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BVerfG - Entscheidung vom 16.07.2016

2 BvR 1614/14

Normen:
BVerfGG § 90 Abs. 1
Buchstabe b BVerfGG § 93a Abs. 2
BVerfGG § 93b S. 1
BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1
ZPO § 172 Abs. 1 S. 1
ZPO § 321a
ZPO § 495a
GG Art. 103 Abs. 1

Fundstellen:
AnwBl 2016, 856

BVerfG, Beschluss vom 16.07.2016 - Aktenzeichen 2 BvR 1614/14

DRsp Nr. 2016/14681

Voraussetzungen einer genügenden Gewährung rechtlichen Gehörs; Enge Verknüpfung des Äußerungsrechts mit dem Recht auf Information; Ausübung des Rechts auf Gehör durch einen Rechtsanwalt; Prozessbevollmächtigter als allein berufener Adressat aller Zustellungen

Tenor

Das Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 19. Mai 2014 - 33 C 1132/14 - und der Beschluss des Amtsgerichts Lübeck vom 4. Juni 2014 - 33 C 1132/14 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes .

Das Urteil sowie der Beschluss werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Lübeck zurückverwiesen.

Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Normenkette:

BVerfGG § 90 Abs. 1 ; Buchstabe b BVerfGG § 93a Abs. 2 ; BVerfGG § 93b S. 1; BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1; ZPO § 172 Abs. 1 S. 1; ZPO § 321a; ZPO § 495a; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

I.

1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine amtsgerichtliche Entscheidung, durch die er zur Zahlung der Kosten einer ärztlichen Behandlung verurteilt worden ist.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens erwirkte zunächst einen Mahnbescheid über die streitige Summe, den das Amtsgericht Schleswig - zentrales Mahngericht - gegen den Beschwerdeführer erließ. Dieser ließ durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch erheben. Das Verfahren wurde sodann gemäß § 696 Abs. 1 und 2 ZPO an das zuständige Amtsgericht Lübeck - Zivilabteilung - abgegeben.

2. Nach dem Eingang der Klagebegründung forderte das Amtsgericht Lübeck den Beschwerdeführer gemäß § 697 Abs. 2 , § 276 ZPO auf, eine etwaige Verteidigungsabsicht binnen einer Notfrist von zwei Wochen ab Zustellung der Anspruchsbegründung schriftlich anzuzeigen und binnen weiterer zwei Wochen nach Ablauf dieser Notfrist auf das Klagevorbringen gegebenenfalls schriftlich zu erwidern. Es wies darauf hin, dass das Gericht das Verfahren gemäß § 495a ZPO nach billigem Ermessen bestimmen und dass ein Endurteil nach Aktenlage ergehen könne, wenn eine Verteidigungsanzeige nicht fristgerecht eingehe. Die Verfügung des Amtsgerichts wurde dem Beschwerdeführer am 30. April 2014 persönlich an seiner Wohnanschrift durch Einlegung in den Briefkasten, nicht aber dem aus dem Widerspruchsformular ersichtlichen und auch im Aktenausdruck des Mahngerichts aufgenommenen Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt. Dieser erhielt - anders als die Prozessbevollmächtigte des Klägers - auch keine formlose Abschrift der Verfügung. Zum Zeitpunkt der Zustellung hielt sich der Beschwerdeführer bereits für einen längeren Zeitraum in Thailand auf. Ein nach seinen Angaben bereits bestehender Nachsendeauftrag an die Anschrift seiner Mutter sei offenbar nicht beachtet worden.

3. Da keine Verteidigungsanzeige des Beschwerdeführers eingegangen war, hat das Amtsgericht Lübeck den Beschwerdeführer durch das angegriffene Urteil vom 19. Mai 2014 ohne mündliche Verhandlung gemäß § 495a ZPO zur Zahlung der im Streit stehenden Summe verurteilt; die Berufung wurde nicht zugelassen. Einwendungen, die dem klägerischen Anspruch entgegenstehen könnten, habe der Beschwerdeführer binnen der gesetzten Frist nicht erhoben, obgleich er auf die möglichen Folgen einer Fristversäumnis hingewiesen worden sei. Das Urteil wurde dem Beklagten am 27. Mai 2014 persönlich - nunmehr an die Anschrift seiner Mutter -, nicht jedoch seinem Prozessbevollmächtigten übermittelt.

4. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 3. Juni 2014 hat der Beschwerdeführer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO erhoben und beantragt, den Prozess vor dem Amtsgericht fortzuführen, das Endurteil vom 19. Mai 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Anspruchsbegründung des Klägers und der prozessleitende Beschluss des Gerichts seien ihm nicht wirksam zustellt worden und auch nicht bekannt gewesen. Sein für den Rechtszug bestellter Prozessbevollmächtigter habe entgegen § 172 Abs. 1 ZPO keinerlei Zustellungen erhalten. Er selbst habe sich seit Januar 2014 im Ausland befunden und erst am 27. Mai 2014 Kenntnis von dem ergangenen Urteil erlangt. Nach Fortsetzung des Verfahrens werde er gegen den geltend gemachten Anspruch des Klägers Erfüllung einwenden, da er die Rechnung bezahlt habe.

5. Das Amtsgericht Lübeck wies die Gehörsrüge mit angegriffenem Beschluss vom 4. Juni 2014, dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 17. Juni 2014 zugestellt, als unbegründet zurück. Dem Beschwerdeführer sei die gerichtliche Verfügung mit Klagebegründung zugestellt worden; dieser habe seinen Auslandsaufenthalt in keiner Weise belegt, noch habe er mit gerichtlichen Schreiben auf Grund des vorangegangenen Mahnverfahrens rechnen müssen.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG und eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG . Er habe sich vor dem Erlass der angegriffenen Entscheidung nicht zu dem ihr zu Grunde liegenden Sachverhalt äußern können. Sein Prozessbevollmächtigter sei aktenkundig bereits seit dem gerichtlichen Mahnverfahren für den Rechtszug in der ersten Instanz bestellt worden, so dass Zustellungen zwingend nur noch an ihn hätten gehen müssen. Zustellungen an den Beschwerdeführer persönlich hätten nicht zu einem tatsächlichen Zugang und damit nicht zu einer Heilung des Zustellungsmangels gemäß § 189 ZPO geführt. Als Folge dieser Zustellungsmängel habe sich das Gericht zu Unrecht auf den gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gewerteten Tatsachenvortrag des Klägers gestützt. Der Gehörsverstoß sei auch entscheidungserheblich, da der Einwand der Erfüllung erhoben werde. Denn die Forderung sei - wie bereits in der Anhörungsrüge ausgeführt -schon getilgt worden.

III.

Das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens vertritt die Ansicht, dass der Zustellungsmangel geheilt worden und die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten jedenfalls nicht angezeigt sei. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

IV.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1 BVerfGG ). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ).

1. Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG .

a) Diese Vorschrift gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten einen Anspruch darauf, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zu Grunde liegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BVerfGE 67, 39 <41>; 69, 145 <148>; 89, 381 <392>; 101, 106 <129>; stRspr). Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsschutzgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen können, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 86, 133 <144>). Dementsprechend darf das Gericht nur solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten vorher äußern konnten (vgl. BVerfGE 70, 180 <189>; 101, 106 <129>).

Das Äußerungsrecht ist zudem eng verknüpft mit dem Recht auf Information. Die genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Die Verfahrensbeteiligten müssen sich unter Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff unterrichten können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 96, 189 <204>). Den Gerichten obliegt zudem die Pflicht, von sich aus den Beteiligten alles für das Verfahren Wesentliche mitzuteilen (BVerfGE 36, 85 <88>; vgl. auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2015 - 2 BvR 3073/14 -, [...], Rn. 10 m.w.N.); es bedarf keines Antrags und es besteht in der Regel keine Erkundigungspflicht des Grundrechtsträgers (BVerfGE 17, 194 <197>; 50, 381 <385>; 67, 154 <155>).

b) Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (BVerfGE 60, 1 <5>; 67, 208 <211>). Der einfachgesetzlichen Umsetzung des Rechts auf Information dienen insofern die prozessrechtlichen Vorschriften über die Ladung (vgl. BVerfGE 36, 298 <301>) und die Bekanntgabe, insbesondere die Zustellung (vgl. Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hennecke, GG , 13. Aufl. 2014, Art. 103 Rn. 26, m.w.N.). Damit soll sichergestellt werden, dass der Betroffene von für ihn erheblichen Informationen zuverlässig Kenntnis erhält (vgl. BVerfGE 67, 208 <211>).

