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BSG - Entscheidung vom 09.10.2017

B 3 KR 19/17 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3

BSG, Beschluss vom 09.10.2017 - Aktenzeichen B 3 KR 19/17 B

DRsp Nr. 2017/17233

Krankenversicherung Verfahrensrüge Verbot von Überraschungsentscheidungen Unerwartete Wende des Rechtsstreits

1. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine unerwartete Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung mehrerer vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht. 2. Andererseits ist keine Überraschungsentscheidung anzunehmen, wenn die Problematik bereits Gegenstand von Äußerungen der Beteiligten des streitigen Verfahrens war oder von ihnen selbst in das Verfahren eingeführt wurde.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 2016 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ;

Gründe:

I

Das Bayerische LSG hat mit Urteil vom 21.9.2016 den Anspruch des Klägers, der bei der Beklagten als landwirtschaftlicher Unternehmer versichert ist, auf Erstattung von Kosten für ein "A-V-Impulse-System", ein Gerät mit einem pneumatischen Hochleistungsimpuls zur Aktivierung des Fußsohlenplexus, verneint: Es bestehe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 2 iVm § 33 Abs 1 SGB V . Es könne offenbleiben, ob die Beklagte den Kläger vor Abschluss des Mietvertrages über das streitige Gerät hätte beraten und informieren müssen, dass das Hilfsmittel nicht vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) umfasst sei. Für den Senat stehe unter Berücksichtigung der eingeholten medizinischen Berichte bzw Gutachten, insbesondere aber entgegen der Ansicht des gerichtlichen Sachverständigen Dr. N fest, dass das Hilfsmittel nicht erforderlich sei und die vorhandenen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten für die Heilung der Unterschenkelfraktur nicht ausgeschöpft gewesen seien. Es sei nicht nachgewiesen, dass die streitige Hilfsmittelbehandlung zu einem Behandlungserfolg beigetragen habe. Da keine besondere Dringlichkeit bestanden und es sich nicht um eine unaufschiebbare Maßnahme gehandelt habe, bestehe auch kein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 S 1 SGB V . Im Zeitpunkt des Abschlusses des Mietvertrages sei das Abwarten des Ergebnisses von anderen Behandlungsmöglichkeiten zumutbar gewesen. Da der Kläger seine Versorgung mit dem Hilfsmittel vor Erteilung eines Bescheids der Beklagten durchgeführt habe, sei auch der Beschaffungsweg nicht eingehalten worden.

Hiergegen hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er rügt ausschließlich Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ).

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Kläger den geltend gemachten Zulassungsgrund des Verfahrensmangels nicht formgerecht aufgezeigt hat (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Der Kläger rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG , § 128 Abs 2 SGG ), der richterlichen Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG , § 139 Abs 2 , Abs 4 ZPO iVm § 202 SGG ) und des verfassungsrechtlichen Gebots auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Dazu trägt er vor, das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil es keinen Hinweis erteilt habe, dass es dem Gutachten des Sachverständigen Dr. N nicht folgen werde, sondern offengelassen habe, welchem Gutachten (ua des MDK) es sich anschließen werde. Auch in der ersten Instanz habe keine Erörterung der Beweislage stattgefunden. Hätte das LSG einen Hinweis erteilt, wäre eine ergänzende Anhörung des Dr. N zu seinem Gutachten bzw ein weiteres Gutachten beantragt worden (§ 103 SGG , § 109 SGG ).

Dieser Vortrag genügt nicht den Anforderungen an das formgerechte Aufzeigen eines Verfahrensmangels.

1. Soweit der Kläger die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG ) rügt, weil er meint, das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, ergibt sich aus den Darlegungen kein solcher Verfahrensmangel. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine unerwartete Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung mehrerer vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (stRspr vgl nur BVerfGE 84, 188 , 190; 86, 133, 144 f; 98, 218, 263; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23; BSG SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 17). Andererseits ist keine Überraschungsentscheidung anzunehmen, wenn die Problematik bereits Gegenstand von Äußerungen der Beteiligten des streitigen Verfahrens war (vgl zB BVerfG [Kammer] Beschluss vom 12.7.2006 - BVerfGK 8, 376) oder von ihnen selbst in das Verfahren eingeführt wurde. Nach den Darlegungen des Klägers in der Beschwerdebegründungsschrift (S 3 f) war ihm der Inhalt des Gutachtens des Dr. N sowohl bekannt als auch Gegenstand seiner schriftsätzlichen Äußerungen im Berufungsverfahren (S 5). Ein Überraschungsurteil scheidet auch deshalb aus, weil - nach den Darlegungen des Klägers - sich das LSG wie zuvor schon das SG nicht den Ergebnissen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. N anschließen konnte und auch die erste Instanz dieses Gutachten für nicht entscheidungsrelevant gehalten hat.

