Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerwG - Entscheidung vom 10.08.2016

1 B 82.16 (1 PKH 76.16)

Normen:
BVFG § 15 Abs. 1
BVFG § 15 Abs. 2
BVFG § 100a Abs. 1

BVerwG, Beschluss vom 10.08.2016 - Aktenzeichen 1 B 82.16 (1 PKH 76.16)

DRsp Nr. 2016/16533

Auswirkungen des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes auf die Aufnahmeverfahren

Art. 2 Nr. 2. a) des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom 7. November 2015 ist einer einschränkenden Auslegung dahingehend, dass § 100a Abs. 1 BVFG 2001 trotz Streichung weiterhin ganz oder teilweise anzuwenden ist, nicht zugänglich. Auch soweit sich die Einschätzung, dass sich der Zweck der Norm erledigt habe, als tatsächlich unzutreffend erwiesen hat, berechtigt dies die Judikative auch dann nicht, sich über den eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers, die Vorschrift aufzuheben, hinwegzusetzen, wenn sie auf einem offenkundigen Irrtum des Gesetzgebers beruhte und etwa die durch die eindeutig gewollte Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 bewirkten Rechtsfolgen von dem Gesetzgeber nicht gewollt gewesen wären. Der Gesetzgeber hat vielmehr selbst tätig zu werden, falls er seine irrtümliche Vorstellung, dass die Norm keinen Anwendungsbereich mehr hat, korrigieren will.

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. April 2016 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Normenkette:

BVFG § 15 Abs. 1 ; BVFG § 15 Abs. 2 ; BVFG § 100a Abs. 1 ;

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) liegt nicht vor.

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO , wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - [...]).

Die Beschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

"ob die Streichung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 durch Art. 2 Nr. 2a des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom 07.11.2015 dazu geführt hat, dass nunmehr in noch offenen Bescheinigungsverfahren nach § 15 Abs. 1 BVFG von Antragstellern, die vor dem 07.09.2001 im Wege des Aufnahmeverfahrens nach Deutschland übergesiedelt sind und denen hier antragsgemäß oder ohne förmliche bestandskräftige Ablehnung eines Antrags auf Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ausgestellt wurde, nicht mehr auf die ab dem 07.09.2001 geltende, sondern auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Übersiedlung nach Deutschland abzustellen ist,

oder

ob § 100a Abs. 1 BVFG 2001 trotz Streichung der Vorschrift durch den Gesetzgeber in den vorgenannten Fällen weiterhin anzuwenden ist."

Dies rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Denn die aufgeworfene Frage kann bereits anhand des Gesetzes unter Berücksichtigung der anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden.

Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Gerichte sind kraft der Bindungswirkung einschlägig gültiger Normen zu deren Anwendung verpflichtet, dürfen sich über ihre Gesetzesbindung nicht hinwegsetzen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG ) schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - NJW 2012, 669 = [...] Rn. 44 und vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15 - [...] Rn. 36, jeweils m.w.N.).

Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird (BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286 <306> und Kammerbeschluss vom 26. September 2011 - 2 BvR 2216/06, 2 BvR 469/07 - NJW 2012, 669 = [...] Rn. 46). Der Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15 - [...] Rn. 37 m.w.N.). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Er hat hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 918/10 - BVerfGE 128, 193 = [...] Rn. 53, Kammerbeschlüsse vom 3. März 2015 - 1 BvR 3226/14 - ZGMR 2015, 121 = [...] Rn. 18 und vom 23. Mai 2016 - 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15 - [...] Rn. 39). Rechtsfortbildung überschreitet die zulässigen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft (BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286 <306>). Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch judikative Lösung ersetzen (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 5 C 18.12 - Buchholz 436.511 § 93 SGB VIII Nr. 5 = [...] Rn. 22 m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben ist die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, dass die aufgehobene Vorschrift des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 auf Fälle der vorliegenden Art nicht anwendbar ist, nicht zu beanstanden. Art. 2 Nr. 2. a) des Gesetzes zur Änderung des Häftlingshilfegesetzes und zur Bereinigung des Bundesvertriebenengesetzes vom 7. November 2015 (BGBl. I S. 1922) ist einer einschränkenden Auslegung dahingehend, dass § 100a Abs. 1 BVFG 2001 trotz Streichung weiterhin ganz oder teilweise anzuwenden ist, nicht zugänglich. Voraussetzung für eine teleologische Reduzierung ist, dass der Wortlaut einer Vorschrift zu weit gefasst ist, diese also auch Fälle umfasst, die der inneren Teleologie (Zielsetzung) des Gesetzes widersprechen. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil bei einer Auslegung der Norm in dem Sinne, dass § 100a Abs. 1 BVFG 2001 trotz Streichung als fortbestehend zu behandeln ist, der Aufhebungsakt seines Anwendungsbereichs gänzlich beraubt würde und folglich nicht nur eine Einschränkung des Anwendungsbereichs vorliegen würde. Zwar ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien, dass die Streichung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 lediglich der Rechtsbereinigung dienen sollte und der Gesetzgeber davon ausging, dass sich der Zweck der Norm erledigt habe (BT-Drs. 18/4625 S.11). Diese unzutreffende tatsächliche Einschätzung berechtigt die Judikative indes auch dann nicht, sich über den eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers, die Vorschrift aufzuheben, hinwegzusetzen, wenn sie auf einem offenkundigen Irrtum des Gesetzgebers beruhte und etwa die durch die eindeutig gewollte Aufhebung des § 100a Abs. 1 BVFG 2001 bewirkten Rechtsfolgen von dem Gesetzgeber nicht gewollt gewesen wären. Der Gesetzgeber hat daher selbst tätig zu werden, falls er seine irrtümliche Vorstellung, dass die Norm keinen Anwendungsbereich mehr hat, korrigieren will.

2. Im Übrigen wirft das Beschwerdevorbringen eine bestimmte abstrakte, klärungsbedürftige Rechtsfrage zu einer Norm des revisiblen Rechts nicht auf. Dies gilt insbesondere, soweit die Beschwerde (s. S. 13 der Beschwerdeschrift) Zweifel äußert, ob das Bundesverwaltungsgericht heute noch an der im Urteil vom 19. Oktober 2000 (- 5 C 44.99 -) erfolgten Auslegung des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG festhalten würde.

3. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO . Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 , § 52 Abs. 2 GKG .

5. Mit der Zurückweisung der Beschwerde erledigt sich der am 9. August 2016 bei dem Bundesverwaltungsgericht eingegangene Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 07.04.2016 - Vorinstanzaktenzeichen 11 A 1250/12