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BVerwG - Entscheidung vom 22.08.2016

1 B 95.16, 1 PKH 75.16, 1 VR 4.16

Normen:
VO (EG) Nr. 343/2003 Art. 20 Abs. 2

BVerwG, Beschluss vom 22.08.2016 - Aktenzeichen 1 B 95.16, 1 PKH 75.16, 1 VR 4.16

DRsp Nr. 2016/17062

Nachweis des Vorliegens systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren

In einem Fall, in dem das Verwaltungsgericht vor Ablauf der 6-Monats-Frist des Art. 20 Abs. 1 Dublin II-VO im Wege der einstweiligen Anordnung zwar nicht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Überstellungsentscheidung angeordnet hat, wohl aber der Behörde aufgegeben hat, Maßnahmen zur Abschiebung bzw. Überstellung vorläufig auszusetzen, endet die Überstellungsfrist - wenn und solange die Überstellung (weiter) ausgesetzt ist - erst sechs Monate nach rechtskräftiger Beendigung des Hauptsacheverfahrens oder sechs Monate, nachdem die aufschiebende Wirkung bzw. die Aussetzung von Maßnahmen der Abschiebung wieder entfallen ist.

Tenor

Der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Juni 2016 und der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes werden zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie des Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

Normenkette:

VO (EG) Nr. 343/2003 Art. 20 Abs. 2;

Gründe

1. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung - wie sich aus den nachstehenden Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 , 121 Abs. 1 ZPO ).

2. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) liegt nicht vor.

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO , wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - [...]).

a) Die Klägerin wirft zunächst als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf,

"ob in Italien sog. systemische Mängel im Asylverfahren vorliegen, die die Beklagte dazu verpflichten, von einer Überstellung in dieses Land abzusehen und sie dazu verpflichten, keine Abschiebungsanordnung in dieses Land zu erlassen;

und die sie dazu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach der Dublin III-VO Gebrauch zu machen und das Asylverfahren im Bundesgebiet durchzuführen."

Mit dem Vorbringen zur Aufnahmepraxis für Asylbewerber in Italien zeigt die Beschwerde keine klärungsbedürftigen Fragen des revisiblen Rechts auf. Denn das Beschwerdevorbringen zielt nicht auf eine Rechtsfrage, sondern auf die dem Tatrichter vorbehaltene prognostische Würdigung, ob der Klägerin infolge der angeordneten Abschiebung nach Italien dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Die Beschwerde greift damit der Sache nach die vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu den Prognosegrundlagen sowie die darauf aufbauende Prognose als Teil der Beweiswürdigung an und stellt dem ihre eigene Einschätzung der Sachlage entgegen, ohne insoweit eine konkrete Rechtsfrage aufzuzeigen. Damit kann sie die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht erreichen (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 - [...] m.w.N.). Klärungsbedürftige Fragen zum rechtlichen Maßstab, an dem das Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO zu messen ist, wirft die Beschwerde nicht auf.

b) Soweit die Klägerin ferner für grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet,

"ob die Zuständigkeit für die Bearbeitung eines Asylantrags gem. Art. 20 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO auch dann auf die Beklagte übergeht, wenn

- zwar die Frist von sechs Monaten zur Überstellung nach Annahme des Antrags bereits ohne erfolgter Überstellung abgelaufen ist,

- jedoch eine Klage erhoben wurde und das Gericht im Wege des Eilrechtsschutzes die Überstellung in den anderen Dublin-Staat bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren ausgesetzt hat, so dass die Überstellung deswegen innerhalb der sechs Monate nach Annahme der Überstellungszusage nicht möglich war."

kann auch dies nicht zur Zulassung der Revision führen.

Denn diese Frage ist, soweit sie rechtsgrundsätzlicher Klärung zugänglich ist, bereits anhand des Gesetzes unter Berücksichtigung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beantworten.

Der hier noch anwendbare Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO bestimmt, dass der originär zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten nach Art. 20 Abs. 1 Dublin II-VO durchgeführt wird. Nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO ist eine Überstellung durchzuführen, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (1. Variante) oder der Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat (2. Variante). Dabei beginnt die Frist der 2. Variante nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erst zu laufen, wenn sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird und lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben, d.h. ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die der Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 [ECLI:EU:C:2009:41], Petrosian - Rn. 43 ff.). Daraus folgt, dass die Überstellungsfrist grundsätzlich nach der 1. Variante mit der Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch den ersuchten Mitgliedstaat anläuft und die 2. Variante erst greift, wenn eine Überstellungsentscheidung erlassen wurde und einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf nach nationalem Recht aufschiebende Wirkung zukommt. Zugleich ergibt sich aus Sinn und Zweck der in die 2. Variante aufgenommenen Beschränkung auf einen Rechtsbehelf, der aufschiebende Wirkung hat, dass bei dieser Variante der Beginn der Überstellungsfrist nur so lange herausgeschoben wird, wie die Überstellungsentscheidung wegen eines Rechtsbehelfs nicht vollzogen werden darf. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem das Verwaltungsgericht vor Ablauf der 6-Monats-Frist im Wege der einstweiligen Anordnung zwar nicht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Überstellungsentscheidung angeordnet hat, wohl aber der Beklagten aufgegeben hat, Maßnahmen zur Abschiebung bzw. Überstellung vorläufig auszusetzen, endet die Überstellungsfrist - wenn und solange die Überstellung (weiter) ausgesetzt ist - erst sechs Monate nach rechtskräftiger Beendigung des Hauptsacheverfahrens oder sechs Monate, nachdem die aufschiebende Wirkung bzw. die Aussetzung von Maßnahmen der Abschiebung wieder entfallen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 - und vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 - [...] sowie Beschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 - [...]).

3. Mit der Zurückweisung der Beschwerde ist für den weiterhin begehrten vorläufigen Rechtsschutz kein Raum mehr.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO ; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG ; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 21.06.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 13 A 990/13