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BVerfG - Entscheidung vom 01.06.2017

2 BvR 1226/17

Normen:
BVerfGG § 32 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4

BVerfG, Beschluss vom 01.06.2017 - Aktenzeichen 2 BvR 1226/17

DRsp Nr. 2017/12584

Versagung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung nach Afghanistan; Verarbeitung der wesentlichen der Rechtsverteidigung und -verfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Normenkette:

BVerfGG § 32 Abs. 1 ; GG Art. 19 Abs. 4 ;

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, welche der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 <255>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist derzeit unzulässig, weil sie - auch unter Zugrundelegung reduzierter Anforderungen in extremen Eilfällen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 - 2 BvQ 7/17 - [...], Rn. 3) - bisher nicht hinreichend begründet worden ist.

a) Der - anwaltlich vertretene - Beschwerdeführer stützt sich auf Art. 1 Abs. 1 , Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 4 GG . Er kritisiert die Entscheidung, mit der das Verwaltungsgericht ihm vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Afghanistan versagt hat, ohne dabei jedoch verfassungsrechtliche Maßstäbe in Bezug zu nehmen. Die Erkenntnisquellen, auf die er sich beruft, legt er nicht vor und gibt nur für eine dieser Quellen an, wo sie im Internet zu finden ist. Auch mit der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. März 2017, auf die das Verwaltungsgericht Bezug nimmt, setzt er sich nicht auseinander, obwohl sie eine - von seiner Einschätzung abweichende - Bewertung einiger von ihm angeführter Quellen enthält.

b) Die Rüge einer Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG verhilft der Verfassungsbeschwerde derzeit ebenfalls nicht zur Zulässigkeit. Zwar hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung einen unzutreffenden Prüfungsmaßstab zu Grunde gelegt, indem es einen Fall der Vorwegnahme der Hauptsache angenommen - die hierzu in Bezug genommene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs betrifft die Erteilung einer Gaststättenerlaubnis im Wege der einstweiligen Anordnung - und deshalb verlangt hat, dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache erforderlich sei, um eine vorläufige Regelung nach § 123 VwGO zu rechtfertigen. Der Beschwerdeführer setzt sich jedoch nicht mit der Frage auseinander, unter welchem Gesichtspunkt dies zu einer unzumutbaren Erschwerung des Zugangs zu effektivem Rechtsschutz führen und damit verfassungsrechtlich relevant sein könnte, sondern erwähnt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG lediglich in einem gänzlich anderen Zusammenhang.

c) Auch den Umstand, dass sich das Verwaltungsgericht mit der neuesten, vom Beschwerdeführer bereits zur Begründung seines Folgeantrags angeführten Quelle (Stahlmann, Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017, S. 73) nicht befasst hat und deshalb Überwiegendes dafür spricht, dass es damit den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt hat, macht der Beschwerdeführer weder ausdrücklich noch sinngemäß als Grundrechtsverletzung geltend; eine Anhörungsrüge ist bisher nicht erhoben.

Zwar gebietet das Verfassungsrecht nicht, dass sich das Verwaltungsgericht ausdrücklich mit jeder einzelnen Erkenntnisquelle auseinandersetzen muss, die von den Verfahrensbeteiligten in das Verfahren eingeführt wird. Vielmehr geht das Bundesverfassungsgericht, auch wenn die schriftlichen Entscheidungsgründe zu einem bestimmten Beteiligtenvortrag nichts enthalten, in der Regel davon aus, dass die Gerichte dieses Vorbringen pflichtgemäß zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt haben (vgl. BVerfGE 86, 133 <146>). Die wesentlichen der Rechtsverteidigung und -verfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen jedoch in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 - 1 BvR 1311/16 -, [...] Rn. 3 <m.w.N.>; BVerfGE 28, 378 <384 f.>; 47, 182 <189 f.>; 86, 133 <146>; 96, 205 <216 f.>); auf tatsächliche Entwicklungen im Zielland, die für das Bestehen von Abschiebungshindernissen möglicherweise von wesentlicher Bedeutung sind, muss das Verwaltungsgericht von Amts wegen eingehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2017 - 2 BvR 681/17 - [...], Rn. 11 f.). Im vorliegenden Fall hat sich der Beschwerdeführer zur Begründung seines Asylfolgeantrags und seines Rechtsschutzbegehrens auf eine Quelle berufen, die sich detailliert und auf nachvollziehbarer Tatsachengrundlage - in dieser Weise soweit ersichtlich erstmalig - mit derjenigen sozialen Gruppe befasst, der der Beschwerdeführer zuzurechnen ist; auch die vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. März 2017 hat sich mit diesem Beitrag nicht beschäftigt. Damit zählt er erkennbar zu dem im oben genannten Sinne wesentlichen Vorbringen des Beschwerdeführers. Es spricht daher vieles dafür, dass das Verwaltungsgericht der Frage hätte nachgehen müssen, ob eine von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichende Tatsachenwürdigung zur Lage in Kabul oder jedenfalls eine weitere Sachaufklärung geboten gewesen wäre.

d) Schließlich kann auch die Bezugnahme auf eine vom Bundesverfassungsgericht in einer stattgebenden Entscheidung (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2016, 2 BvR 2557/16) über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorgenommene Interessenabwägung die substantiierte Darlegung einer Grundrechtsverletzung im vorliegenden Fall nicht ersetzen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: VG München, vom 30.05.2017 - Vorinstanzaktenzeichen M 24 E 17.41447