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BGH - Entscheidung vom 28.03.2018

2 ARs 50/18

Normen:
StPO § 453
StPO § 462a Abs. 3 S. 2
StPO § 462a Abs. 4 S. 1-2

Fundstellen:
NStZ-RR 2019, 59

BGH, Beschluss vom 28.03.2018 - Aktenzeichen 2 ARs 50/18

DRsp Nr. 2019/358

Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit für sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehende nachträgliche Entscheidungen; Übertragung der Bewährungsaufsicht an das Wohnsitzgericht

Tenor

Für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung der mit dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 - 10 Ds 23 Js 7/13-30/13 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe beziehen, ist das

Amtsgericht Nagold

zuständig.

Normenkette:

StPO § 453 ; StPO § 462a Abs. 3 S. 2; StPO § 462a Abs. 4 S. 1-2;

Gründe

Die Amtsgerichte Nagold (Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart), Marburg (Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main) und Norderstedt (Bezirk des Oberlandesgerichts Schleswig) streiten um die Zuständigkeit für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung der mit dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe beziehen.

I.

1. Das Amtsgericht Marl verhängte mit Urteil vom 4. Juni 2013 gegen den Verurteilten wegen Diebstahls, versuchten Diebstahls und Erschleichens von Leistungen in sieben Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt und im weiteren Verlauf um ein Jahr verlängert. Nachdem das Amtsgericht Marl die Bewährungsaufsicht gemäß § 462a Abs. 2 StPO zunächst an das Amtsgericht Marburg abgegeben hatte, erklärte es mit Beschluss vom 4. November 2014 die Rückübernahme der Bewährungsaufsicht.

2. Mit Urteil vom 8. Dezember 2014 verhängte das Amtsgericht Marl gegen den Verurteilten wegen Diebstahls und Erschleichens von Leistungen in neun Fällen eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr. Die Tatzeitpunkte (31. Januar 2014 bis 3. April 2014) fielen in die vorbezeichnete Bewährungszeit. Nach erfolgreicher Beendigung einer stationären Entziehungstherapie im Zeitraum vom 15. Juni 2015 bis zum 14. Dezember 2015 und einer wegen dieser Therapie erfolgten Zurückstellung gemäß § 35 BtMG setzte das Amtsgericht Marl mit Beschluss vom 21. April 2016 die weitere Vollstreckung der mit dem Urteil vom 8. Dezember 2014 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 36 BtMG zur Bewährung aus. Die Dauer der Bewährungszeit in diesem Verfahren wurde bis zum 8. August 2018 bestimmt.

Mit Beschluss vom 15. August 2016 übertrug das Amtsgericht Marl die Bewährungsaufsicht in vorliegender Sache gemäß § 462a Abs. 2 StPO auf das Amtsgericht Norderstedt, wo der Verurteilte nach dem Abschluss der stationären Entziehung wohnte.

3. Am 14. Dezember 2016 verhängte das Amtsgericht Marburg gegen den Verurteilten wegen Erschleichens von Leistungen in neun Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Der Zeitpunkt der letzten dort abgeurteilten Tat ist der 12. August 2014. Die Dauer der Bewährungszeit wurde zunächst bis zum 13. Dezember 2020 festgesetzt.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Marburg vom 8. Mai 2017 wurde aus den mit den Urteilen des Amtsgerichts Marl vom 8. Dezember 2014 und des Amtsgerichts Marburg vom 14. Dezember 2016 verhängten Strafen unter Auflösung der jeweils verhängten Gesamtstrafen eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit dauert bis zum 15. Juni 2021. Die Bewährungsaufsicht wurde zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt nach Rechtskraft des Gesamtstrafenbeschlusses (16. Juni 2017) an das Amtsgericht Nagold gemäß § 462a Abs. 2 Satz 2 StPO abgegeben. Nach Auskunft der Bewährungshelferin befand sich der Verurteilte nach der Beendigung der stationären Entwöhnungstherapie in einer Adaption in E. (Amtsgerichtsbezirk Nagold); er beabsichtige zudem, sich eine Wohnung im süddeutschen Raum zu suchen, zumal er die Wohnung in N. zum 1. August 2017 gekündigt habe.

4. Mit Verfügung vom 21. August 2017 beantragte die Staatsanwaltschaft Essen beim Amtsgericht Norderstedt die Verlängerung der Bewährungszeit, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 bezieht, um ein Jahr und sechs Monate im Hinblick auf die Verurteilungen durch das Amtsgericht Recklinghausen vom 24. Februar 2014 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Tatzeitpunkt: 28. Januar 2014) und durch das Amtsgericht Marburg vom 14. Dezember 2016. Das Amtsgericht Norderstedt stellte mit Verfügung vom 26. September 2017 den Übergang der Bewährungsaufsicht auf das Amtsgericht Marburg fest und legte diesem das Bewährungsheft vor. Das Amtsgericht Marburg übersandte das eingegangene Bewährungsheft zunächst an die Staatsanwaltschaft Essen, die den Antrag auf Verlängerung der Bewährungszeit beim Amtsgericht Marburg wiederholte. Dieses wies mit Schreiben vom 27. Dezember 2017 auf die Abgabe der Bewährungsaufsicht an das Amtsgericht Nagold hin und teilte mit, dass eine Zuständigkeit für das vorliegende Verfahren nicht ersichtlich sei. Auf den daraufhin mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Essen vom 3. Januar 2018 beim Amtsgericht Nagold wiederholten Antrag auf Verlängerung der Bewährungszeit teilte dieses mit, dass die Bewährungsaufsicht im vorliegenden Verfahren nicht an das Amtsgericht Nagold abgegeben worden sei. Daraufhin wiederholte die Staatsanwaltschaft Essen mit Verfügung vom 17. Januar 2018 beim Amtsgericht Norderstedt den Antrag auf Verlängerung der Bewährungszeit.

