Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BSG - Entscheidung vom 01.06.2017

B 10 ÜG 12/16 BH

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1
GVG § 198 Abs. 6 Nr. 1
GG Art. 19 Abs. 4

BSG, Beschluss vom 01.06.2017 - Aktenzeichen B 10 ÜG 12/16 BH

DRsp Nr. 2017/9222

Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens Grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache Hauptsacheverfahren und Eilverfahren als eigenständige Verfahren Erhebung von Gerichtsgebühren

1. Die Frage, ob ein denselben Streitgegenstand betreffendes Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und das entsprechende Hauptsacheverfahren hinsichtlich der Beurteilung, ob das Verfahren verzögert sei, eine Einheit bildeten oder ob jedes Verfahren einzeln zu betrachten sei, ist nicht grundsätzlich klärungsbedürftig. 2. Vielmehr zählt § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG das Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz als spezielle Verwirklichung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gesondert als eigenständiges Verfahren auf. 3. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist es mit dem Justizgewährungsanspruch vereinbar, für die Inanspruchnahme der Gerichte Gebühren in Anknüpfung an den Streit- oder Gegenstandswert zu erheben, solange das Kostenrisiko nicht in einem derartigen Missverhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert des Verfahrens steht, dass eine Anrufung der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheint und sich damit die Beschreitung des Rechtswegs sich zumindest für Unbemittelte als praktisch unmöglich darstellt.

Der Antrag der Kläger, ihnen für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. September 2016 Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt Dr. C., beizuordnen, wird abgelehnt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 ; GVG § 198 Abs. 6 Nr. 1 ; GG Art. 19 Abs. 4 ;

Gründe:

I

Mit dem angefochtenen Urteil hat das LSG als Entschädigungsgericht einen Anspruch der Kläger auf Entschädigung wegen der Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem SG Köln abgelehnt. Das Verfahren habe nicht unangemessen lange iS von § 198 Abs 1 GVG gedauert. Die Zeiten ohne erkennbare aktive Förderung des Rechtsstreits durch das SG lägen unter zwölf Kalendermonaten und damit noch innerhalb der jedem Gericht pro Instanz zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit. Dieser Zeitraum sei auch nicht aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu kürzen.

Die Kläger haben für die beabsichtigte Erhebung einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Der Rechtsstreit habe grundsätzliche Bedeutung, zudem habe das LSG Verfahrensfehler begangen.

II

Der PKH-Antrag der Kläger ist unbegründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO ). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es hier. Es ist nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 73 Abs 4 SGG ) in der Lage wäre, die von den Klägern angestrebte Nichtzulassungsbeschwerde erfolgreich zu begründen.

Hinreichende Erfolgsaussicht hätte die Nichtzulassungsbeschwerde nur, wenn einer der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe mit Erfolg geltend gemacht werden könnte. Die Revision darf danach zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ), das Urteil von einer Entscheidung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Nach Durchsicht der Akten fehlen - auch unter Würdigung des Vorbringens der Kläger - Anhaltspunkte dafür, dass sie einen der in § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe darlegen könnten.

Die Sache bietet keine Hinweise für eine über den Einzelfall der Kläger hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ). Die von den Klägern aufgeworfene Frage,

ob ein denselben Streitgegenstand betreffendes Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und das entsprechende Hauptsacheverfahren hinsichtlich der Beurteilung, ob das Verfahren verzögert sei, eine Einheit bildeten oder ob jedes Verfahren einzeln zu betrachten sei,

erscheint nicht grundsätzlich klärungsbedürftig. Vielmehr zählt § 198 Abs 6 Nr 1 GVG das Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz als spezielle Verwirklichung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 GG gesondert als eigenständiges Verfahren auf (vgl Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlanger Gerichtsverfahren, Teil 2 A § 198 GVG RdNr 41).

Soweit die Kläger es im Zusammenhang damit für klärungsbedürftig halten, ob umfangreiche Sachverhaltsermittlungen, die das SG bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren durchgeführt hat, im Hauptsacheverfahren als Vorbereitungs- und Bedenkzeit berücksichtigt werden können, erschließt sich weder, warum es sich dabei um eine über den Einzelfall hinausweisende allgemeine Rechtsfrage handeln könnte, noch, warum diese im konkreten Fall entscheidungserheblich sein sollte. Das LSG hat in seinem Urteil nachvollziehbar ausgeführt, während des nur zwei Monate währenden Eilverfahrens sei es dem SG unmöglich gewesen, sich mit allen rechtlichen und tatsächlichen Problemen des Hauptsacheverfahrens zu beschäftigen.