c) Soweit das Recht auf Gehör durch einen Rechtsanwalt ausgeübt wird, hat das Gericht ihm gegenüber die Pflichten aus Art. 103 Abs. 1 GG zu erfüllen (vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG , 73. Ergänzungslieferung 2014, Art. 103 Rn. 108, Schmahl, a.a.O., Art. 103 Rn. 35). Ist ein Rechtsanwalt bestellt, so nimmt er die prozessualen Rechte und Möglichkeiten für den gehörberechtigten Beteiligten wahr. Er ist es dann, den das Gericht auf jeden Fall durchgängig am Verfahren zu beteiligen hat. Wird dies übersehen, so ist grundsätzlich Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Schmidt-Aßmann, a.a.O., Art. 103 Rn. 108 m.w.N.).

2. So liegt der Fall hier. Der Wortlaut des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO lässt keine alternative Zustellung an die Partei zu. Der Prozessbevollmächtigte ist in diesem Fall allein berufener Adressat aller Zustellungen (vgl. Stöber, in: Zöller, ZPO , 31. Aufl. 2016, § 172 Rn. 1), damit die Prozessführung übersichtlich in einer Hand liegt (Schellhammer, Zivilprozess, 14. Aufl. 2012, Rn. 81 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 17. Januar 2002 - IX ZR 100/99 -, NJW 2002, S. 1728 <1729>).

Prozessbevollmächtigter im Sinne des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist diejenige Person, der die Partei eine Prozessvollmacht erteilt hat, die nach § 81 ZPO zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozesshandlungen ermächtigt; die Bestellung zum Prozessbevollmächtigten geschieht dadurch, dass dem Gericht die Bevollmächtigung ausdrücklich oder schlüssig zur Kenntnis gebracht wird (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 2006 - VIII ZB 52/06 -, NJW-RR 2007, S. 356 <356> m.w.N.). Die Mitteilung ist nicht formgebunden, die Vorlage einer Vollmachtsurkunde nicht erforderlich (vgl. Häublein, in: Münchener Kommentar zur ZPO , 4. Aufl. 2013, § 172 Rn. 5). Der Prozessbevollmächtigte kann sich sogar schon vor Anhängigkeit eines Prozesses bestellen, wofür zum Beispiel das Einreichen einer Schutzschrift genügen kann (vgl. Häublein, a.a.O., § 172 Rn. 6).

Zweifel an der wirksamen Bestellung des Prozessbevollmächtigten bestehen im vorliegenden Fall nicht. Denn aus dem beim zentralen Mahngericht eingereichten Widerspruchsformular ergibt sich ausdrücklich, dass er als Prozessbevollmächtigter den Widerspruch eingereicht hat, und das Formular enthält auch den Passus, dass die "ordnungsgemäße Bevollmächtigung versichert wird". Das Mahngericht hat ihn dementsprechend als Prozessbevollmächtigten in den Aktenausdruck (§ 696 Abs. 2 ZPO ) aufgenommen.

Das Verfahren war zudem anhängig im Sinne von § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO . Die Anhängigkeit im Mahnverfahren tritt bereits mit Einreichung des Mahnbescheids ein (vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO , 31. Aufl. 2016, § 693 Rn. 3). Mit der Abgabe nach § 696 Abs. 1 und 2 ZPO endet das Mahnverfahren. Der beim Abgabegericht aufgetretene Rechtsanwalt bleibt Prozessbevollmächtigter bis zu einer eventuellen Neubestellung eines Rechtsanwalts für das Streitverfahren beim Empfangsgericht (vgl. Vollkommer, a.a.O., § 696 Rn. 5). Mit Eingang der Akten (bzw. des Aktenausdrucks) beim Empfangsgericht wird die Sache dort anhängig (§ 696 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 ZPO ). Zugleich tritt (im Fall des § 696 Abs. 3 ZPO zeitlich zurückbezogen) Rechtshängigkeit ein (vgl. Vollkommer, a.a.O., § 696 Rn. 5).

