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BGH - Entscheidung vom 16.01.2018

4 StR 597/17

Fundstellen:
NStZ-RR 2018, 107
NStZ-RR 2019, 38
NStZ-RR 2019, 4
StV 2019, 547

BGH, Beschluss vom 16.01.2018 - Aktenzeichen 4 StR 597/17

DRsp Nr. 2018/2537

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten T. D. wird dasUrteil des Landgerichts Halle vom 28. August 2017 – auchsoweit es die Mitangeklagte M. D. betrifft – mit denzugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a)

hinsichtlich des Angeklagten T. D. ,

aa) soweit dieser in den Fällen III. 3 bis 7 der Urteilsgründe verurteilt ist,

b)

hinsichtlich der Angeklagten M. D. , soweit sieverurteilt worden ist.

bb) in den Fällen III. 1 und 2 der Urteilsgründe im Strafausspruch,

cc) im Ausspruch über die Gesamtstrafe;

2.

Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten desRechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3.

Die weiter gehende Revision des Angeklagten T.D. wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten T. D. wegen schwerensexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbraucheines Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie schweren sexuellen Missbrauchseiner widerstandsunfähigen Person in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafevon vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die nicht revidierende Mitangeklagte M. D. hat es wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person und Beihilfe zum schweren sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr undneun Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.Der Angeklagte T. D. wendet sich mit der allgemeinen Sachrügegegen seine Verurteilung. Sein Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformelersichtlichen Erfolg und führt zu einer Erstreckung der Aufhebung auf die nichtrevidierende Mitangeklagte M. D. (§ 357 Satz 1 StGB ). Im Übrigen istes unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

1. Die Verurteilung des Angeklagten T. D. wegen schwerensexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in den Fällen III. 3bis 7 der Urteilsgründe nach dem zur Tatzeit geltenden § 179 Abs. 1 Nr. 1 ,Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung hältrevisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil die Urteilsgründe eine Widerstandsunfähigkeit des Nebenklägers nicht belegen.

a) Nach den Feststellungen leidet der zu den Tatzeiten 18 Jahre alte Nebenkläger unter einer leichten geistigen Behinderung, die im Grenzbereich zueiner mittelgradigen geistigen Behinderung liegt. Aufgrund dessen verfügte er nur über die Intelligenz eines etwa neun bis zehn Jahre alten Kindes und einedementsprechend entwickelte soziale Kompetenz.

In der Zeit zwischen dem 17. Januar 2015 und dem 20. September 2015forderte der Angeklagte den Nebenkläger mehrfach dazu auf, mit ihm den Analverkehr (Fälle III. 3, 4 und 7 der Urteilsgründe) oder den Oralverkehr (Fall III. 6der Urteilsgründe) auszuüben. In einem Fall sollte er zusätzlich an der Scheideder Mitangeklagten M. D. (seiner Mutter) lecken (Fall III. 6 der Urteilsgründe). Der Nebenkläger kam diesem Ansinnen jeweils nach, weil er „aufgrundseiner psychischen Situation nicht in der Lage war, einen entgegenstehendenWillen zu bilden und deutlich zu machen bzw. durchzusetzen“. In den Fällen III. 3 und 4 der Urteilsgründe handelte er auch aus Angst vor körperlichenZüchtigungen. Im Fall III. 6 der Urteilsgründe brach die Mitangeklagte M.D. die sexuellen Handlungen mit dem Nebenkläger ab, nachdem dieserdurch ein Kopfschütteln signalisiert hatte, dass er dies nicht wolle. In einem weiteren Fall (Fall III. 5 der Urteilsgründe) führte der Angeklagte – bestärkt von derzusehenden Mitangeklagten M. D. – einen Dildo in den Anus des Nebenklägers ein. Als er anschließend den Penis des Nebenklägers in den Mundnahm, versuchte dieser seinen Unwillen durch ein Kopfschütteln deutlich zumachen. Der Angeklagte erwiderte daraufhin, dass sich der Nebenkläger „nichtso haben soll“ und führte den Oralverkehr an ihm aus. Der Nebenkläger ließdies geschehen, weil er „aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in derLage war, die Situation ausreichend zu erfassen und einen entgegenstehendenWillen durchzusetzen“.

Nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Da. , der sich dieStrafkammer angeschlossen hat, könne bei dem Nebenkläger weder die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung noch die Möglichkeit für eine „altersadäquate Widerständigkeit“ gegenüber den Handlungen des Angeklagten festgestellt werden. Ihm sei es aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeiten nicht möglich gewesen, die Absichtendes Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelleSelbstbestimmung abzuschätzen (UA 21).

b) Diese Feststellungen rechtfertigen nicht den Schluss, dass der Nebenkläger in den konkreten Tatsituationen im Sinne von § 179 Abs. 1 StGB inder bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung widerstandsunfähig war.

aa) Nach dieser Vorschrift machte sich strafbar, wer eine Person, die ausden in der Norm näher genannten Umständen zum Widerstand unfähig war,dadurch missbrauchte, dass er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeitsexuelle Handlungen an ihr vornahm oder an sich von ihr vornehmen ließ. Alswiderstandsunfähig galt, wer – wenn auch nur vorübergehend – gänzlich unfähig war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen gegen das anihn herangetragene sexuelle Ansinnen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit erforderte eine normativeEntscheidung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtungzu treffen hatte, in welche auch das aktuelle Tatgeschehen und etwaige Beeinträchtigungen des Tatopfers durch die Tatsituation einzubeziehen waren(st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2017 – 4 StR 366/16, NStZ-RR2017, 240, 241; Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 StR 43/17, NStZ 2018, 33 ;Urteil vom 15. März 1989 – 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145 , 147 mwN). Eine Widerstandsunfähigkeit konnte danach nicht schon ohne nähere Begründung aufdie Feststellung einer geistigen Behinderung und daraus resultierende allgemeine Kompetenzmängel gestützt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2008 – 2 StR 385/08, NStZ-RR 2009, 14 ; Beschluss vom 26. Januar 2005 – 2 StR 456/04, NStZ-RR 2005, 172 , 173; Beschluss vom 1. April 2003 – 4 StR96/03, NStZ 2003, 602 , 603).

bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Ausder allgemein gehaltenen Feststellung, dass es dem Nebenkläger aufgrund seiner Entwicklungsdefizite und der Beeinträchtigung seiner geistigen Fähigkeitennicht möglich gewesen sei, die Absichten des Angeklagten umfassend zu reflektieren und die Folgen für seine sexuelle Selbstbestimmung abzuschätzen,folgt nicht ohne weiteres, dass es ihm in den einzelnen Tatsituationen unmöglich war, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Eine das konkrete jeweilige Tatgeschehen einbeziehende Gesamtbetrachtung hat das Landgericht in keinem der abgeurteilten Fälle erkennbar vorgenommen. Dabei hätte insbesondere näher erörtert werdenmüssen, dass es dem Nebenkläger im Fall III. 6 der Urteilsgründe möglich war,die Mitangeklagte M. D. durch ein bloßes Kopfschütteln zum Abbruchder sexuellen Handlungen zu bewegen und er auch im Fall III. 5 der Urteilsgründe seinen Unwillen zur Durchführung des Oralverkehrs zum Ausdruckbrachte. Dafür, dass der Nebenkläger – jedenfalls in eingeschränktem Umfang – zu einer Reflektion seines Verhaltens und zu Folgeabschätzungen in derLage war, spricht überdies, dass er in den Fällen III. 3 und 4 der Urteilsgründedie sexuellen Handlungen des Angeklagten an sich auch aus Angst vor körperlichen Züchtigungen duldete. Schließlich durfte die Strafkammer in den Fällen III. 3, 4, 6 und 7 der Urteilsgründe auch nicht ohne nähere Begründung offenlassen, ob dem Nebenkläger aufgrund seiner Defizite bereits die Fähigkeitfehlte, einen Widerstandswillen zu bilden oder ob es ihm lediglich unmöglichwar, einen solchen Willen in den konkreten Tatsituationen zu äußern oderdurchzusetzen.

c) Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung ist in den Fällen III. 5 und 6 der Urteilsgründe nach § 357Satz 1 StPO auf die nicht revidierende Mitangeklagte M. D. zu erstrecken, weil in beiden Fällen ein innerer Zusammenhang zwischen ihrer Verurteilung und derjenigen des Angeklagten T. D. besteht.

Sollte der neue Tatrichter wiederum zu der Überzeugung gelangen, dasssich die Angeklagten nach § 179 Abs. 1 , Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis zum9. November 2016 geltenden Fassung gegebenenfalls in Verbindung mit § 27StGB strafbar gemacht haben, wird bei der Prüfung der Frage, ob der mit Wirkung zum 10. November 2016 neu gefasste § 177 StGB , der insbesondere inden Abs. 1, 2 Nrn. 1 und 2 sowie Abs. 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGBenthält, das nach § 2 Abs. 3 StGB mildere Gesetz darstellt, von ihm zu beachten sein, dass es insoweit auf eine konkrete Betrachtungsweise ankommt (vgl.dazu BGH, Beschluss vom 30. August 2017 – 4 StR 345/17; Beschluss vom9. Mai 2017 – 4 StR 366/16, NStZ-RR 240, 241 f.; Beschluss vom 16. Mai 2017– 3 StR 43/17, NStZ 2018, 33 ; Beschluss vom 4. April 2017 – 3 StR 524/16,NStZ-RR 2017, 242 ).

2. In den Fällen III. 1 und 2 der Urteilsgründe hält jeweils der Ausspruchüber die Einzelstrafe revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand, weil dieStrafkammer dem Angeklagten die Störung des Sexualverhaltens des Nebenklägers als Folge dieser Taten angelastet hat, obwohl die Feststellungen dafürkeinen ausreichenden Beleg bieten.

a) Als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2StGB können nur Geschehnisse und Umstände angesehen werden, bei denenfeststeht, dass sie durch die Tat verursacht worden sind. Kann das Gericht hierzu keine sicheren Feststellungen treffen, darf sich das nicht zu Lasten desAngeklagten auswirken (vgl. BGH, Beschluss vom 20. August 2003 – 2 StR285/03, NStZ-RR 2004, 41 , 42; Beschluss vom 7. Januar 1997 – 4 StR 601/96,NStZ 1997, 336 , 337). Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass die therapiebedürftige Unfähigkeit des Nebenklägers, seine eigene Sexualität zu regulieren und Schamgrenzen anderer zu erkennen, sicher auch auf die unter III. 1und 2 der Urteilsgründe festgestellten Taten zurückzuführen ist. In den Feststellungen wird dazu – soweit nachvollziehbar – nur ein Zusammenhang zu der vonbeiden Angeklagten vorgelebten „offenen Sexualität“ hergestellt (UA 14 f.).

b) Dies und die Aufhebung in den Fällen III. 3 bis 7 der Urteilsgründezieht bei dem Angeklagten die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

Sost-Scheible Roggenbuck Franke

Fundstellen
NStZ-RR 2018, 107
NStZ-RR 2019, 38
NStZ-RR 2019, 4
StV 2019, 547