Ebenso wenig ersichtlich ist eine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit hinsichtlich der Frage, ob für das Entschädigungsverfahren Gerichtsgebühren verlangt werden dürfen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist es mit dem Justizgewährungsanspruch vereinbar, für die Inanspruchnahme der Gerichte Gebühren in Anknüpfung an den Streit- oder Gegenstandswert zu erheben, solange das Kostenrisiko nicht in einem derartigen Missverhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert des Verfahrens steht, dass eine Anrufung der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheint und sich damit die Beschreitung des Rechtswegs sich zumindest für Unbemittelte als praktisch unmöglich darstellt (BVerfG Beschluss vom 12.2.1992 - 1 BvL 1/89 - BVerfGE 85, 337 , 347; BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 19.3.2014 - 1 BvR 2169/13 - Juris mwN). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR ist das Recht auf ein Gericht nach Art 6 Abs 1 S 1 EMRK kein absolutes Recht, sondern kann Einschränkungen unterliegen, wenn diese ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind ( EGMR Urteil vom 30.6.2016 - 56778/10 - Juris). Die Erhebung von Gerichtsgebühren ist daher nicht grundsätzlich konventionswidrig (vgl EGMR Urteil vom 22.3.2012 - 19508/07 - Juris), solange sie keine unverhältnismäßige Höhe erreichen (vgl EGMR Urteil vom 16.11.2010 - 24768/06 - Beschwerdesache Perdigao ./. Portugal).

Auch ist nicht ersichtlich, dass das LSG entscheidungstragend von Rechtsprechung des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG abgewichen sein könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ).

Schließlich fehlt ein ausreichender Anhalt dafür, dass die Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnten (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Mögliche entscheidungsrelevante Verfahrensmängel sind hier nicht ersichtlich. Soweit die Kläger im Zusammenhang mit der verwehrten PKH-Gewährung durch das LSG sinngemäß eine Verletzung ihres Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 iVm Art 20 GG ) rügen, schließt § 177 SGG ihre Rüge gegen die unanfechtbare Ablehnung der PKH-Gewährung grundsätzlich aus (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 48). Anzeichen für eine im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde allein relevante willkürliche PKH-Verweigerung durch das LSG vermag der Senat nicht zu erkennen; vielmehr legen die Kläger selber dar, das LSG habe das PKH-Begehren ausführlich - wenn auch nach ihrer Ansicht mit unrichtigem Ergebnis - inhaltlich geprüft. Belege für ihren Vorwurf, damit habe das LSG die Entscheidung in der Hauptsache in das PKH-Verfahren verlagert und so die Anforderungen an die Erfolgsaussichten überspannt (vgl BVerfGE 81, 347 , 356 ff), finden sich nicht. Weder hat das LSG in seiner PKH-Entscheidung über schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen entschieden, noch hat es das Ergebnis einer möglichen Beweiserhebung vorweggenommen. Im Übrigen kann der Umstand, dass die Kläger eine unzulässige Einflussnahme des Beklagten auf die Entscheidung über den PKH-Antrag nicht ausschließen, als bloße Vermutung eine Annahme von Willkür ebenso wenig begründen wie eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren.

Soweit die Kläger vortragen, der geschäftsplanmäßige Vorsitzende Richter des 11. Senats sei von Gesetzes wegen vom Verfahren ausgeschlossen gewesen, so hat dieser Richter nach ihrem eigenen Vortrag an der mündlichen Verhandlung und am Urteil selber gerade nicht mitgewirkt, sondern lediglich im Vorfeld Ladungen verfügt. Nach § 202 SGG iVm § 547 Nr 2 ZPO liegt der absolute Revisionsgrund der fehlerhaften Besetzung des Spruchkörpers aber nur vor, wenn der von Gesetzes wegen ausgeschlossene Richter bei der Entscheidung selbst mitgewirkt hat. Diese Regelung betrifft nur die Mitwirkung bei der Entscheidung über die Hauptsache, nicht bei vorausgehenden Verfügungen (Zeihe, SGG , Stand August 2016, Anhang 8, § 547 RdNr 5). Die Revisionsgründe des § 547 ZPO sind grundsätzlich abschließend und können daher nicht im Wege der Auslegung ergänzt werden (BSGE SozR 3-1500 § 160a Nr 5).

Soweit die Kläger meinen, die Übergabe einer schriftlichen Übersicht in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG über die Aktivitäten des SG im Ausgangsverfahren stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, weil sie sich ohne Vertagung dazu nicht hätten äußern können, erschließt sich nicht, warum die offenbar prozesserfahrenen Kläger den Ablauf des von ihnen selber betriebenen Ausgangsverfahrens, das sie für zu lang hielten, nicht kannten bzw ihre Kenntnisse durch rechtzeitige Akteneinsicht nicht hätten auffrischen können.

Schließlich könnte auch eine unzutreffende Rechtsanwendung des LSG im Einzelfall der Kläger nicht mit Erfolg als Revisionszulassungsgrund gerügt werden (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10). Schon deshalb vermag die Kritik der Kläger an der Handhabung der Verfahrensrügen, der entschädigungsrechtlichen 12-Monats-Regel (vgl BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3) sowie an der Würdigung ihres Vortrags aus dem PKH-Verfahren durch das LSG eine hinreichende Erfolgsaussicht ihrer Beschwerde nicht zu begründen.

Da den Klägern keine PKH zusteht, können sie auch nicht die Beiordnung eines Rechtsanwalts beanspruchen (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 ZPO ).

Vorinstanz: LSG Nordrhein-Westfalen, vom 21.09.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 11 SF 216/15