 geborenen Nebenklägerin H. . Diese übernachtete oft beim Angeklagten und schlief dann zusammen mit ihm auf der Couch. Dort kam es zu sexuellen Übergriffen, als die Nebenklägerin zehn Jahre alt war. Dies begann, indem der Angeklagte sich an die Nebenklägerin drückte und die Hand des Mädchens über der Bekleidung an seinen Penis führte.

Kurz vor Weihnachten des Jahres 2011 war der Angeklagte mit der Nebenklägerin allein und sah fern. Nachdem die Nebenklägerin eingeschlafen war, versuchte er, ihr die Unterhose herunterzuziehen und machte Bewegungen wie bei einem Geschlechtsverkehr. Das Kind wurde wach und wehrte sich durch Tritte, so dass der Angeklagte von ihm abließ. Nachdem die Nebenklägerin eingeschlafen war, wiederholte sich der Vorgang zweimal aufgrund neuen Entschlusses des Angeklagten (Fälle 1 – 3 der Urteilsgründe).

Am folgenden Morgen schmückte der Angeklagte zusammen mit der Nebenklägerin den Weihnachtsbaum. Er stellte sich hinter sie, umfasste ihren Oberkörper und drückte seinen Penis, den er aus der Hose herausgeholt hatte, an ihr Gesäß. Sie befreite sich aus der Umarmung und sah, „dass er etwas aus der Hose hängen hatte.“ Er deklarierte den Vorfall als Versehen (Fall 4 der Urteilsgründe).

Anschließend kam es zu einem „Probier-Spiel“. Der Angeklagte stellte Gläser mit Honig, Marmelade, Zucker und Salz zusammen. Die Nebenklägerin sollte mit verbundenen Augen raten, welches Lebensmittel er ihr mit einem Löffel in den Mund steckte. Er strich sich Marmelade auf ein Körperteil und steckte es ihr in den Mund. Davon, dass es sich um seinen Penis handelte, vermochte sich die Strafkammer nicht zu überzeugen. Das Landgericht hat im Zweifel zugunsten des Angeklagten zugrunde gelegt, dass er dem Kind einen Finger, eventuell den Daumen, in den Mund eingeführt habe. Die Nebenklägerin empfand Ekel, biss zu und riss sich das Tuch von den Augen. Der Angeklagte hatte danach „den Hosenknopf geöffnet“ und sein Penis war ein Stück weit zu sehen (Fall 5 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat die Handlungen in den Fällen 1 – 4 jeweils als sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB bewertet. Im Fall 5 ist es von einem Fall des schweren sexuellen Missbrauchs gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB ausgegangen.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen (Fälle 1 – 4) weist im Schuldspruch und bei den Einzelstrafen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen gegen die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs im Fall 5.

1. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass das festgestellte Einführen des Daumes oder eines anderen Fingers des Angeklagten in den Mund des Kindes nach dem Handlungszusammenhang eine sexuelle Handlung mit Körperkontakt von Täter und Opfer gewesen ist. Diese Handlung war auch von einiger Erheblichkeit (§ 176 Abs. 1 , § 184h Nr. 1 StGB ); denn sie lässt sowohl nach ihrer Bedeutung als auch nach ihrer Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des durch § 176 StGB geschützten Rechtsguts besorgen. Jedoch erfüllt die festgestellte Handlung des Einführens des Daumes durch den Angeklagten in den Mund des Kindes nicht den Tatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes.

a) Gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB wird der sexuelle Missbrauch mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind.

Der Begriff „Eindringen in den Körper“ umschreibt besonders nachhaltige Begehungsweisen der Tat (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 , 268). Er ist nicht auf Vaginal-, Anal- und Oralverkehr beschränkt (Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2008 – 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118 , 119; Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223 , 234). Erfasst ist zum Beispiel auch das Eindringen mit Gegenständen in Vagina oder Anus (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2016 – 4 StR 389/16).

