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BSG - Entscheidung vom 17.08.2017

B 5 R 96/17 B

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 62

BSG, Beschluss vom 17.08.2017 - Aktenzeichen B 5 R 96/17 B

DRsp Nr. 2017/14448

Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör Verhinderung eines Vortrags

Der im GG verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt vielmehr auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt zwar grundsätzlich nicht, dass das Gericht vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist; auch ist ihm keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen. Es kommt jedoch im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis einen tatsächlichen oder rechtlichen Standpunkt einnimmt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, sodass er sein Verhalten nicht situationsspezifisch gestalten konnte.

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Februar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ; SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 ; SGG § 62 ;

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.5.2012 hinaus.

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 4.3.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1.9.2010 befristet bis zum 31.5.2012. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin, mit dem sie die dauerhafte Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15.12.2011).

Mit ihrer am 3.1.2012 beim SG Konstanz erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Zudem hat sie am selben Tag bei der Beklagten einen weiteren Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente über den 31.5.2012 hinaus gestellt, den diese mit Bescheid vom 2.5.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.9.2012 abgelehnt hat. Die Klägerin hat diese Bescheide in dem bereits anhängigen Klageverfahren ebenfalls angefochten.

Das SG hat verschiedene Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen und den Entlassungsbericht der S. Klinik A. vom 4.3.2013 über eine dortige stationäre Behandlung der Klägerin vom 30.10.2012 bis 28.12.2012 beigezogen. In dem Entlassungsbericht ist ausgeführt, dass eine Rückkehr der Klägerin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund des Beschwerdebildes - ua bei anhaltender somatoformer Schmerzstörung mit Ganzkörperschmerz sowie einer mittelgradigen depressiven Episode - und der bestehenden Einschränkungen aus ärztlicher und therapeutischer Sicht nicht möglich sei. Das SG hat daraufhin das Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. A. vom 2.5.2013 eingeholt. Diese ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin, die unter einer somatoformen Schmerzstörung und einer chronifizierten depressiven Störung im Sinne einer Dysthymie leide, noch leichte Tätigkeiten unter Beachtung verschiedener qualitativer Leistungseinschränkungen mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat das SG des Weiteren das Gutachten des Arztes für Innere Medizin und Rheumatologie Dr. H. vom 7.1.2014 eingeholt. Nach dessen Beurteilung besteht bei der Klägerin ua eine schwere chronische Schmerzerkrankung vom Fibromyalgie-Typ und eine ausgeprägte Herabgedrücktheit - vor allem im Gefolge der erheblichen Minderung von Aktivitäten und Teilhabe bei eher aktiver Primärpersönlichkeit. Die Klägerin sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen über das Geringfügige hinausgehenden Erwerb zu erzielen. Es bestehe bei Weitem kein Leistungsvermögen von drei Stunden arbeitstäglich oder mehr. Mit Urteil vom 18.5.2015 hat das SG die Klage gestützt auf das Gutachten Dr. A. abgewiesen; der Einschätzung des Sachverständigen Dr. H. sei nicht zu folgen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, somatoforme Schmerzstörungen seien ein wesentlicher Kernbereich nervenärztlicher Expertise, wohingegen das rheumatologische Fachgebiet nur dann tangiert werde, wenn sich Anhaltspunkte für eine entzündliche rheumatische Erkrankung fänden, was vorliegend nicht der Fall sei.

Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG von Amts wegen das Gutachten des Arztes für Neurologie, Schmerztherapie, Geriatrie und Rehabilitationswesen Prof. Dr. Sch. vom 4.11.2016 eingeholt. Der Sachverständige Prof. Dr. Sch. ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin ua an einer anhaltenden, hochgradig chronifizierten Schmerzstörung, einem chronischen multilokulärem Schmerzsyndrom und einer schweren Anpassungsstörung mit reaktiv depressiven Episoden leide. Auch leichte körperliche und geistige Tätigkeiten seien nicht mehr möglich. Ein positives Leistungsbild für jedwede Anforderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe nicht mehr. Die Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Klägerin bestehe - unter Zugrundelegung des Berichts der S. Klinik A. - seit März 2013, sicher jedoch ab dem Zeitpunkt der aktuellen Begutachtung. Das LSG hat das Gutachten der Klägerin zur Kenntnisnahme mit dem Hinweis übersandt, dass die Beklagte zur Stellungnahme aufgefordert worden sei. Nach deren Eingang und Erwiderung hierauf durch die Klägerin hat das LSG bei den Beteiligten angefragt, ob Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs 2 SGG ) bestehe, was diese bejaht haben.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 21.2.2017 hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Konstanz vom 18.5.2015 zurückgewiesen. Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.5.2012 hinaus zu. Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Bei der Klägerin lägen im Wesentlichen eine chronische Schmerzerkrankung sowie weitere Erkrankungen auf nervenärztlich/psychiatrischem Fachgebiet vor, die im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hauptsächlich von einem Nervenarzt/Psychiater fachärztlich zu beurteilen seien, was mit dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten Dr. A. geschehen sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem neurologisch-schmerztherapeutischen Gutachten Prof. Dr. Sch. vom 4.11.2016. Zwar komme dieser zu dem Ergebnis, dass das Leistungsvermögen der Klägerin auch für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollständig aufgehoben sei. Diese Einschätzung vermöge der Senat jedoch nicht zu teilen. Die von Prof. Dr. Sch. - der im Übrigen kein Facharzt für Psychiatrie sei - mitgeteilten Befunde stützten seine Leistungseinschätzung nicht. Die Befunde erklärten lediglich eine qualitative, nicht jedoch eine quantitative Leistungseinschränkung. Im Übrigen führe Prof. Dr. Sch. selbst aus, dass die Auswertung der Schmerz-Simulations-Skala ergeben habe, dass die Klägerin hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit im Grenzbereich zur Aggravation liege. Sofern der Sachverständige an dem Gutachten Dr. A. bemängele, dass sich dieses nicht ausreichend mit der Biographie der Klägerin auseinandergesetzt und die psychodynamischen Erschwernisse der Klägerin nicht gewertet habe, stelle er nicht überzeugend dar, weshalb Befunde, die für sich genommen lediglich zu einer qualitativen Leistungseinschränkung führten, allein aufgrund der von ihm benannten psychophysischen Faktoren eine quantitative Leistungseinschränkung begründen sollten. Insbesondere vermöge der Senat auch den von Prof. Dr. Sch. angesetzten Zeitpunkt der Leistungsminderung - März 2013 - nicht nachzuvollziehen, weil dieser nicht mit dem Entlassungsbericht der S. Klinik A. kompatibel sei, dem sich der Sachverständige aber angeschlossen habe. Zudem habe der Sachverständige selbst den genannten Zeitpunkt angezweifelt.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem ihr am 1.3.2017 zugestellten Urteil hat die Klägerin am 29.3.2017 Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf eine Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG , Art 103 Abs 1 GG ) durch Erlass einer Überraschungsentscheidung und einen Verstoß gegen § 103 SGG .

II

Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet.

Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG . Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von § 62 SGG , Art 103 Abs 1 GG verletzt.

Der im GG verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens (vgl BVerfGE 74, 1 , 4 f; 74, 220, 224). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des gerichtlichen Verfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl BVerfGE 84, 188 , 190; 86, 133, 144; 107, 395, 409). Art 103 Abs 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren daher, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl BVerfGE 1, 418 , 429; 66, 116, 146 f; 84, 188, 190; stRspr). An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl BVerfGE 84, 188 , 190 mwN; stRspr). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt vielmehr auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann (vgl BVerfGE 84, 188 , 190; 89, 28, 35; vgl für rechtliche Gesichtspunkte BVerfGE 86, 133 , 144). Art 103 Abs 1 GG verlangt zwar grundsätzlich nicht, dass das Gericht vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist (vgl BVerfGE 74, 1 , 5); auch ist ihm keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (vgl BVerfGE 66, 116 , 147). Es kommt jedoch im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis einen tatsächlichen oder rechtlichen Standpunkt einnimmt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188 , 190; 86, 133, 144 f), sodass er sein Verhalten nicht situationsspezifisch gestalten konnte (vgl BVerfGE 107, 395 , 409).

