Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 05.10.2018

StB 45/18

Normen:
StPO § 112 Abs. 3
StPO § 120 Abs. 1 S. 1
GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1-2

BGH, Beschluss vom 05.10.2018 - Aktenzeichen StB 45/18

DRsp Nr. 2018/17371

Dringender Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (hier: "Jabhat al-Nusra")hinsichtlich Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn deren Fortdauer auf vermeidbaren Verfahrensverzögerungen beruht.

Tenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 18. Juli 2017 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Normenkette:

StPO § 112 Abs. 3 ; StPO § 120 Abs. 1 S. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1 -2;

Gründe

I.

Der Angeklagte befindet sich seit seiner Festnahme am 20. Dezember 2016 in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. Dezember 2016 ( 2 BGs 909/16). Der Generalbundesanwalt hat unter dem 28. April 2017 Anklage vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben. Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat am 12. Juni 2017 einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen (5 - 2 StE 5/17) und in Vollzug gesetzt. Gegenstand dieses Haftbefehls ist der Vorwurf, der heranwachsende Angeklagte habe sich in dem Zeitraum von Herbst 2012 bis zum Anfang des Jahres 2014 in Syrien in drei Fällen als Mitglied an der Organisation "Jabhat al-Nusra" beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB ), Totschlag (§ 212 StGB ), Kriegsverbrechen (§§ 8 , 9 , 10 , 11 und 12 VStGB ) sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der §§ 239a, 239b StGB zu begehen, und habe in zwei dieser Fälle tateinheitlich die tatsächliche Gewalt über Kriegswaffen ausgeübt, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, §§ 52 , 53 StGB , § 22a Abs. 1 Nr. 6 KWKG , §§ 1 , 105 JGG .

Der Senat hat mit Beschluss vom 13. Juli 2017 ( AK 31/17) angeordnet, dass die Untersuchungshaft fortzudauern habe. Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat das Oberlandesgericht die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer angeordnet. Die gegen vier Angeklagte geführte Hauptverhandlung hat am 25. September 2017 begonnen. Mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom 22. August 2018 hat der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts vom 12. Juni 2017 eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Er beanstandet im Wesentlichen, dass die Hauptverhandlung nicht mit der erforderlichen Beschleunigung geführt worden sei. Während der insgesamt 49 Kalenderwochen bis zum 21. August 2018 sei lediglich an 53 Tagen verhandelt worden, mithin nur an 1,08 Sitzungstagen pro Woche. Außerdem sei die Dauer der Hauptverhandlung an einzelnen Sitzungstagen zu kurz gewesen; die Verhandlungszeit pro Sitzungstag habe durchschnittlich etwa 350 Minuten betragen, wovon noch Unterbrechungszeiten aufgrund von Sitzungspausen abzuziehen seien. Überdies sei versäumt worden, eine etwa zweimonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung infolge der Erkrankung einer erkennenden Richterin durch eine gestraffte Verhandlungsführung, insbesondere durch Anberaumung zusätzlicher Sitzungstage auszugleichen. Im Übrigen macht der Beschwerdeführer geltend, dass inzwischen keine Fluchtgefahr mehr bestehe, weil auf ihn im Zweifel Jugendstrafrecht anzuwenden sei und im Falle seiner Verurteilung bereits jetzt eine zu vollstreckende Strafe von allenfalls noch wenigen Monaten verbliebe.

Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 5. September 2018 nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Das Rechtsmittel, das sich nunmehr ausdrücklich gegen die letzte, im Zusammenhang mit dem Eröffnungsbeschluss vom 18. Juli 2017 ergangene Haftentscheidung richtet, hat in der Sache keinen Erfolg.

1. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Ausüben der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen. Das Oberlandesgericht hat in seinem Nichtabhilfebeschluss vom 5. September 2018 eingehend dargelegt, dass und aufgrund welcher Beweismittel die Beweisaufnahme den dringenden Tatverdacht im Sinne des im Haftbefehl vom 12. Juni 2017 beschriebenen Tatvorwurfs nach vorläufiger Würdigung bestätigt hat.

Die Begründung des Oberlandesgerichts ist nach der Rechtsprechung des Senats, wonach die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vorzunehmen hat, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 mwN), nicht zu beanstanden.

2. Das Oberlandesgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO , 61. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) nach wie vor jedenfalls der Haftgrund der Schwerkriminalität vorliegt; denn die folgenden Umstände begründen die Gefahr, dass die alsbaldige Ahndung der Tat ohne die wahre Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte: Nach Einschätzung des Tatgerichts hat er im Falle der Verurteilung eine Freiheits- oder Jugendstrafe zu erwarten, die auch unter Berücksichtigung einer Anrechnung der bisher vollzogenen Untersuchungshaft und einer denkbaren Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung noch einen erheblichen Fluchtanreiz begründet. Dem stehen aus den fortgeltenden, im Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 13. Juli 2017 genannten Gründen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Auch kommen weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO nicht in Betracht.

