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BGH - Entscheidung vom 10.10.2018

5 StR 202/18

Normen:
StGB § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Nr. 4
StGB § 177 Abs. 6

BGH, Urteil vom 10.10.2018 - Aktenzeichen 5 StR 202/18

DRsp Nr. 2018/17335

Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen Hangs des Täters zur Begehung von erheblichen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen (hier: Vergewaltigung und schwerer sexueller Missbrauch von Kindern); Gefährlichkeit eines Täters für die Allgemeinheit

Die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB als materielle Anordnungsvoraussetzung genannte Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit liegt vor, wenn infolge eines bei ihm bestehenden Hanges ernsthaft zu besorgen ist, dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, die eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens darstellen. Mit Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden.

Tenor

1.

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 22. Dezember 2017 aufgehoben, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die Revision des Angeklagten wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Nebenkläger hierdurch entstandenen Auslagen zu tragen.

Normenkette:

StGB § 66 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Nr. 4 ; StGB § 177 Abs. 6 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und wegen Verstoßes gegen Weisungen der Führungsaufsicht in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Wegen der Vergewaltigung hat es eine Einzelfreiheitsstrafe von vier Jahren, wegen der Weisungsverstöße solche von jeweils einem Jahr und vier Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet. Die vom Generalbundesanwalt vertretene, auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, während die ebenfalls mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten erfolglos bleibt.

I.

1. Das Landgericht hat festgestellt:

a) Bei dem im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 67-jährigen Angeklagten besteht eine homosexuelle Pädophilie. Bereits in den Jahren 2000 und 2007 war er unter anderem jeweils wegen mehrerer Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt worden. Zuletzt verurteilte ihn das Landgericht Cottbus am 21. August 2014 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit einem Verstoß gegen Weisungen der Führungsaufsicht, sowie wegen Verstoßes gegen Weisungen der Führungsaufsicht in 19 weiteren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten. Die Strafvollstreckung ist seit dem 20. September 2016 erledigt. Bei den Geschädigten der Missbrauchstaten handelte es sich durchweg um 11- bis 13-jährige Jungen, an denen der Angeklagte vielfach auch den Oralverkehr ausübte.

Nach seiner Haftentlassung nahm der Angeklagte, der im Rahmen der Führungsaufsicht eine elektronische Fußfessel zu tragen hatte, Kontakt zu der Zeugin J. H. und deren zum damaligen Zeitpunkt 16-jährigen Enkel K. H. auf. K. ist mittelgradig geistig behindert und hat erhebliche Sprachprobleme. Seine Großmutter ist für ihn sorgeberechtigt. Der Angeklagte baute ein Vertrauensverhältnis zu dem Jugendlichen und dessen Großmutter auf. Er besuchte ihn regelmäßig, machte ihm Geschenke, unternahm mit ihm Ausflüge, unter anderem ins Schwimmbad, und ließ sich von ihm "Opa" nennen. Der Junge hielt sich häufig in der Wohnung des Angeklagten auf, um dort fernzusehen und am Computer zu spielen. Ziel des Angeklagten war es dabei, sexuelle Handlungen an K. H. - auch gegen dessen Willen - vorzunehmen.

In seiner Wohnung forderte der Angeklagte am 22. Dezember 2016 den Jungen auf, sich zu entkleiden. Nachdem K. dieser Aufforderung nachgekommen war, cremte ihn der Angeklagte am Anus ein. Danach führte er verschiedene sexuelle Handlungen an ihm durch, insbesondere rieb er an dessen Glied und nahm dieses auch in den Mund. Schließlich legte er sich auf den bäuchlings auf dem Bett liegenden Jugendlichen und führte seinen erigierten Penis in dessen After ein. Dies bereitete dem Jungen Schmerzen. Er äußerte deutlich, dass er diesen Analverkehr nicht wolle, indem er mehrfach sagte: "Opa aufhören", "Tut weh." Dennoch führte der Angeklagte den ungeschützten Analverkehr weiter bis zum Samenerguss durch.