So verhält es sich hier. Die Auffassung des LSG, das Gutachten der Sachverständigen Dr. A. sei schlüssig und nachvollziehbar, wohingegen die Beurteilung des Prof. Dr. Sch. hinsichtlich seiner quantitativen Leistungseinschätzung und des Zeitpunkts der Leistungsminderung nicht schlüssig sei, war für die Klägerin in keiner Weise voraussehbar.

Dass das Berufungsgericht ein weiteres Sachverständigengutachten von Amts wegen eingeholt hat, konnte die Klägerin nur dahin verstehen, dass sich das LSG ohne weitere Hinzuziehung medizinischen Sachverstands nicht in der Lage sah, aufgrund der bisherigen Gutachten - und damit auch nicht auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens Dr. A. - über das Leistungsvermögen der Klägerin zu befinden. Das eingeholte Gutachten Prof. Dr. Sch., das in Übereinstimmung mit dem Entlassungsbericht der S. Klinik A. und dem Sachverständigengutachten Dr. H. ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin annimmt, ist dieser lediglich zur Kenntnisnahme übersandt worden. Ein Anlass für sie, ergänzend vorzutragen, hat weder aus diesem Grund noch unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens bestanden. Das LSG hätte bei dieser Ausgangslage der Klägerin zu erkennen geben müssen, dass und aus welchen Gründen es das Gutachten für unschlüssig hält. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Erklärung, der Sachverständige Prof. Dr. Sch. sei kein Facharzt für Psychiatrie, und die damit zum Ausdruck gebrachten Zweifel des Berufungsgerichts an der Fachkompetenz des Sachverständigen im Vergleich zu derjenigen der Ärztin für Psychiatrie Dr. A.. Diese Einschätzung war für die Klägerin umso weniger voraussehbar, als das LSG selbst den Sachverständigen Prof. Dr. Sch. ausgewählt hat, und dies trotz der Äußerung des SG , dass das Krankheitsbild der Klägerin vornehmlich nervenärztlich zu begutachten sei. Hätte das Berufungsgericht der Klägerin mit der Übersendung des Gutachtens Hinweise auf seine Zweifel an der Schlüssigkeit des Gutachtens erteilt, hätte die Klägerin insbesondere von ihrem Recht auf Anhörung des Sachverständigen, dh ihrem Fragerecht nach § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397 , 402 , 411 Abs 4 ZPO Gebrauch machen und den Sachverständigen zu den vom LSG angesprochenen, aus seiner Sicht zweifelhaften gutachterlichen Äußerungen befragen können. Durch die unterbliebenen Hinweise hat das Gericht einen entsprechenden Vortrag der Klägerin verhindert.

Bei einer Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. wäre nicht auszuschließen, dass eine für die Klägerin günstigere Entscheidung ergangen wäre.

Ob das Berufungsgericht darüber hinaus auch § 103 SGG verletzt hat, kann bei der gegebenen Rechtslage dahinstehen.

Zur Vermeidung weiterer Verzögerungen hat der Senat das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen (§ 160a Abs 5 SGG ).

Die Kostenentscheidung bleibt einer Entscheidung durch das LSG vorbehalten.

Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, vom 21.02.2017 - Vorinstanzaktenzeichen 13 R 3378/15
Vorinstanz: SG Konstanz, vom 18.05.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 4 R 23/12