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BSG - Entscheidung vom 15.03.2017

B 9 SB 6/16 BH

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1
SGB IX § 69

BSG, Beschluss vom 15.03.2017 - Aktenzeichen B 9 SB 6/16 BH

DRsp Nr. 2017/10755

Feststellung eines Grades der Behinderung Grundsatzrüge Hinreichende Rechtsprechung des BSG zur Feststellung des GdB Versorgungsmedizinische Grundsätze

1. Die Revision darf zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. 2. Zur Feststellung des GdB gibt es hinreichende Rechtsprechung des BSG ; danach kommt es bei der Bemessung des Einzel-GdB und des Gesamt-GdB nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. 3. Diesbezüglich hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. 4. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ebenso einbezogen worden wie in die seit dem 01.01.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung .

Der Antrag des Klägers, ihm für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. Oktober 2016 Prozesskostenhilfe zu gewähren und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ; SGB IX § 69 ;

Gründe:

I

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 ab dem 30.11.2009.

Bei dem Kläger war zuletzt ein GdB von 70 festgestellt worden aufgrund von Funktionsbehinderungen an der Wirbelsäule, einer Persönlichkeitsstörung und posttraumatischen Belastungsstörung, einer Muskeldurchtrennung am rechten Oberschenkel mit Bewegungseinschränkungen und Instabilität am rechten Kniegelenk, Funktionseinschränkung an beiden Hüftgelenken und in den Fuß- und Zehengelenken beidseits, Gicht mit Gelenkbeteiligung und Schwerhörigkeit beidseits sowie Tinnitus (Bescheid vom 3.9.2007).

Den Verschlimmerungsantrag des Klägers lehnte der Beklagte nach medizinischen Ermittlungen ab (Bescheid vom 15.3.2010, Widerspruchsbescheid vom 6.7.2010). Das SG hat die dagegen erhobene Klage des Klägers nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte sowie eines psychosomatisch/psychotherapeutischen Fachgutachtens aus einem parallelen Rechtsstreit (S 39 VE 17/10) und Einholung weiterer Gutachten auf orthopädischem und rheumatologischem Fachgebiet abgewiesen (Urteil vom 11.11.2014). Das LSG hat ein weiteres Gutachten auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet nebst weiteren Stellungnahmen der den Kläger begutachtenden Sachverständigen eingeholt und mit Einverständnis des Klägers ein weiteres orthopädisches Gutachten aus einem parallelen Verfahren (L 9 VE 1/15) beigezogen und sodann die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 17.10.2016). Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse zu den Feststellungen im Bescheid vom 3.9.2007 iS von § 48 SGB X könne nicht festgestellt werden, da die Änderung der Behinderungsbezeichnung oder das Hinzutreten weiterer Teilbehinderungen ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB allein noch keine wesentliche Änderung in diesem Sinne darstellten. Die Auswirkungen der psychischen Erkrankung bei dem Kläger seien mit einem Einzel-GdB von 50 für eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit zwanghaften und schizoiden Zügen sowie eine posttraumatische Belastungsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung hinreichend bewertet. Darüber hinaus leide der Kläger an einer starken Funktionsstörung der Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule sowie an leichten bis mäßigen Funktionsstörungen der Halswirbelsäule bei degenerativen Veränderungen, die mit einem GdB von 40 zu bewerten seien. Selbst beim Vorliegen einer rheumatischentzündlichen Erkrankung habe diese beim Kläger geringe Auswirkungen, sodass der EinzelGdB von 40 auch der Bewertung der Funktionseinschränkungen an den Bewegungsorganen ohne rheumatisch-entzündliche Erkrankungen entspreche. Die Kreissägenverletzung am rechten Oberschenkel bedinge einen Einzel-GdB von 10, ohne dass nennenswerte weitergehende Funktionsstörungen am rechten Kniegelenk oder Oberschenkel vorlägen. Zu Recht sei daher zur Überzeugung des Senats nach den übereinstimmenden Einschätzungen der medizinischen Sachverständigen Dr. R. und Dr. T. einen Gesamt-GdB von 70 festzustellen.

Mit seinem Prozesskostenhilfe(PKH)-Antrag macht der Kläger geltend, dass seine gesundheitlichen Einschränkungen zu einem GdB von 100 führten und vom LSG nicht ausreichend gewürdigt worden seien.

II

Der PKH-Antrag des Klägers ist unbegründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO ). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es hier. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG ) in der Lage wäre, die von dem Kläger angestrebte Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.

Hinreichende Erfolgsaussicht hätte die Nichtzulassungsbeschwerde nur, wenn einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Die Revision darf danach zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ), das Urteil von einer Entscheidung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Nach Durchsicht der Akten fehlen - auch unter Würdigung des Vorbringens des Klägers - Anhaltspunkte dafür, dass er einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnte.