3. Die Untersuchungshaft hat mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des Falles - auch angesichts der bereits fast zwei Jahre währenden Untersuchungshaft und der zu erwartenden Gesamtdauer des Verfahrens - fortzudauern. Ihr weiterer Vollzug steht angesichts der gegebenen Besonderheiten nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO ). Das gilt auch mit Blick auf das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit.

a) Danach ist der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss - unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen, aber auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (BGH aaO, 217 f. mwN).

Das damit angesprochene Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn deren Fortdauer auf vermeidbaren Verfahrensverzögerungen beruht. Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist - was auch der Beschwerdeführer im Ausgangspunkt zutreffend anführt - daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig. Insgesamt ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs notwendig. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12 mwN, juris Rn. 39 ff.; BGH, aaO).

b) An diesen Anforderungen gemessen ist das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Das gilt zunächst im Hinblick auf die Anzahl der wöchentlichen Sitzungstage. Wie sich aus dem Nichtabhilfebeschluss des Oberlandesgerichts ergibt, hat der Senatsvorsitzende bei der Terminierung von Anfang an eine straffe und effiziente Verhandlungsführung angestrebt, so dass das Gericht regelmäßig an zwei Tagen pro Woche (Montag und Mittwoch) verhandelt. Den Ausführungen des Oberlandesgerichts lässt sich entnehmen, dass eine Terminierung auf mehr als zwei Tage pro Woche aufgrund der Besonderheiten, die sich aus dem Auslandsbezug des Verfahrens ergeben, nicht umsetzbar war. Im Hinblick auf die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Verhandlungstage haben das Oberlandesgericht und der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt, dass der Zeitraum der Erkrankung einer erkennenden Richterin insoweit nicht berücksichtigt werden darf. Da zunächst nicht absehbar war, ob die Hauptverhandlung, die bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden hatte (§ 229 Abs. 3 Satz 1 StPO ), unter Mitwirkung der erkrankten Richterin fortgeführt werden konnte, war es mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des gesetzlichen Richters geboten, die Hauptverhandlung bis zum Ablauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Fristen zu unterbrechen, bevor der Verhinderungsfall festgestellt und der Ergänzungsrichter eintreten konnte (BGH, Beschluss vom 8. März 2016 - 3 StR 544/15, BGHSt 61, 160 , 163 ff.). Überdies hat - worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hingewiesen hat - die etwa einmonatige Unterbrechung der Hauptverhandlung während der Sommerferienzeit bei der Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Verhandlungstage außer Betracht zu bleiben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, juris Rn. 53), so dass sich bei zutreffender Berechnung ergibt, dass die Hauptverhandlung bislang durchschnittlich an deutlich mehr als einem Tag pro Woche durchgeführt worden ist.

Den eingehenden Ausführungen des Oberlandesgerichts lässt sich entnehmen, dass ein Ausgleich der etwa zweimonatigen Unterbrechung der Hauptverhandlung infolge der Erkrankung einer erkennenden Richterin durch Anberaumung von mehr als zwei Sitzungstagen pro Woche ungeachtet der sich aus dem Auslandsbezug des Verfahrens ergebenden Besonderheiten letztlich auch wegen Verhinderung der Verteidiger nicht möglich war.

Auch die durchschnittliche Dauer der Verhandlungstage gibt im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz keinen Anlass zu Beanstandungen. So lässt bereits die vom Beschwerdeführer berechnete durchschnittliche Verhandlungszeit pro Sitzungstag von etwa 350 Minuten nicht erkennen, dass das Oberlandesgericht die anberaumten Verhandlungstage nicht hinreichend ausgeschöpft habe. Überdies hat das Oberlandesgericht im Einzelnen dargelegt, dass sich die Unterbrechungen der Hauptverhandlung an den einzelnen Sitzungstagen im Rahmen des Üblichen hielten und insbesondere geboten waren, um den extrem belasteten Dolmetschern eine Erholungspause zu gewähren bzw. den Angeklagten einen Toilettengang zu ermöglichen. Letztlich resultierte die verhältnismäßig kurze Verhandlungsdauer an einzelnen Sitzungstagen den eingehenden Ausführungen des Oberlandesgerichts zufolge im Wesentlichen daraus, dass Zeugen früher als erwartet entlassen werden konnten. Auch dies ist, insbesondere bei schwierigen Umfangsverfahren, nicht ungewöhnlich und stößt unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf keine durchgreifenden Bedenken.

Schließlich kam, wie das Oberlandesgericht und der Generalbundesanwalt im Einzelnen dargelegt haben, eine Abtrennung des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer zum Zwecke der Beschleunigung bislang nicht in Betracht.

4. Der Schriftsatz der Verteidiger vom 2. Oktober 2018 lag vor und war Gegenstand der Beratung.

Vorinstanz: OLG Stuttgart, vom 18.07.2017