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BVerfG - Entscheidung vom 11.04.2017

2 BvR 809/17

Normen:
BVerfGG § 32 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
AsylG § 71 Abs. 5

BVerfG, Beschluss vom 11.04.2017 - Aktenzeichen 2 BvR 809/17

DRsp Nr. 2017/13178

Vorläufiges verfassungsgerichtliches Rechtsschutzbegehren eines albanischen Staatsangehörigen gegen seine Abschiebung; Abwägung der Rechtsbeeinträchtigung des Asylntragstellers bei einer Abschiebung und seines verlängerten Aufenthalts in Deutschland

Tenor

Die Vollziehung der im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. November 2015 - 5964258 - angedrohten Abschiebung des Antragstellers wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, untersagt.

Normenkette:

BVerfGG § 32 Abs. 1 ; GG Art. 19 Abs. 4 ; AsylG § 71 Abs. 5 ;

Gründe

I.

Der Antragsteller, ein 1978 geborener albanischer Staatsangehöriger, reiste erstmals 2015 nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 13. November 2015 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde; die Abschiebung nach Albanien wurde angedroht. Eine Klage beim Verwaltungsgericht blieb erfolglos.

Der vom Antragsteller gestellte Folgeantrag wurde mit Bescheid vom 22. Februar 2017 als unzulässig abgelehnt mit der Begründung, es seien lediglich Gründe vorgetragen worden, die bereits im Erstverfahren geltend gemacht worden seien, nämlich dass er als Homosexueller erkannt und verfolgt worden sei. Soweit der Antragsteller vortrage, nunmehr als Transsexueller offen erkennbar zu sein, handele es sich nicht um einen neuen Sachverhalt, der ein Wiederaufgreifen rechtfertige. Auf die frühere Abschiebungsandrohung wurde Bezug genommen.

Der Antragsteller erhob Klage und beantragte die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Er sei nach dem Abschluss des Erstverfahrens nach Albanien zurückgekehrt und habe sich dort entschlossen, nicht mehr ein Leben im Verborgenen zu führen, sondern seine sexuelle Orientierung offensiv nach außen zu tragen. Wegen der Diskriminierungen und gewalttätigen Anfeindungen, die ihm daraufhin in Tirana begegnet seien, habe er sich entschlossen, Albanien erneut zu verlassen. Albanien sei das homophobste Land Europas; die Situation sich offen bekennender Transsexueller müsse im Hauptsacheverfahren durch Einholung eines Sachverständigengutachtens geklärt werden.

Das Verwaltungsgericht lehnte das vorläufige Rechtsschutzbegehren mit Beschluss vom 15. März 2017 ab. Der Antrag, die Bundesrepublik Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von einer Mitteilung an die Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 5 AsylG abzusehen beziehungsweise eine solche zu widerrufen, sei wegen einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache unbegründet; ferner fehle es am Rechtsschutzinteresse, weil es eine unmittelbare Rechtsschutzmöglichkeit gegenüber der Ausländerbehörde gebe. Der gegen die Ausländerbehörde gerichtete Antrag sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil eine Abschiebung für den Monat März nicht mehr anstehe; im Übrigen sei auch dieser Antrag wegen unzulässiger Vorwegnahme der Hauptsache unbegründet.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die vom Antragsteller erhobene Verfassungsbeschwerde. Zugleich beantragt er, im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. November 2015 bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.

II.

Der zulässige Antrag ist begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>).

2. Die Verfassungsbeschwerde erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Insbesondere legt der Antragsteller plausibel dar, in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG dadurch verletzt zu sein, dass das Verwaltungsgericht alle seine Anträge als unzulässig abgelehnt habe. Die Begründung, es fehle am Rechtsschutzbedürfnis, weil nach der Mitteilung der Ausländerbehörde eine Abschiebung nicht unmittelbar bevorstehe, erscheine grob unbillig und führe im Ergebnis dazu, dass Anträge nach § 123 VwGO fortlaufend wiederholt gestellt werden müssten, da der Abschiebungstermin gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht mehr angekündigt werde; andernfalls bleibe es dem Zufall überlassen, ob überhaupt rechtzeitig vor einer Abschiebung vorläufiger Rechtsschutz erlangt werden könne. Unter Hinweis auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache verwehre das Verwaltungsgericht zudem jede Möglichkeit, gegen eine Abschiebung vorläufigen Rechtsschutz zu erhalten. Damit werde jeglicher vorläufige Rechtsschutz vereitelt.

3. Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Die Rechtsbeeinträchtigung, die dem Antragsteller dadurch entstünde, dass er vor einer erforderlichen Befassung mit seinem vorläufigen Rechtsschutzbegehren nach Albanien abgeschoben würde, wiegt schwerer als ein verlängerter Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland.

Vorinstanz: VG Gießen, vom 15.03.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 7 L 1863/17