Der Rechtssache kommt ersichtlich keine grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) zu, weil sie keine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur hier streitigen Feststellung des GdB gibt es hinreichende Rechtsprechung des BSG . Danach kommt es bei der Bemessung des Einzel-GdB und des Gesamt-GdB nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Diesbezüglich hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ebenso einbezogen worden wie in die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung . Die Feststellung des GdB ist dabei in einen rechtlichen Rahmen eingebettet, den das Tatsachengericht zwingend zu beachten hat. Rechtlicher Ausgangspunkt ist stets § 69 Abs 1 , 3 und 4 SGB IX . AHP und VG setzen die gesetzlichen Vorgaben um, wobei insbesondere auch medizinische Sachkunde zum Tragen kommt (vgl zB Senatsbeschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris RdNr 5 und 6). Diese Vorgaben hat das LSG in der angefochtenen Entscheidung nach überschlägiger Prüfung eingehalten, sodass keine Anhaltspunkte für eine Zulassung des Verfahrens zur Revision aufgrund einer grundsätzlichen Bedeutung vorliegen.

Ferner weicht die Entscheidung des LSG nicht von einer Entscheidung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG ab, weshalb auch eine Divergenzrüge keine Aussicht auf Erfolg verspricht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Das LSG hat sich vielmehr ersichtlich an der Rechtsprechung des BSG orientiert.

Schließlich kann nach Aktenlage und dem Vorbringen des Klägers auch kein Verfahrensmangel des LSG geltend gemacht werden, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Soweit der Kläger eine unzureichende Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG ) rügen wollte, ist zu berücksichtigen, dass die Nichtzulassungsbeschwerde auf einen solchen Verfahrensmangel nur gestützt werden kann, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ). Danach muss ein Beteiligter im Berufungsverfahren einen Beweisantrag gestellt und bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG aufrechterhalten haben (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 67 S 73 f; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5, Nr 13 RdNr 11). Bei Personen, die wie der Kläger nicht von einem berufsmäßigen Prozessbevollmächtigten vertreten worden sind, sind nach Form, Inhalt, Formulierung und Präzisierung verminderte Anforderungen an einen Beweisantrag zu stellen (vgl BSG Beschluss vom 28.9.2015 - B 9 SB 21/15 B - Juris RdNr 7). Ein derartiger Beweisantrag des Klägers ist hier nicht ersichtlich. Die bloße Kritik an der behaupteten fehlerhaften Tatsachenfeststellung des LSG legt kein weiteres Beweisbegehren dar, sondern kritisiert nur die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG ), womit nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG keine Revisionszulassung erreicht werden kann. Das LSG war auch in Anbetracht der Regelungen in § 106 Abs 1 und § 112 SGG bei dieser Sachlage nicht verpflichtet, auf die Stellung eines Beweisantrages hinzuwirken (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 13).

Soweit der Kläger eine überlange Verfahrensdauer vor dem LSG rügt, übersieht er, dass durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine gesonderte Regelung hierzu getroffen worden ist und er in einem gesonderten Verfahren darzulegen hat, rechtzeitig eine Verzögerungsrüge erhoben und einen Anspruch nach § 198 GVG klageweise geltend gemacht zu haben. Hier dagegen wäre die Darlegung erforderlich, weshalb neben der neu geschaffenen Entschädigungsregelung gleichwohl die vermeintliche Überlänge des Verfahrens noch einen Verfahrensmangel begründen könnte, der im vermeintlich überlangen Ausgangsverfahren mit der Revision gerügt werden kann (vgl BSG Beschluss vom 15.10.2015 - B 9 V 15/15 B - Juris RdNr 9). Hierfür sind nach Aktenlage und unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers keine Anhaltspunkte ersichtlich.

Entsprechend verhält es sich mit einer möglichen Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs (vgl § 62 SGG ). Mit dieser kann ein Beteiligter nur dann durchdringen, wenn er vor dem LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich Gehör zu verschaffen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG , 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 11d mwN). Eine solche Rügemöglichkeit ist hier nicht ersichtlich, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nochmals Gelegenheit hatte, umfangreich vorzutragen.

Soweit der Kläger im Übrigen die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG ) kritisiert, kann er damit gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein keine Revisionszulassung erreichen. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzutreffende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

Da dem Kläger keine PKH zusteht, kann er auch nicht die Beiordnung eines Rechtsanwalts beanspruchen (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 114 , 121 ZPO ).

Vorinstanz: LSG Sachsen, vom 17.10.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 9 SB 277/14
Vorinstanz: SG Dresden, - Vorinstanzaktenzeichen S 13 SB 332/10