Zustellungen an die Partei selbst unter Verstoß gegen die Vorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO sind unwirksam beziehungsweise wirkungslos (vgl. Stöber, a.a.O. § 172 Rn. 23; BGHZ 61, 308 <310>; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1983 - IVb ZB 29/82 -, NJW 1984, S. 926 <926> m.w.N.) und setzen Fristen nicht in Lauf (vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 2006 - VIII ZB 52/06 -, NJW-RR 2007, S. 356 <356> m.w.N.). Zustellungen an die Partei sind nur noch möglich, wenn das Gesetz sie ausnahmsweise befiehlt (§ 141 Abs. 2 Satz 2, § 239 Abs. 3 Satz 1, § 244 Abs. 2 Satz 1, § 450 Abs. 1 Satz 3; vgl. Schellhammer, a.a.O., Rn. 81).

Auch wurde der Zustellungsmangel nicht gemäß § 189 ZPO geheilt. Denn die Vorschrift besagt, dass eine Heilung von Zustellungsmängeln lediglich dann angenommen werden kann, wenn das Dokument der Person , an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte , tatsächlich zugegangen ist. Eine Heilung hätte vorliegend also nur erfolgen können, wenn dem Prozessbevollmächtigten die Verfügung (mit Anspruchsbegründung) zugegangen wäre (vgl. Stöber, a.a.O., § 189 Rn. 6). Dies ist hier aber nicht ersichtlich. Ein Zugang an die vertretene Partei (wie hier vom Amtsgericht als maßgeblich erachtet) genügt jedoch nicht für eine Heilung nach § 189 ZPO (vgl. Stöber, a.a.O., § 189 Rn. 5).

In dem Umstand, dass der Beschwerdeführer mangels wirksamer Zustellung der Aufforderung zur Verteidigungsanzeige keine ausreichende Möglichkeit hatte, sich zum Sachverhalt zu äußern und etwaige Einwendungen vorzubringen, liegt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Zwar stellt nicht jede falsche Handhabung der für das rechtliche Gehör einschlägigen Prozessvorschriften durch den Richter zwingend auch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Bei einer willkürlich fehlerhaften oder - wie hier - jedenfalls offensichtlich unrichtigen Gesetzesanwendung ist dies jedoch der Fall (BVerfGE 69, 145 <149>; 70, 288 <293>). Die fehlerhafte Gesetzesanwendung war insbesondere deshalb offensichtlich, da der Wortlaut des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO den Erwägungen des Amtsgerichts ausdrücklich entgegensteht. Auch den diesbezüglichen Hinweis des Prozessbevollmächtigten in der Gehörsrüge hat das Amtsgericht ignoriert. Somit ist auch von einer objektiv willkürlichen, da nicht mehr verständlichen Gesetzesanwendung des Amtsgerichts auszugehen. Ob der Beschwerdeführer seine Abwesenheit ausreichend glaubhaft gemacht hat, kann dahinstehen. Denn jedenfalls durfte er sich nach Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten und der diesbezüglichen Anzeige an das Gericht darauf verlassen, dass das Gericht § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO beachten und dass sein Prozessbevollmächtigter von allen relevanten Schriftstücken durch das Gericht Kenntnis erhalten würde.

Schließlich beruht das angegriffene Urteil auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 7, 95 <99>; 89, 381 <392 f.>). Die Entscheidungserheblichkeit liegt auf der Hand, denn der Beschwerdeführer hat bereits in der Gehörsrüge substantiiert den Einwand der Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB erhoben.

3. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ). Dem aufgezeigten Grundrechtsverstoß kommt besonderes Gewicht zu. Er beruht auf einer groben Verkennung rechtsstaatlicher Grundsätze (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>; 96, 245 <248>). Denn das Amtsgericht hat dem Beschwerdeführer die Äußerungsmöglichkeit unter Verstoß gegen § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO gänzlich abgeschnitten und die - zutreffenden - Ausführungen des Prozessbevollmächtigen in der Gehörsrüge übergangen, ohne sich mit dem Wortlaut der Norm und deren Rechtsfolgen zu beschäftigen.

4. Das Urteil und der Beschluss des Amtsgerichts Lübeck sind gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht Lübeck zurückzuverweisen.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG .

Vorinstanz: AG Lübeck, vom 19.05.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 33 C 1132/14
Vorinstanz: AG Lübeck, vom 04.06.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 33 C 1132/14
Fundstellen
AnwBl 2016, 856