Entgegen einer strafbewehrten Führungsaufsichtsweisung, durch die ihm - unter Belehrung über die Folgen von Weisungsverstößen - untersagt worden war, "sich an Orten aufzuhalten, die vorrangig und üblicherweise von Kindern aufgesucht werden, wie Schulen, Kindergärten, Hallen- und Freibäder ..." hielt sich der Angeklagte an vier Tagen zwischen dem 31. Oktober und dem 4. Dezember 2016 in verschiedenen Schwimmbädern auf. Bei einem der Besuche wurde er von K. H. begleitet. Der Angeklagte begab sich gemeinsam mit dem Jugendlichen in eine Solariumskabine und führte den Analverkehr an ihm durch, obwohl der Junge ihn mehrfach bat, damit aufzuhören, und ihm sagte, dass er Schmerzen habe.

2. Die Tat vom 22. Dezember 2016 hat die Strafkammer als Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 StGB gewertet. Die von ihr ebenfalls als gegeben erachtete vorsätzliche Körperverletzung hat die Strafkammer - wohl versehentlich - in den Schuldspruch nicht aufgenommen. Ob sich der in der Solariumskabine vom Angeklagten gegen den Willen des Geschädigten durchgeführte Analverkehr vor oder nach dem Inkrafttreten der den Übergriff erfassenden Änderung des § 177 StGB ereignete, konnte die Kammer nicht feststellen.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung "nach § 66 StGB " hat sie für nicht gegeben erachtet. Dem Gutachten des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen folgend bejaht sie zwar einen Hang des Angeklagten zu Straftaten, die die Opfer "sexuell schädigen". Erforderlich sei jedoch die Feststellung "einer erheblichen Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualdelikte". Unter Zugrundelegung strenger Maßstäbe für die Erheblichkeit weiterer zu erwartender Straftaten und den Wahrscheinlichkeitsgrad ihrer Begehung sei die Anordnung von Sicherungsverwahrung "nicht angezeigt". Entscheidend sei nicht die "formelle Einstufung" der Taten, sondern ihre materielle und einzelfallbezogene Bewertung. Daher sei zu beachten, dass der Angeklagte zur Durchsetzung seiner sexuellen Wünsche in der Vergangenheit nie Gewalt eingesetzt habe. Dies sei auch in Zukunft nicht zu erwarten. Hinzu komme, dass die bei dem Angeklagten festgestellte homosexuelle Pädophilie in den Bereich der Ephebophilie übergehe und bei Sexualstraftaten gegen Jugendliche geringere seelische Schäden zu erwarten seien als bei gleichartigen Straftaten gegen Kinder. Der Angeklagte habe nie sexuelle Handlungen an Kindern unter elf Jahren begangen. Für den Geschädigten K. H. seien keine schwerwiegenden Folgen festzustellen. Auch das Landgericht Cottbus habe in seinem Urteil vom 21. August 2014 solche nicht festgestellt; dort hätten die geschädigten Jungen an den sexuellen Handlungen gegen Entgelt freiwillig mitgewirkt.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

1. Die Beschränkung des Rechtsmittels auf den unterlassenen Maßregelausspruch ist wirksam. Weder aus den Erwägungen zur Strafzumessung noch aus denjenigen zur unterbliebenen Anordnung der Sicherungsverwahrung ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht zwischen beiden Rechtsfolgenentscheidungen einen Zusammenhang hergestellt hat, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2015 - 1 StR 594/14 mwN).

2. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand, da die Prüfung der materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB durchgreifende Rechtsfehler aufweist.

a) Gestützt auf das Sachverständigengutachten hat die Strafkammer - insoweit rechtsfehlerfei - einen Hang des Angeklagten zur Begehung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen bejaht und ist davon ausgegangen, dass eine negative Legalprognose bestehe. Bei der Verneinung der Erheblichkeit der zu erwartenden Straftaten ist sie jedoch von einem falschen rechtlichen Ansatz ausgegangen, indem sie ihren Blick auf die durch die Anlasstaten verursachten Folgen verengt hat.

