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BSG - Entscheidung vom 26.07.2017

B 13 R 179/16 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
GG Art. 103
SGG § 62
SGG § 128 Abs. 2

BSG, Beschluss vom 26.07.2017 - Aktenzeichen B 13 R 179/16 B

DRsp Nr. 2017/13951

Rentenversicherung Vormerkung weiterer versicherungsrechtlicher Zeiten Verfahrensrüge Verletzung rechtlichen Gehörs Verbot von Überraschungsentscheidungen

1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG , §§ 62 , 128 Abs. 2 SGG ) soll zwar verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. 2. Das Prozessgericht ist aber grundsätzlich gerade nicht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern. 3. Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. 4. Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. April 2016 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; GG Art. 103 ; SGG § 62 ; SGG § 128 Abs. 2 ;

Gründe:

I

Im Streit steht die Vormerkung weiterer versicherungsrechtlicher Zeiten.

Der 1966 geborene Kläger schloss die Schule im Juni 1985 ab und nahm nach einer von der Beklagten festgestellten Übergangszeit - bis zum 31.10.1985 - seinen Zivildienst auf. Dieser endete am 30.6.1987. Für die Zeit bis zum Beginn der Hochschulausbildung am 1.10.1987 stellte die Beklagte wiederum eine Übergangszeit fest. Das Zweitstudium beendete der Kläger am 28.2.1996. Am 1.3.1996 trat er seinen Dienst als Referendar an. Nach dem 2. juristischen Staatsexamen und einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität nahm er eine selbstständige Beschäftigung als Rechtsanwalt auf. Über die von der Beklagten festgestellten versicherungsrechtlichen Zeiten hinaus begehrte er die Feststellung der Zeiten vom 31.7.1987 bis 20.9.1987 - zeitgleich zur festgestellten Übergangszeit - und 27.6.1988 bis 29.7.1988 - zeitgleich zur festgestellten Ausbildungszeit - als Krankheitszeit nach § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI sowie vom 11.5. bis 15.7.1998 - während der Referendartätigkeit - als Arbeitsunfähigkeitszeit nach § 58 Abs 1 S 1 Nr 1 iVm § 58 Abs 2 S 1 SGB VI .

Die Beklagte lehnte dies ab. Der Kläger ist auch im Klage- und Berufungsverfahren erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 4.7.2013 und Urteil des LSG vom 22.4.2016). Das LSG hat zur Begründung der Zurückweisung der Berufung ausgeführt, in den ersten beiden streitigen Zeiten sei das Vorliegen von Krankheit nicht nachgewiesen. Die Angaben der Mutter des Klägers und seines Bruders seien nicht hinreichend zeitnahe und genaue sowie medizinisch fundierte Erklärungen von Laien. Erkenntnisse seien auch nicht durch Unterlagen der zuständigen Krankenkasse oder der behandelnden Ärzte zu gewinnen gewesen. Zudem könne ein Tatbestand iS des § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI nur dann festgestellt werden, wenn der betreffende Kalendermonat nicht mit anderen rentenrechtlichen Zeiten belegt sei. So liege es jedoch im konkreten Fall. Die dritte geltend gemachte Zeit der Arbeitsunfähigkeit unterbreche keine der in § 58 Abs 2 S 1 SGB VI benannten versicherten Beschäftigungen oder den Zivildienst. Der Kläger habe 1998 bereits das Referendariat durchlaufen und sei damit im Beamtenverhältnis auf Widerruf versicherungsfrei gewesen. Eine Unterbrechung des Zivildienstes liege auch nicht vor, denn dieser sei am 30.6.1987 beendet gewesen. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde an das BSG . Er trägt vor, in dem Rechtsstreit stellten sich grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfragen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ), und macht den Verfahrensfehler einer Überraschungsentscheidung durch das LSG geltend (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ).

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, denn sie ist nicht formgerecht begründet. Unabhängig davon, ob der Kläger, wie die Beklagte in ihrer Erwiderung ausführt, den vom LSG festgestellten Sachverhalt hinreichend wiedergegeben hat, ist es ihm weder gelungen, die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch den geltend gemachten Verfahrensfehler nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 S 3 SGG darzutun.

I. Grundsätzliche Bedeutung

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtssicherheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist.

Der Kläger formuliert drei Fragen:

1. "Ist ein Kalendermonat mit einer rentenrechtlichen Zeit belegt und infolge dessen die Aufnahme von Daten zum Tatbestand einer Krankheitszeit (§ 58 I Satz 1 Nr. 1a SGB VI ) in das Versicherungskonto ausgeschlossen, wenn bereits zeitgleich Daten zu anderweitigen Versicherungstatbeständen im Versicherungskonto vorgemerkt sind?"

2. "Können Krankheitszeiten (§ 58 I Satz 1 Nr. 1a SGB VI ) auch durch Zeugenaussagen von medizinischen Laien nachgewiesen werden?"

3. "Können eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit oder ein versicherter Wehrdienst oder Zivildienst oder ein versichertes Wehrdienstverhältnis besonderer Art (§ 6 des Einsatz- und Weiterverwendungsgesetzes) gemäß § 58 II SGB VI unterbrochen werden, wenn sie zuvor schon regulär beendet worden sind?"

Zur 1. Frage - Belegung mit anderen rentenrechtlichen Zeiten:

Zwar gibt der Kläger - im Rahmen der Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Rechtsfrage - die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere zur Rechtsnatur, Reichweite und Bindungswirkung einer Vormerkung ausführlich wieder. Auch behauptet er, dass sich aus der zitierten Rechtsprechung seiner Ansicht nach nicht sicher schließen lasse, welche Folgerungen hieraus für den Fall des Aufeinandertreffens von zwei Anrechnungszeittatbeständen zu ziehen seien. Er befasst sich jedoch zur Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Rechtsfrage nicht hinreichend mit den Voraussetzungen des hier anwendbaren § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI selbst.