2. Der Kläger hat auch keine Verletzung der richterlichen Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 iVm § 112 Abs 2 SGG ) schlüssig aufgezeigt. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet, vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr vgl nur BSG Beschlüsse vom 9.2.2011 - B 11 AL 71/10 B - Juris, vom 5.11.2014 - B 13 R 360/14 B - mwN). Die Pflicht zur Gehörsgewährung bedeutet nur, dass den Beteiligten die vom Gericht eingeholten Tatsachen und Beweisergebnisse bekannt sein müssen; nicht aber muss das Gericht ihnen auch mitteilen, welche Schlussfolgerungen es aus den Tatsachen- oder Beweisergebnissen ziehen wird (vgl nur BSG Beschluss vom 17.7.2007 - B 6 KA 14/07 B - BeckRS 2007, 46399 RdNr 7 mwN). Dass dem Kläger nicht alle medizinischen Berichte und Gutachten mitgeteilt worden seien, hat er hingegen nicht behauptet. Daher greift - ausgehend von seinen Ausführungen - auch die Rüge der Verletzung von § 128 Abs 2 SGG nicht. Ungeachtet der Frage, ob § 139 Abs 2 und Abs 4 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren über § 202 SGG überhaupt Anwendung finden, scheidet eine Verletzung dieser Normen aus, wenn - wie bereits ausgeführt - ein richterlicher Hinweis nicht erforderlich war. Dass die Entscheidung auf einen Gesichtspunkt gestützt worden ist, den der Kläger erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, hat er in der Beschwerdeschrift nicht vorgetragen. Aus seinem Vortrag ergibt sich auch nicht, dass er keine Möglichkeit gehabt hätte, sich zu allen rechtlichen und tatsächlichen Fragen zu äußern. Welche Hindernisse im Berufungsverfahren dem entgegengestanden haben sollen, bleibt offen. Hierfür reicht es jedenfalls nicht aus, sich auf "Sanktionen für bestimmtes Prozessverhalten, zB Präklusion" zu berufen (S 10). Eine Verletzung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip, vgl BVerfGE 122, 248 , 272) ergibt sich aus diesem Vorbringen ebenfalls nicht.

3. Ein Verfahrensmangel ist auch nicht deshalb hinreichend bezeichnet, weil der Kläger meint, das LSG habe ihn vorab auf die Beweiswürdigung hinweisen müssen, weil er im Anschluss daran Beweisanträge gestellt und Fragen an den Sachverständigen formuliert hätte. Dem steht aber entgegen, dass Hinweispflichten, die nicht gestellten Beweisanträgen über den Umweg von §§ 106 , 112 SGG zum Erfolg verhelfen können, nicht existieren (stRspr vgl nur BSG Beschlüsse vom 20.11.2014 - B 13 R 270/14 B -, vom 5.5.2010 -B5R 26/10 B - Juris, vom 24.7.2002 - B 7 AL 228/01 B - Juris). Hält das Tatsachengericht eine Beweisaufnahme für notwendig, so hat es keinen entsprechenden Beweisantrag herbeizuführen, sondern den Beweis von Amts wegen auch ohne Antrag zu erheben. Sieht es dagegen von der Beweiserhebung ab, so muss es nicht kompensatorisch auf einen Beweisantrag hinwirken (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 13).

4. Auf eine Verletzung von § 109 SGG (Anhörung eines bestimmten Arztes) kann eine Verfahrensrüge schon nach dem ausdrücklichen Wortlaut von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG nicht gestützt werden. Dies gilt unabhängig davon, worauf der Verfahrensmangel im Einzelnen beruht (stRspr vgl nur BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 9 unter Hinweis auf BVerfG SozR 1500 § 160 Nr 69).

5. Im Ergebnis greift der Kläger sinngemäß auch die Beweiswürdigung des Gerichts an. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann ein Verfahrensmangel im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde aber nicht auf § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) gestützt werden. Die Würdigung unterschiedlicher Gutachtenergebnisse gehört wie andere sich widersprechende Beweisergebnisse zur Beweiswürdigung selbst (§ 128 Abs 1 S 1 SGG ). Eine evtl Verpflichtung zur weiteren Beweiserhebung kann im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein nur dann beachtlich sein, wenn das LSG im Berufungsverfahren einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 letzter Halbs SGG ). An solchen Darlegungen fehlt es aber.

6. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

7. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Bayern, vom 21.09.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 4 KR 328/14
Vorinstanz: SG Landshut, vom 02.07.2014 - Vorinstanzaktenzeichen S 4 KR 237/11