Die Gesetzgebungsmaterialien belegen, dass der Gesetzgeber eine umfassende Regelung treffen wollte, um besonders schwerwiegende sexuelle Handlungen zu erfassen (Senat, Urteil vom 16. Juni 1999 – 2 StR 28/99, BGHSt 45, 131 , 133; Beschluss vom 19. Dezember 2008 – 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118 , 120). Anders als § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB stellt § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht auf eine besondere Erniedrigung des Opfers ab (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 , 269). Eine penetrierende sexuelle Handlung allein führt aber noch nicht zur Qualifikation des sexuellen Missbrauchs. Erforderlich ist auch, dass der Täter mit dem Kind dabei entweder den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt. Welche Handlungen dem Beischlaf ähnlich sind, lässt das Gesetz offen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Penetration des Körpers erforderlich, die im Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut dem Beischlaf ähnelt (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223 , 224 f.). Der Qualifikationstatbestand wurde durch das 6. Strafrechtsreformgesetz vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164 ) in das Strafgesetzbuch eingeführt. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs sollte das qualifizierende Merkmal dem durch das 33. Strafrechtsänderungsgesetz vom 1. Juli 1997 (BGBl. I S. 1607 ) in § 177 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB (heute § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB ) eingeführten Regelbeispiel eines besonders schweren Falls der Vergewaltigung nachgebildet werden (BT-Drucks. 13/8587, S. 31 f.). Hiernach sollte zwar vor allem das Eindringen des männlichen Geschlechtsgliedes in den Körper als orale oder anale Penetration erfasst werden (BT-Drucks. 13/2463, S. 7 und BT-Drucks. 13/7324, S. 6). Jedoch hat der Gesetzgeber die Anwendung des Qualifikationstatbestands nicht auf diese Arten sexueller Betätigung beschränkt (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 , 269). Dies folgt schon daraus, dass auch das Eindringen mit Gegenständen erfasst werden sollte (BT-Drucks. 13/2463, S. 7; 13/7324, S. 6).

Die Beischlafähnlichkeit der sexuellen Handlung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Bewegungsablauf beim Vaginalverkehr voraus (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 , 270; a.A. Eschelbach/Krehl in Festschrift für Kargl, 2015, S. 81, 86 ff.). Eine Ähnlichkeit mit dem Beischlaf liegt regelmäßig schon dann vor, wenn die sexuelle Handlung entweder auf Seiten des Opfers oder des Täters unter Einbeziehung des primären Geschlechtsteils geschieht. Sie ist aber vor allem an dem Gewicht der Rechtsgutverletzung zu messen (Senat aaO).

b) Nach diesem Maßstab ist das Einführen des Daumes oder eines Fingers in den Mund des Kindes jedoch kein Fall einer beischlafähnlichen Handlung (vgl. MüKoStGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 176a Rn. 22; s.a. SSW-StGB/Wolters, 4. Aufl., § 176a Rn. 13; differenzierend Schönke/Schröder/Eisele, StGB , 30. Aufl., § 176a Rn. 8b). Eine solche Handlung besitzt kein dem Beischlaf vergleichbares Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut. Insbesondere ist kein primäres Geschlechtsorgan bei Täter oder Opfer beteiligt (vgl. Senat, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11, BGHSt 56, 223 , 235; Urteil vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 , 267).

2. Der Senat kann den Schuldspruch nicht selbst in sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB ändern; er vermag nicht auszuschließen, dass der neue Tatrichter noch Feststellungen treffen kann, aus denen sich die Erfüllung des Qualifikationstatbestands ergibt.

Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist insoweit nämlich lückenhaft. Es hat angenommen, nach Lage der Dinge komme nur das Einführen des Penis – so der Eindruck der Nebenklägerin – oder des Daumens – so die Erklärung des Angeklagten – in Frage, aber jedenfalls nicht das Einführen eines Löffels entsprechend den Vorgaben für das „Probier-Spiel“. Die Nebenklägerin hatte nach ihrer Darstellung einerseits nach Abnehmen der Augenbinde keine Marmelade am Daumen des Angeklagten gesehen, andererseits hat sie ausgesagt, sein Penis sei zu sehen gewesen. Zudem habe das in den Mund eingeführte Körperteil „etwas unangenehm gerochen“. Um dennoch „verbleibenden Unwägbarkeiten“ Rechnung zu tragen, ist die Kammer zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass er „entweder einen Finger oder den Daumen in den Mund der Geschädigten eingeführt hat.“ Die erwähnten Unwägbarkeiten hat die Strafkammer in den Urteilsgründen jedoch nicht erläutert, obwohl sie nicht auf der Hand liegen. Unklar bleibt andererseits die Erstreckung der exklusiv für möglich gehaltenen Sachverhaltsvarianten auf einen „Finger“.

3. Der Wegfall des Schuldspruchs im Fall 5 führt zur Aufhebung der Einsatzstrafe und der Gesamtfreiheitsstrafe.

Vorinstanz: LG Bonn, vom 14.05.2018
Fundstellen
StV 2019, 536