Danach sind Anrechnungszeiten, Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. und vor dem vollendeten 25. Lebensjahr mindestens einen Kalendermonat krank gewesen sind, soweit die Zeiten nicht mit anderen rentenrechtlichen Zeiten belegt sind. Insoweit legt der Kläger zwar dar, dass der Begriff der "Belegung" eine "sichere Festlegung auf einen Zustand, eine verbindliche Platzeinnahme" verlange. Er setzt sich jedoch nicht mit den Konsequenzen dieser Ausführungen auseinander. Es fehlt an Darlegungen dazu, warum nicht bereits die "sichere" Vormerkung iS der von ihm sogenannten verbindlichen Platzeinnahme dazu führt, dass das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI zu verneinen ist, sodass sich die von ihm aufgeworfene Rechtsfrage unmittelbar aus dem Gesetz beantwortet. Denn diese Regelung dient der Absicherung von Lücken in der Erwerbsbiographie am Anfang des Erwerbslebens (vgl Dankelmann in Kreikebohm, SGB VI , 5. Aufl 2017, § 58 RdNr 10; Fichte in Hauck/Noftz, SGB VI , Stand der Einzelkommentierung 8/14, K § 58, RdNr 31, 39). Deswegen sollen festgestellte rentenrechtliche Zeiten, die erst gar keine Lücken entstehen lassen, dazu führen, dass bereits der Tatbestand des § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI nicht gegeben ist, also keine entsprechende Anrechnungszeit vorliegt.

Zur 2. Frage - Nachweis von Krankheit:

Mit der Frage, ob Krankheitszeiten auch durch Zeugenaussagen von medizinischen Laien nachgewiesen werden können, formuliert der Kläger bereits keine abstrakte Rechtsfrage. Er kleidet vielmehr die im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall zu beantwortende Frage danach, ob die konkreten Beweismittel zum Nachweis des Vorliegens eines Tatbestandsmerkmals ausreichen, in das Gewand der grundsätzlichen Bedeutung. Dies wird bei seinen Ausführungen zur Klärungsfähigkeit und Entscheidungserheblichkeit besonders deutlich, wenn er dort wiedergibt, dass das LSG die Auffassung vertrete, aus den vorgelegten Urkunden und persönlichen Schilderungen des Klägers ließen sich keine hinreichenden Schlüsse auf Art, Dauer und Vorliegen der Erkrankungen ziehen. Er legt also dar, das LSG habe die Schilderungen gewürdigt. Es habe sich auf deren Grundlage jedoch nicht von dem Vorliegen einer Krankheit iS des § 58 Abs 1 S 1 Nr 1a SGB VI überzeugen können.

Zur 3. Frage - Unterbrechung des Zivildienstes:

Unabhängig davon, ob es dem Kläger gelungen ist, im Hinblick auf die dritte von ihm formulierte Frage deren abstrakte Klärungsbedürftigkeit darzulegen, so mangelt es an hinreichenden Ausführungen zur Klärungsfähigkeit/Entscheidungserheblichkeit. Er selbst führt aus, dass er während der geltend gemachten Zeit der Arbeitsunfähigkeit als Beamter auf Widerruf im Referendardienst tätig war. Daher hätte es weiterer Ausführungen dazu bedurft, warum gleichwohl eine - von ihm behauptete - ununterbrochene "Kette" von Anrechnungs- und Überbrückungstatbeständen vom Zivildienst zur Arbeitsunfähigkeit gegeben sein soll, die eine "Unterbrechung" überhaupt ermöglicht.

II. Verfahrensfehler

Der Kläger kann auch nicht mit der Rüge durchdringen, er sei mit der angegriffenen Entscheidung deswegen überrascht worden, weil das LSG ihn nicht vorab darauf hingewiesen habe, bereits die Beendigung des Zivildienstes hindere das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der "Unterbrechung" durch eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit iS des § 58 Abs 2 S 1 SGB VI . Der geltend gemachte Verfahrensfehler ist nicht hinreichend bezeichnet.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 GG , §§ 62 , 128 Abs 2 SGG ) soll zwar verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. Das Prozessgericht ist aber grundsätzlich gerade nicht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern ( BSG Beschluss vom 5.1.2017 - B 12 R 49/15 B - Juris RdNr 9, unter Hinweis auf BSG Beschluss vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Von einer Überraschungsentscheidung kann nur ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl zB BVerfG [Kammer] Beschluss vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 RdNr 18 mwN). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt.

Dass ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht mit der Begründung des LSG habe rechnen können, wegen der Beendigung des Zivildienstes komme von vornherein nicht dessen "Unterbrechung" durch eine Krankheitszeit iS des § 58 Abs 1 S 1 Nr 1 iVm Abs 2 SGB VI in Betracht, legt der Kläger nicht hinreichend dar. Hierzu hätte jedoch Anlass bestanden, weil der Begriff der Unterbrechung selbst voraussetzt, dass eine Fortsetzung zumindest möglich sein muss. Dass es sich insoweit nicht um eine überraschende Wertung des LSG handelt, was beendet sei könne nicht unterbrochen werden, wohnt zudem schon der eigenen Argumentation des Klägers inne. Denn ohne eine - wie er es in der Beschwerdeschrift bezeichnet - "lückenlose Kette" der Anrechnungszeiten konnte eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1998 den Zivildienst des Jahres 1987 von vornherein nicht unterbrechen.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt nach § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Hessen, vom 22.04.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 5 R 403/13
Vorinstanz: SG Wiesbaden, vom 04.07.2013 - Vorinstanzaktenzeichen 9 R 394/10