aa) Die in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB als materielle Anordnungsvoraussetzung genannte Gefährlichkeit eines Angeklagten für die Allgemeinheit liegt vor, wenn infolge eines bei ihm bestehenden Hanges ernsthaft zu besorgen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 - 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188 , 198), dass er auch in Zukunft Straftaten begehen wird, die eine erhebliche Störung des Rechtsfriedens darstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2002 - 4 StR 416/02, NStZ-RR 2003, 108 ). Als wesentlichen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten nennt das Gesetz eine schwere seelische oder körperliche Schädigung der Opfer. Bezugspunkt sind demnach die wahrscheinlichen Folgen der zu erwartenden Straftaten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist mit Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden (vgl. betreffend den hiesigen Angeklagten das Urteil des Senats vom 11. März 2014 - 5 StR 563/13, NJW 2014, 1316 ; ferner Urteile vom 23. April 2013 - 5 StR 617/12; vom 24. März 2010 - 2 StR 10/10, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Erheblichkeit 7; MüKo-StGB/Ullenbruch/Drenkhahn/ Morgenstern, 3. Aufl., § 66 Rn. 103). Diese wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass solche bei bisherigen Taten nicht eingetreten sind (vgl. BGH, Urteile vom 7. Februar 2017 - 5 StR 471/16; vom 29. November 2017 - 5 StR 446/17). Vergewaltigungen zählen grundsätzlich zu den erheblichen Taten (BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2012 - 5 StR 431/12, BGHSt 58, 62 , 68; Urteil vom 23. April 2013 - 5 StR 610/12, NStZ 2013, 522 , 523 jeweils mwN).

bb) Auch wenn sich die Anlasstat - als "Anpassungsversuch an die aktuellen Gegebenheiten und die Verfügbarkeit im Umfeld" (UA S. 57) - gegen einen 16-jährigen Jugendlichen richtete, sind nach den im Urteil wiedergegebenen und von der Strafkammer für überzeugend erachteten Äußerungen des Sachverständigen vom Angeklagten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin Sexualstraftaten gegen Kinder zu erwarten. Danach widerspricht die aktuelle Tat zu Lasten eines in seiner Entwicklung zurückgebliebenen Jugendlichen nicht der Annahme einer stabilen pädophilen Präferenz des Angeklagten, sondern ordnet sich "bruchfrei" in dessen Vordelinquenz ein. Die Tatopfer in den Fällen der Vorverurteilungen waren indes durchweg Kinder. Die aktuelle Tat rechtfertigt daher nicht die Annahme einer für § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB aussagekräftigen Verlagerung der sexuellen Präferenzen des Angeklagten von Kindern zu Jugendlichen.

cc) Tatsachen, die dafür sprechen könnten, dass sich die Gefahr schwerer Schädigungen bei künftigen Taten des Angeklagten nicht realisieren werde, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die Annahme des Landgerichts, dass solche Schäden bei älteren Kindern unwahrscheinlicher sind als bei jüngeren, ist nicht durch einen gesicherten Erfahrungssatz gedeckt. Auch der Umstand, dass die durch die Vortaten geschädigten Jungen an den sexuellen Handlungen - teilweise gegen Entgelt - freiwillig mitgewirkt haben, steht der Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden nicht entgegen, zumal diese sich auch in einem Abgleiten der Geschädigten in die Prostitution äußern können (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2014 - 5 StR 563/13, NJW 2014, 1316 ). Abgesehen davon birgt die Durchführung des - regelmäßig - ungeschützten Oral- oder Analverkehrs durch den Angeklagten für die geschädigten Kinder und Jugendlichen nicht unerhebliche gesundheitliche Gefahren.

b) Über die Maßregel muss demnach neu entschieden werden. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es bei dem hier ausschließlich vorliegenden Wertungsfehler nicht. Das neue Tatgericht darf weitergehende, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen treffen.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB im Urteil die für Vortaten verhängten Einzelstrafen im Einzelnen dargestellt werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. September 2009 - 5 StR 340/09; MüKo-StGB/Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern, aaO, § 66 Rn. 65 f.).

III.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.

Insbesondere ist der Schuldspruch wegen Verstoßes gegen Weisungen der Führungsaufsicht in vier Fällen im Ergebnis rechtsfehlerfrei. Zwar prüft das Landgericht nicht ausdrücklich die Gefährdung des Zwecks der Maßregel. Diese ergibt sich aber bereits daraus, dass der Angeklagte in der Vergangenheit wiederholt Schwimmbadbesuche oder Badeausflüge als Möglichkeiten nutzte, um Sexualstraftaten gegen Kinder zu begehen oder zumindest Kontakte zu Missbrauchsopfern zu knüpfen oder zu intensivieren. Auch nach den hier getroffenen Urteilsfeststellungen beging der Angeklagte im Rahmen eines der weisungswidrigen Schwimmbadbesuche einen - zur Tatzeit möglicherweise aber als solchen noch nicht strafbaren - sexuellen Übergriff auf den Geschädigten.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Dresden, vom 22.12.2017