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BGH - Entscheidung vom 07.06.2017

2 StR 474/16§

Normen:
StGB § 20
StGB § 21

BGH, Beschluss vom 07.06.2017 - Aktenzeichen 2 StR 474/16§

DRsp Nr. 2017/15609

Rechtsfehlerhafte Ablehnung des Vorliegens einer kombinierten Persönlichkeitsstörung; Auswirkungen einer fehlerhaften Persönlichkeitsbewertung für die Strafzumessung im engeren Sinn

Für die Unterscheidung zwischen strafrechtlich nicht relevanten Auffälligkeiten und einer psychopathologischen Persönlichkeitsstörung gibt es eine Vielzahl diagnostischer Kriterien. Das sachverständig beratene Gericht hat alle festgestellten Anknüpfungstatsachen und Untersuchungsergebnisse in einer Gesamtschau zu prüfen, um danach zu entscheiden, ob ein psychopathologischer Befund vorliegt und dieser gegebenenfalls das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20 , 21 StGB erreicht.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 10. Juni 2016 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3.

Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Normenkette:

StGB § 20 ; StGB § 21 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts trainierte der Angeklagte am 16. August 2015 in einem Fitnesscenter in M. ; anschließend trank er dort acht Flaschen Bier und ließ die Zeche anschreiben. Gegen 19.30 Uhr wollte er an einer Tankstelle einen Kasten Bier kaufen, hatte aber nur zehn Euro zur Verfügung. Sein Versuch, an einem Bankautomaten Geld abzuheben, misslang mangels Guthabens. Daher kaufte der Angeklagte fünf Flaschen Bier und hatte danach 2,75 Euro Bargeld übrig. Gleichwohl wollte er später nach W. fahren, um sich Amphetamin zu beschaffen. Sein Versuch, Bekannte zu erreichen, um sich von ihnen die notwendigen Mittel zu beschaffen, schlug fehl. Gleichwohl bestellte er sich um 21.55 Uhr telefonisch ein Taxi. Er steckte sich ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 15 cm in den Hosenbund, weil er den Taxifahrer berauben wollte. Mit der Beute hätte er den Drogenkauf finanzieren und durch den Überfall zugleich die Geltendmachung der Fahrpreisforderung durch den Taxifahrer verhindern können.

Gegen 22.20 Uhr fuhr Z. den Angeklagten mit seinem Taxi nach W. . Unterwegs verwarf der Angeklagte den Gedanken an einen Raubüberfall. Bei Fahrtende am Marktplatz in W. verlangte der Taxifahrer die Zahlung von 89,90 Euro. Der Angeklagte erklärte ihm, dass er nicht bar zahlen könne und bot eine Zahlung mit der Bank- oder Kreditkarte an. Weil der Taxifahrer dies ablehnte, täuschte der Angeklagte vor, in einer Filiale der Kreissparkasse Geld abheben zu wollen. Dabei wusste er, dass er am Bankautomaten kein Geld erlangen konnte. Er wollte den Aufenthalt in der Sparkassenfiliale nutzen, um über seine Situation nachzudenken. Dort verfiel er auf den Gedanken, den Taxifahrer zu einer Stundung zu veranlassen und nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz. Der Angeklagte erklärte ihm, dass er am Geldautomaten kein Geld habe abheben können, und schlug vor, seinen Personalausweis zurückzulassen und den Fahrpreis am nächsten Tag zu bezahlen. Alsbald erschien der Taxifahrer O. am Marktplatz, den der Angeklagte kannte. Z. winkte O. herbei. Der Angeklagte bat diesen darum, einen ihm bekannten anderen Taxifahrer zu benachrichtigen, damit dieser für ihn bürge. Dieser weitere Taxifahrer war aber nicht erreichbar. O. empfahl seinem Kollegen Z. , mit dem Angeklagten zur Polizei zu fahren, um dessen Personalien feststellen zu lassen; alternativ schlug er vor, mit dem Angeklagten zu einer Tankstelle zu fahren, wo dieser versuchen solle, mit der Bankkarte Geld abzuheben. Dann entfernte sich O. , weil ein Fahrgast erschien.

Z. fuhr los, hielt aber nach wenigen Metern wieder an, um die Situation erneut mit dem Angeklagten zu besprechen. Der Angeklagte wollte auf keinen Fall zur Polizei gebracht werden, weil er davon ausging, dass dort eine Strafanzeige gegen ihn wegen Betruges erstattet werden würde. Unter dem Einfluss seiner Alkoholisierung geriet er in einen affektiven Erregungszustand. Er zog das Küchenmesser und stach auf den Taxifahrer ein, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nahm. Z. wurde von dem Angriff überrascht. Bereits der erste Stich traf ihn in den Hals. Weitere Stiche konnte er abwehren, indem er den Arm des Angeklagten packte, der sich aber losriss. Z. öffnete die Fahrertür und fiel mit dem Oberkörper rückwärts aus dem Taxi. Der Angeklagte stach weiter auf ihn ein. Er brachte dem Opfer insgesamt zwanzig Stich- und Schnittverletzungen bei. Z. richtete sich neben dem Taxi auf und rief um Hilfe. Der Angeklagte floh zu Fuß vom Tatort, wo Z. verblutete.

Bei der Begehung der Tat war das Hemmungsvermögen des Angeklagten aufgrund eines hochgradigen Affekts erheblich vermindert.

