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BSG - Entscheidung vom 13.07.2017

B 9 SB 29/17 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 103

BSG, Beschluss vom 13.07.2017 - Aktenzeichen B 9 SB 29/17 B

DRsp Nr. 2017/14397

Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" Verfahrensrüge Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht Einander widersprechende Gutachten Keine Verpflichtung zur Einholung eines Obergutachtens

1. Nach der Rechtsprechung des BSG ist das Gericht nur dann gemäß § 103 SGG zu weiteren Ermittlungen verpflichtet, wenn die vorliegenden Beweismittel, wie z.B. die bereits eingeholten Sachverständigengutachten, nicht ausreichen, um die entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen. 2. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das Gutachten, auf das sich das Gutachten stützen will, bedeutsame Mängel aufweist, wenn die in verschiedenen Gutachten enthaltenen, sich widersprechenden Schlussfolgerungen auf miteinander unvereinbaren tatsächlichen Feststellungen beruhen oder begründete Zweifel an der Sachkunde der Behördengutachter bestehen. 3. Insbesondere ist das Tatsachengericht im Allgemeinen nicht verpflichtet, ein sog. Obergutachten einzuholen, sondern darf sich einem Gutachten anschließen, wenn es dieses für überzeugend hält und dieses keine groben Mängel oder unlösbare Widersprüche enthält oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. März 2017 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 103 ;

Gründe:

I

Mit Urteil vom 16.3.2017 hat das LSG Berlin-Brandenburg einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) verneint, weil die Klägerin nach der Gesamtschau der Akten und insbesondere aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Sachverständigen M. nicht unter solchen Behinderungen leide, die von Teil D Nr 1 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung ( VersMedV ) erfasst werden. Auch liege eine Fallkonstellation nicht vor, bei der von einer Vergleichbarkeit der bei der Klägerin bestehenden Beeinträchtigungen mit denen von Teil D Nr 1 d bis f der Anlage zu § 2 VersMedV regelhaft erfassten Beeinträchtigungen ausgegangen werden müsse. Eine solche Fallkonstellation könne sich für die Klägerin allein aus den bei ihr bestehenden psychischen Störungen - ggf in Kombination mit den allerdings nur gering ausgeprägten organischen Beschwerden - ergeben. Diese Voraussetzungen seien im Fall der Klägerin auch vor dem Hintergrund der Entscheidung des BSG mit Urteil vom 11.8.2015 ( B 9 SB 1/14 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 21) nicht erfüllt. Auch eine Fallgestaltung, bei der sich aus dem Zusammenwirken aller sich auf die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auswirkenden Beeinträchtigungen das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" herleiten ließe, liege hier ersichtlich ebenfalls nicht vor, weil die zu berücksichtigenden Beeinträchtigungen nicht so gravierend seien, dass sie in der Gesamtschau den Regelfällen gleichgestellt werden könnten.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim BSG Beschwerde eingelegt und macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) sowie einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ) geltend.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, da keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG ).

1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) Eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13 , 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

Die Klägerin hält es für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung,

"ob bei der hier vorliegenden Beeinträchtigung der Klägerin durch die stattgehabte Interferon-Therapie nach Hepatitis-C-Infektion nicht aufgrund der vorliegenden Beeinträchtigungen schon das Merkzeichen 'G' zuzuerkennen ist, unabhängig von der Entscheidung des Bundessozialgerichts bzw. über diese Entscheidung hinausgehend"?

Darüber hinaus sei zu fragen und nach Ansicht der Klägerin und Beschwerdeführerin auch festzustellen, dass das LSG Berlin-Brandenburg insofern eine falsche Entscheidung getroffen habe, als es im Rahmen der Beweiswürdigung hier nicht gesondert und eingehender auf die Begutachtung des Gutachters Prof. Dr. med. V. eingegangen sei, sich vielmehr im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen M. gestützt habe, wobei gerade dieses Gutachten sehr in Zweifel zu ziehen sei.

Soweit die Klägerin allerdings die Frage aufwirft, ob die bei ihr vorliegenden Beeinträchtigungen nach der Interferon-Therapie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" erfüllen, hat sie es bereits versäumt, eine Rechtsfrage zu formulieren. Ob dies der Fall ist, ist eine Tatfrage, die das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu treffen hat und die das Revisionsgericht nicht klären kann, vgl § 163 SGG .

