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BSG - Entscheidung vom 18.07.2017

B 4 AS 53/17 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 62
GG Art. 103 Abs. 1
SGG § 106 Abs. 1

BSG, Beschluss vom 18.07.2017 - Aktenzeichen B 4 AS 53/17 B

DRsp Nr. 2017/13947

Nichtzulassungsbeschwerde Verfahrensrüge Verbot von Überraschungsentscheidungen

1. Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG , der dem schon in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. 2. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs. 1 SGG ) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. 3. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt allerdings nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht. 4. Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 7. Dezember 2016 wird als unzulässig verworfen.

Der Antrag des Klägers, ihm zur Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin R. beizuordnen, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 62 ; GG Art. 103 Abs. 1 ; SGG § 106 Abs. 1 ;

Gründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Kläger weder Verfahrensfehler, auf denen die angefochtene Entscheidung beruhen kann, noch eine grundsätzliche Bedeutung der Sache in der gebotenen Weise als Zulassungsgründe bezeichnet bzw dargelegt hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG ). Die Beschwerde ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG , § 169 SGG ).

Wird das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels wie bei einer Verfahrensrüge innerhalb einer zugelassenen Revision zunächst die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargelegt werden (vgl nur BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 und 36 ; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG , 12. Aufl 2017, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist bei der Rüge einer Gehörsverletzung die Darlegung zu verlangen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht ( BSG SozR 1500 § 160a Nr 36), denn eine Gehörsverletzung stellt gemäß § 202 SGG iVm § 547 ZPO keinen absoluten Revisionsgrund dar.

Die Beschwerdebegründung des Klägers wird diesen Darlegungserfordernissen nicht gerecht. Er macht geltend, die Entscheidung des LSG sei zur Problematik des betrieblich veranlassten Darlehens und zur Nichtanerkennung von KFZ-Kosten überraschend und verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, weil das LSG auf seine Rechtsauffassung zu diesen Gesichtspunkten zuvor nicht hingewiesen habe. Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG , der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht (vgl Neumann in Hennig, SGG , § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG ) konkretisiert den An- spruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG , § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (vgl Senatsurteil vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 114 Nr 2 vorgesehen, RdNr 34). Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt allerdings nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl nur BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R - BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG , 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 8b). Die Rüge des Verfahrensmangels einer Überraschungsentscheidung ist deshalb nur dann schlüssig bezeichnet, wenn im Einzelnen vorgetragen wird, aus welchen Gründen auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Prozessverlaufs nicht damit rechnen musste, dass das Gericht seine Entscheidung auf einen bestimmten Gesichtspunkt stützt ( BSG vom 7.6.2016 - B 13 R 40/16 B - RdNr 9).

Hieran fehlt es. Der Kläger stellt nicht in Abrede, dass sowohl das Darlehen seiner Eltern als auch die Anerkennung von KFZ-Kosten ausdrücklich Gegenstand verschiedener schriftlicher und mündlicher Erörterungen in beiden Instanzen gewesen ist, er also Stellung zu den sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen nehmen konnte. Darüber hinaus bringt er zwar vor, das LSG habe eine bestimmte Rechtsauffassung zu erkennen gegeben bzw keine Zweifel an bestimmten Umständen gehabt. Woraus das im Einzelnen zu schließen sein soll, führt er allerdings nicht aus. Eine unerwartete Verfahrenswendung ist dadurch nicht nachvollziehbar dargetan. Der vom Kläger im Übrigen geltend gemachten - von ihm offenbar als umfassend angesehenen - Hinweispflicht des LSG bezogen auf jedes Detail seiner Beurteilung steht schon entgegen, dass diese eine tatsächliche und rechtliche Würdigung voraussetzt, die sich regelmäßig erst aufgrund einer abschließenden Beratung des Gerichts ergeben kann (vgl hierzu BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11 - RdNr 3; Senatsurteil vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1500 § 114 Nr 2 vorgesehen, RdNr 35). Wenn zudem - wie vorliegend - eine Vielzahl von einzelnen Berechnungselementen oder Abzugspositionen im Streit stehen, können aufklärende Hinweise zu allen Detailfragen erst recht nicht verlangt werden.

Aus der Beschwerdebegründung wird darüber hinaus nicht hinreichend deutlich, warum das LSG nach Würdigung weiteren Vorbringens des Klägers zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. Insofern fehlt es bereits an einer ausreichenden Darstellung der Sach- und Rechtslage in Bezug auf den streitbefangenen Leistungszeitraum, der dem Senat die Beurteilung der Einkommensanrechnung ermöglichen würde.

Soweit der Kläger wegen der unterbliebenen Schätzung der geschäftlichen Fahrten die aus seiner Sicht fehlerhafte Anwendung von § 202 SGG iVm § 287 ZPO rügt, ist ebenfalls kein Verfahrensmangel ausreichend bezeichnet. Denn der Kläger wendet sich nicht gegen die - aus verfahrensrechtlichen Gründen - vom LSG als geboten angesehene Heranziehung von § 287 ZPO an sich oder dessen abstrakte Auslegung durch das LSG, was allein geeignet sein könnte, einen Verfahrensfehler zu begründen, sondern ganz ausdrücklich (nur) gegen die fehlerhafte Rechtsanwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Einzelfall. Die möglicherweise fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall kann indes nicht zur Zulassung der Revision führen, denn die Revision dient nicht - wie schon die enumerative Aufzählung der Zulassungsgründe in § 160 Abs 2 SGG zeigt - einer allgemeinen Überprüfung des Rechtsstreits in der Sache (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26).

Der Kläger hat auch nicht schlüssig aufgezeigt, dass das Urteil des LSG wegen einer unzureichenden Urteilsbegründung (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG ; § 202 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO ) verfahrensfehlerhaft sein könnte. Er rügt zwar, dass er die abschließenden Berechnungen des LSG nicht nachvollziehen könne, berücksichtigt dabei aber nicht, dass das LSG verschiedene in die Berechnung eingeflossene Faktoren geschätzt hat. Deswegen hätte er darlegen müssen, warum die Berechnung auch vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar sein soll.

Schließlich hat der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht formgerecht dargelegt. Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, ggf sogar des Schrifttums, angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl nur BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN).

Dem wird die Beschwerdebegründung des Klägers nicht gerecht. Für grundsätzlich bedeutsam hält er die Frage, "welche Mindestanforderungen an ein Fahrtenbuch zu stellen sind, damit es anerkannt wird und damit Grundlage einer Entscheidung vom Jobcenter oder vom Gericht sein kann, zumindest aber eine geeignete Schätzgrundlage". Schon die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage zeigt er nicht auf. Vielmehr beschränkt er sich auf die Würdigung des konkret von ihm geführten Fahrtenbuchs, was unzureichend ist.

Da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO ), ist dem Kläger auch keine PKH zu bewilligen. Damit entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Thüringen, vom 07.12.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 4 AS 568/15
Vorinstanz: SG Gotha, vom 17.11.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 40 AS 6529/11