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet, soweit sie sich gegen den Schuldspruch wegen Totschlags richtet. Sie führt aber zur Aufhebung des Strafausspruchs.

Die Ablehnung des Vorliegens einer kombinierten Persönlichkeitsstörung ist rechtsfehlerhaft, was für die Strafzumessung im engeren Sinn von Bedeutung sein kann, auch wenn § 21 StGB aus anderen Gründen angewendet wurde.

1. Das Landgericht ist - anders als die von ihm angehörte Sachverständige - davon ausgegangen, dass eine Persönlichkeitsstörung beim Angeklagten nicht vorliege. Dauerhaft wiederkehrende stereotype Verhaltensmuster seien nicht feststellbar. Die bisherige Delinquenz des Angeklagten habe eher geringfügigen Charakter gehabt. Eine andauernde Missachtung sozialer Regeln und Normen sei nicht festzustellen. Es habe Zeiträume ohne Auffälligkeiten gegeben. Auch hätten die den Angeklagten während eines Klinikaufenthalts behandelnden Ärzte die Annahme einer Persönlichkeitsstörung nicht geteilt. Aus ihrer Sicht hätte es bei Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung zu Konflikten mit Mitpatienten und dem Pflegepersonal kommen müssen.

2. Diese Überlegungen tragen nicht.

a) Der Strafrichter ist zwar nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen. Jedoch muss ein Tatrichter, der in einer schwierigen Frage den Rat eines Sachverständigen in Anspruch genommen hat und der diese Frage im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten will, die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben (vgl. Senat, Urteil vom 16. Dezember 1992 - 2 StR 440/92, BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5). Daran fehlt es.

b) Außerdem sind die Überlegungen des Landgerichts dazu, dass entgegen der Auffassung der Sachverständigen keine kombinierte Persönlichkeitsstörung vorliege, lückenhaft.

aa) Für die Unterscheidung zwischen strafrechtlich nicht relevanten Auffälligkeiten und einer psychopathologischen Persönlichkeitsstörung gibt es eine Vielzahl diagnostischer Kriterien (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45 , 50 f.). Das sachverständig beratene Gericht hat alle festgestellten Anknüpfungstatsachen und Untersuchungsergebnisse in einer Gesamtschau zu prüfen, um danach zu entscheiden, ob ein psychopathologischer Befund vorliegt und dieser gegebenenfalls das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20 , 21 StGB erreicht.

bb) Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Landgericht einzelne Aspekte überbewertet und andere zu Unrecht vernachlässigt hat.

Der Angeklagte war schon als Schüler durch aggressive Ausbrüche aufgefallen. Er hatte Suizidabsichten geäußert. Nach einem Streit mit der Mutter hatte er ihr Nagellackentferner ins Essen gemischt. Er war als Jugendlicher ohne Fahrerlaubnis Auto gefahren. Er hatte ein Berufspraktikum abgebrochen. Aus einer American-Football-Mannschaft war er wegen eines aggressiven Ausbruchs ausgeschlossen worden. Er hatte Alkohol und Drogen konsumiert und lebte von Arbeitslosengeld. Er konnte im Berufsleben nicht Fuß fassen. Gegenüber Freundinnen war er aggressiv und handgreiflich geworden. Von März 2014 bis März 2015 befand er sich in psychiatrischer Behandlung; die ihm verordneten Medikamente nahm er unregelmäßig oder gar nicht ein. Im August und September 2014 befand er sich wegen Halluzinationen in stationärer Behandlung. Straftaten führten zu sieben Eintragungen im Bundeszentralregister. Angesichts dieser Umstände liegt die Diagnose einer - kombinierten - Persönlichkeitsstörung nicht fern, die auch durch das Ergebnis einer testpsychologischen Untersuchung bestätigt wurde. Darauf gehen die Urteilsgründe nicht ein.

Der Einwand des Landgerichts, es sei zu symptomfreien Phasen gekommen, lässt unberücksichtigt, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung kein ununterbrochenes Vorliegen von Symptomen voraussetzt. Zeitweilige Unauffälligkeit des Angeklagten kann auch auf ärztliche Behandlung zurückzuführen sein. Zur Tatzeit war er erst zweiundzwanzig Jahre alt, sodass nicht von langen Zeiträumen der Unauffälligkeit die Rede sein kann.

Die Einschätzung der vom Landgericht als Zeugen gehörten Ärzte der L. -Klinik, in der sich der Angeklagte vom 11. August bis 10. September 2014 und vom 14. bis 19. September 2014 wegen akustischer Halluzinationen und Verfolgungsideen befand, widerlegt die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nicht. Anlass für diese Klinikaufenthalte war jedenfalls ein psychopathologischer Befund, dessen alleinige Verursachung durch Drogenkonsum nicht festgestellt ist. Auch eine - kombinierte - Persönlichkeitsstörung kann solche Symptome verursachen. Das Ausbleiben von Konflikten mit Mitpatienten oder Klinikpersonal während der zeitlich begrenzten stationären Behandlung des Angeklagten besagt ebenfalls noch nicht, dass entgegen den sonst zu verzeichnenden Auffälligkeiten bei ihm keine Persönlichkeitsstörung vorlag.

Vorinstanz: LG Köln, vom 10.06.2016