Das Amtsgericht Norderstedt hat sich mit Beschluss vom 25. Januar 2018 für die Überwachung der Bewährung hinsichtlich der mit Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung für unzuständig erklärt und die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

1. Als gemeinschaftliches oberes Gericht nach § 14 StPO ist der Bundesgerichtshof zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

2. Zuständig für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung der mit dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe beziehen, ist gemäß §§ 453 , 462a Abs. 4 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 StPO das Amtsgericht Nagold.

a) Die durch das Amtsgericht Marl mit Urteil vom 8. Dezember 2014 verhängte und mit Beschluss vom 21. April 2016 zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe hat durch den Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Marburg vom 8. Mai 2017 ihre Grundlage verloren, da sie in der neu gebildeten Gesamtstrafe aufgegangen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 3. April 2002 – 2 ARs 95/02, BGH bei Becker, NStZ-RR 2003, 97 , 103 mwN; Löwe-Rosenberg/Graalmann-Scheerer, StPO , 26. Aufl., § 462a Rn. 75). Die Zuständigkeit für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung der mit dem Beschluss vom 8. Mai 2017 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe beziehen, oblag demnach zunächst dem Amtsgericht Marburg.

b) Mit der sodann durch das Amtsgericht Marburg erfolgten wirksamen Übertragung der Bewährungsaufsicht an das Wohnsitzgericht (§ 462a Abs. 2 Satz 2 StPO ) wurde das Amtsgericht Nagold nicht nur zuständig für die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung der mit dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Marburg vom 8. Mai 2017 verhängten Gesamtfreiheitsstrafe beziehen, sondern auch für die übrigen der Konzentrationswirkung unterfallenden Verfahren (BGH, Beschluss vom 8. November 2000 – 2 ARs 299/00, BGHR StPO § 462a Abs. 4 Bewährungsaufsicht 2; Löwe-Rosenberg/Graalmann-Scheerer, aaO, § 462a Rn. 72 mwN), mithin auch für die Bewährungsaufsicht aus dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013.

c) Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift vom 16. Februar 2018 u.a. sodann zutreffend ausgeführt:

„Der Zuständigkeit des Amtsgerichts Nagold steht auch nicht entgegen, dass die Bewährungszeit zur Erlangung eines Straferlasses aus dem Urteil des Amtsgerichts Marl vom 4. Juni 2013 seit dem 4. Juni 2017 abgelaufen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 1998 – 2 ARs 188/98, NStZ 1998, 586 ). Die Zuständigkeit bestimmt sich erst bei einem bereits erfolgten Straferlass nicht (mehr) nach § 462a Abs. 4 StPO , sondern nach § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO . Die in § 462a Abs. 4 StPO begründete Zuständigkeitskonzentration setzt voraus, dass bezüglich mehrerer Verurteilungen unterschiedlicher Gerichte Nachtragsentscheidungen nach §§ 453 , 454 , 454a oder 462 StPO zu treffen sind. Für diesen Fall besteht die Gefahr einer Entscheidungszersplitterung und divergierender Entscheidungen, der mit der Zuständigkeitskonzentration bei einem Gericht vorgebeugt werden soll (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Januar 1999 – 2 ARs 516/98, NStZ 1999, 215 ). Erst wenn Nachtragsentscheidungen im Sinne des § 462a Abs. 4 StPO nur (noch) bei einem Gericht anstehen, entfällt die sachliche Rechtfertigung für eine Zuständigkeitsbündelung (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Dezember 1992 – 2 ARs 485/92, BGHR StPO § 462a Abs. 4 Entscheidung 1). Die Gefahr divergierender Entscheidungen kann im vorliegenden Verfahren wegen der Möglichkeit vor dem Straferlass zu prüfender Nachverurteilungen, die den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung auch nach dem Ablauf der Bewährungszeit noch rechtfertigen können (§ 56g Abs. 2 StGB ), nicht ausgeschlossen werden.

[…]

Die Entscheidung über die von der Staatsanwaltschaft Essen beantragte Verlängerung der Bewährungszeit und den zu prüfenden Straferlass obliegt daher dem Amtsgericht Nagold, auf das die Bewährungsaufsicht in dem Verfahren 59 Ds 3 Js 2518/15 (Bl. 221, 224 BewH) durch das Amtsgericht Marburg übertragen wurde, so dass ein Wechsel der Bewährungsaufsicht auch im vorliegenden Verfahren aufgrund der Zuständigkeitskonzentration eingetreten ist.“

Vorinstanz: AG Marl, vom 04.06.2013 - Vorinstanzaktenzeichen 23 Js 7/13
Vorinstanz: AG Nagold, - Vorinstanzaktenzeichen 302 AR 3/18
Vorinstanz: AG Marburg, - Vorinstanzaktenzeichen 56 AR 35/14
Vorinstanz: AG Norderstedt, - Vorinstanzaktenzeichen 72 AR 23/16
Fundstellen
NStZ-RR 2019, 59