Soweit die Klägerin in Wirklichkeit geklärt wissen will, ob Funktionsbeeinträchtigungen durch eine stattgehabte Interferon-Therapie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" bedingen, fehlt es an der Darlegung, warum sich diese Frage nicht bereits auf der Grundlage von Teil D Nr 1 der Anlage zu § 2 VersMedV entsprechend den Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil vom 16.3.2017 (S 12 ff des Urteils) ergeben. Insoweit hätte es zunächst einer Auseinandersetzung der Beschwerdebegründung mit denen vom LSG in der angefochtenen Entscheidung genannten gesetzlichen Grundlagen zur Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" sowie der hierauf basierenden Rechtsprechung des BSG bedurft. Des Weiteren legt die Klägerin nicht dar, inwieweit zu der von ihr aufgeworfenen möglichen rechtlichen Problematik ggf vor dem Hintergrund der vom LSG benannten Rechtsprechung des BSG eine weitere (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit einer möglichen Rechtsfrage bestehen könnte. Denn eine Rechtsfrage ist dann nicht mehr klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich beantwortet ist ( BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65). Schließlich ist es nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin selbst eine Rechtsfrage zu formulieren, der möglicherweise grundsätzliche Bedeutung zukommen könnte (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 26 S 48). Auf die Behauptung der unrichtigen Rechtsanwendung im Einzelfall durch das LSG kann die Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht gestützt werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

2. Ebenso fehlt es an der hinreichend substantiierten Darlegung eines Verfahrensmangels. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie im Fall der Klägerin - darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG ), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§ 103 SGG ), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist.

Da die Klägerin nicht einmal behauptet, einen solchen Beweisantrag gestellt zu haben, kann sie die behauptete Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch das LSG - insbesondere durch dessen Verzicht auf ein weiteres medizinisches Gutachten - von vornherein nicht mit Erfolg geltend machen.

Nicht gehört werden kann die Klägerin in diesem Zusammenhang zudem mit ihrer Kritik, das LSG habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung fälschlicherweise im Wesentlichen auf das Gutachten des Sachverständigen M. gestützt und sei nicht gesondert und eingehender auf die Begutachtung von Prof. Dr. V. eingegangen. Die Klägerin wendet sich damit gegen die Beweiswürdigung des LSG, die § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG indes der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzieht. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG , § 160 RdNr 58 mwN). Darüber hinaus hat die Klägerin nicht ausreichend dargelegt, dass sich das LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung zu einer weiteren Beweisaufnahme hätte gedrängt fühlen müssen. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 5) ist das Gericht nur dann gemäß § 103 SGG zu weiteren Ermittlungen verpflichtet, wenn die vorliegenden Beweismittel, wie zB die bereits eingeholten Sachverständigengutachten, nicht ausreichen, um die entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das Gutachten, auf das sich das Gutachten stützen will, bedeutsame Mängel aufweist (vgl hierzu zB BSGE 1, 91 ), wenn die in verschiedenen Gutachten enthaltenen, sich widersprechenden Schlussfolgerungen auf miteinander unvereinbaren tatsächlichen Feststellungen beruhen (vgl BSG SozR 1500 § 103 Nr 24) oder begründete Zweifel an der Sachkunde der Behördengutachter bestehen (vgl Fichte, SGb 2000, 653 , 658). Diesbezüglich fehlt jedoch jeglicher Vortrag. Insbesondere ist das Tatsachengericht im Allgemeinen nicht verpflichtet, ein sog Obergutachten einzuholen, sondern darf sich einem Gutachten anschließen, wenn es dieses für überzeugend hält und dieses keine groben Mängel oder unlösbare Widersprüche enthält oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht (vgl zB BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B -, in NZS 2017, 440 = BeckRS 2017, 103488).

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG ).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG .

Vorinstanz: LSG Berlin-Brandenburg, vom 16.03.2017 - Vorinstanzaktenzeichen L 11 SB 77/14
Vorinstanz: SG Potsdam, vom 14.03.2014 - Vorinstanzaktenzeichen S 34 SB 317/11