Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BSG - Entscheidung vom 10.08.2017

B 1 KR 1/17 BH

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1
SGB V § 34 Abs. 1 S. 2

BSG, Beschluss vom 10.08.2017 - Aktenzeichen B 1 KR 1/17 BH

DRsp Nr. 2017/14004

Krankenversicherung Versorgung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln Grundsatzrüge Bereits geklärte Rechtsfrage

1. Die Voraussetzungen, unter denen Versicherte in der GKV ausnahmsweise Versorgung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln beanspruchen können, insbesondere unter welchen Voraussetzungen eine schwerwiegende Erkrankung sowie ein Therapiestandard im Sinne des § 34 Abs. 1 S. 2 SGB V vorliegen, sind durch die Rechtsprechung des erkennenden Senats geklärt. 2. Ebenfalls geklärt ist, dass der gesetzliche Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Medikamente weder Verfassungsrecht noch europäischem Recht widerspricht.

Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Januar 2017 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ; SGB V § 34 Abs. 1 S. 2;

Gründe:

I

Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet infolge einer benignen Prostatahyperplasie an Blasenentleerungsstörungen, die zunächst mehrere Jahre mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Tamsulosin behandelt wurden. Wegen starker Nebenwirkungen setzte der Kläger dieses schrittweise ab. Mit seinem Begehren, sich an den Kosten des an dessen Stelle aufgrund von Privatrezepten selbst verschafften, nicht verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittels Prostagutt forte (404,32 Euro in der Zeit vom 17.3.2016 bis 16.11.2016) sowie zukünftigen Kosten zu beteiligen, ist der Kläger bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, das begehrte Arzneimittel sei vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht umfasst. Ein Fall, in dem die Verordnung eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels ausnahmsweise zulässig sei (§ 34 Abs 1 S 1 und 2 SGB V , § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V iVm § 12 Abs 5 und der Anlage I zum Abschnitt F der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses [GBA] über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - Arzneimittel-Richtlinie), liege nicht vor. Auch bestehe keine notstandsähnliche Situation, wie sie § 2 Abs 1a S 1 SGB V voraussetze. Der Kläger leide auch unter Berücksichtigung der bei einer Behandlung mit Tamsulosin auftretenden Nebenwirkungen nicht unter einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung (Urteil vom 20.1.2017).

Der Kläger begehrt, ihm für eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen.

II

Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen. Nach § 73a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 114 , 121 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Beschwerdeverfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, wenn ua die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es.

Der Kläger kann aller Voraussicht nach mit seinem Begehren auf Zulassung der Revision nicht durchdringen, weil es keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Nach Durchsicht der Akten fehlen auch unter Würdigung seines Vorbringens Anhaltspunkte dafür, dass er einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte.

1. Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall des Klägers hinausgehende grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ). Die Voraussetzungen, unter denen Versicherte in der GKV ausnahmsweise Versorgung mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln beanspruchen können, insbesondere unter welchen Voraussetzungen eine schwerwiegende Erkrankung sowie ein Therapiestandard im Sinne des § 34 Abs 1 S 2 SGB V vorliegen, sind durch die Rspr des erkennenden Senats geklärt (vgl BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 18 ff [Linola]; BSGE 120, 170 = SozR 4-2500 § 34 Nr 18, RdNr 12 ff [Iscador M]; BSGE 102, 30 = SozR 4-2500 § 34 Nr 4, RdNr 10 ff [Gelomyrtol forte]; vgl auch BSGE 117, 129 = SozR 4-2500 § 34 Nr 16, RdNr 29 ff [Vertigoheel]). Ebenfalls geklärt ist, dass der gesetzliche Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Medikamente weder Verfassungsnoch europäischem Recht widerspricht (vgl BVerfG Beschluss vom 12.12.2012 - 1 BvR 69/09 - BVerfGK 20, 159; BSGE 102, 30 = SozR 4-2500 § 34 Nr 4, RdNr 11 ff [Gelomyrtol forte]; BSGE 110, 183 = SozR 4-2500 § 34 Nr 9, RdNr 32 ff [Linola]).

Auch ist nicht ersichtlich, dass unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rspr noch Klärungsbedarf hinsichtlich der Auslegung des § 2 Abs 1a SGB V verbleibt. Die Voraussetzungen, unter denen ein Versicherter der GKV von seiner KK die Versorgung mit einem Arzneimittel zur Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung im Sinne des § 2 Abs 1a SGB V verlangen kann, sind durch die Rspr des Senats geklärt (vgl BSGE 120, 170 = SozR 4-2500 § 34 Nr 18, RdNr 57 ff [Iscador M]). Demnach enthält diese Vorschrift nach der Gesetzesbegründung eine Klarstellung zum Geltungsumfang des sog Nikolaus-Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) für das Leistungsrecht der GKV (BT-Drucks 17/6906 S 53). Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (vgl BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 21 und 30 mwN [Tomudex]; BSG Urteil vom 27.3.2007 - B 1 KR 17/06 R - Juris RdNr 23 = USK 2007-25 [Polyglobin 10 %]). Nichts anderes gilt für wertungsmäßig vergleichbare Erkrankungen (vgl BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 32 [Lorenzos Öl]). Das BVerfG hat diese Rspr des BSG bestätigt (vgl zB BVerfG SozR 4-2500 § 31 Nr 17, zur Versorgung mit Immunglobulinen bei MS; enger BVerfGE 140, 229 RdNr 18 - dort zu einer chronischen Erkrankung der Harnblasenwand mit Entleerungsstörungen).

2. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend bewusst von Rechtsprechung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ).

3. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für den Verfahrensfehler einer unterlassenen unechten notwendigen Beiladung des zuständigen Trägers der Sozialhilfe (§ 75 Abs 2 Alt 2 SGG ). Zwar könnte dem Kläger, der in den Tatsacheninstanzen nicht rechtskundig vertreten war, nicht entgegengehalten werden, dass er eine unterbliebene Beiladung in der letzten Tatsacheninstanz nicht ausdrücklich gerügt hat (vgl BSG Beschluss vom 5.7.2016 - B 1 KR 18/16 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 8.3.2016 - B 1 KR 99/15 B - Juris RdNr 4). Jedoch war für die Tatsachengerichte schon nicht ersichtlich, dass der zuständige Träger der Sozialhilfe dem Kläger gegenüber leistungspflichtig sein könnte, etwa aufgrund eines Anspruchs auf Erhöhung des Regelsatzes nach § 27a Abs 4 S 1 Alt 2 SGB XII (idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453).

Nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sich in dem Verfahren ergibt, dass bei Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe, ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Hierfür ist es nicht erforderlich, dass es für das LSG als erkennendes Gericht bereits feststeht, dass der Beklagte nicht leistungspflichtig ist; vielmehr genügt die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Leistungsverpflichteten (zB BSG Urteil vom 25.4.2013 - B 8 SO 16/11 R - Juris RdNr 10; BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 11; Röhl in Zeihe/Hauck, SGG , Stand April 2017, § 75 RdNr 19c mwN). Daran fehlte es hier. Ausgehend von dem eigenen Vortrag des Klägers betreffend seine finanziellen Verhältnisse ("Rentnerehepaar mit gemeinsamer Rente von etwa 2500,- brutto") und den Kosten des begehrten Medikaments musste sich dem LSG eine Beiladung eines anderen Leistungsträgers nicht aufdrängen.

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 20.01.2017 - Vorinstanzaktenzeichen L 4 KR 3299/16
Vorinstanz: SG Freiburg, vom 23.08.2016 - Vorinstanzaktenzeichen S 5 KR 1126/16