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BSG - Entscheidung vom 20.12.2016

B 3 KR 17/16 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1- 2
SGB V a.F. § 46 S. 1 Nr. 2

BSG, Beschluss vom 20.12.2016 - Aktenzeichen B 3 KR 17/16 B

DRsp Nr. 2017/9558

Krankengeld Grundsatzrüge Höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage Rückwirkender Anspruch

1. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist. 2. Als höchstrichterlich geklärt gilt auch eine Rechtsfrage, die das Revisionsgericht zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben. 3. Das BSG hat zur Auslegung, zum Anwendungsbereich und zu möglichen Ausnahmefällen nach § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V a.F. umfassend entschieden.

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2016 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 - 2; SGB V a.F. § 46 S. 1 Nr. 2 ;

Gründe:

I

Die Vorinstanzen haben die Beklagte verurteilt, dem bei ihr versicherten Kläger Krankengeld (Krg) im Zeitraum vom 4.9.2014 bis zum 25.11.2014 zu zahlen. Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Der Anspruch auf Krg scheitere nicht an der fehlenden rechtzeitigen erneuten Feststellung von Arbeitsunfähigkeit (AU) spätestens am 3.9.2014. Vom Erfordernis der vorherigen ärztlichen Feststellung des Fortbestehens von AU nach § 46 S 1 Nr 2 SGB V (in der bis zum 22.7.2015 gültigen Fassung - aF) habe das BSG Ausnahmen zugelassen (Hinweis auf BSG vom 5.5.2009 - B 1 KR 20/08 R - Juris RdNr 21; BSG vom 16.12.2014 - B 1 KR 19/14 R - Juris RdNr 17). Ein solcher Fall habe hier vorgelegen. Der Kläger habe alles ihm Zumutbare getan, um die rechtzeitige Feststellung seiner weiteren AU sicherzustellen. Trotz seines Erscheinens in der Arztpraxis am 3.9.2014 sei er allein aus Gründen der überfüllten Arztpraxis dort nicht untersucht worden. Der Kläger habe bei dieser Sachlage keine realistische Handlungsalternative gehabt. Diese Sachlage sei mit jener Situation vergleichbar, in der der Vertragsarzt eine medizinisch fehlerhafte Feststellung treffe, die der Krankenkasse zuzurechnen sei (Hinweis auf BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 30/04 R - Juris RdNr 24 f). Dies gelte jedenfalls, wenn der behandelnde Arzt den Kläger für den folgenden Tag einbestellt und an diesem Tag den Auszahlschein ausgestellt habe (Urteil vom 4.2.2016).

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Beklagte Beschwerde beim BSG eingelegt. Sie beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und auf Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 1 und Nr 2 SGG ).

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beklagte die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Rechtsprechungsabweichung nicht formgerecht aufzeigt (§ 160a Abs 2 S 3 SGG ). Die Verwerfung der unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine solche Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65).

Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN; BSG vom 3.2.2015 - B 13 R 261/14 B - Juris RdNr 6). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.

1. Die Beklagte hält für grundsätzlich bedeutsam die Rechtsfragen:

"Liegt ein Ausnahmetatbestand nach den vom BSG mit seinem Urteil vom 08.11.2005, Az: B 1 KR 30/04 R, zu einem rückwirkenden Anspruch auf Krankengeld entwickelten Kriterien vor, d.h. haben Versicherte alles in ihrer Macht Stehende und ihnen Zumutbare getan, um ihre Ansprüche zu wahren, wenn sie am letzten Tag ihrer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit (bzw. seit Gesetzesänderung ab 23.7.2015: am folgenden Werktag des ausgelaufenen Arbeitsunfähigkeitszeitraums) innerhalb normaler Praxisöffnungszeiten einen Arzt persönlich aufsuchen, um die Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch eine persönliche Untersuchung zu ermöglichen, die Versicherten aber aus zeitlich organisatorischen Gründen der Arztpraxis wieder ohne Untersuchung weggeschickt werden und die Untersuchung erst nach dem Ablauf des Zeitraums der letzten ärztlichen Feststellung von Arbeitsunfähigkeit (bzw. seit Gesetzesänderung ab 23.7.2015: nach dessen folgenden Werktags) an dem von der Praxis angebotenen zeitnahen Termin durchgeführt wird? Und ist eine aus zeitlich organisatorischen Gründen der Arztpraxis erfolgte verspätete Feststellung der Arbeitsunfähigkeit dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse zuzurechnen?"

Mit diesem Vortrag legt die Beklagte die grundsätzliche Bedeutung einer weiterhin klärungsbedürftigen abstrakt-generellen Rechtsfrage zur Auslegung und zum Anwendungsbereich einer revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG ) nicht hinreichend dar.

Wenn es der Beklagten im Kern ihres Vorbringens darum geht, § 46 S 1 Nr 2 SGB V aF einer erneuten höchstrichterlichen Überprüfung zu unterziehen, fehlt es an hinreichender Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist" (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Als höchstrichterlich geklärt gilt auch eine Rechtsfrage, die das Revisionsgericht zwar noch nicht ausdrücklich entschieden hat, jedoch schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr, vgl nur BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6). Das ist hier der Fall.

Das BSG hat zur Auslegung, zum Anwendungsbereich und zu möglichen Ausnahmefällen nach § 46 S1 Nr 2 SGB V aF umfassend entschieden (vgl nur BSG Urteil vom 16.12.2014 - BSGE 118, 52 = SozR 4-2500 § 192 Nr 7, RdNr 26 ff). Dass darüber hinaus noch weiterer Klärungsbedarf bestehe, ist nicht hinreichend dargetan. Die Beklagte fragt danach, ob ein Ausnahmetatbestand nach den vom BSG (Urteil vom 8.11.2005 - B 1 KR 30/04 R - BSGE 95, 219 = SozR 4-2500 § 46 Nr 1) entwickelten Kriterien vorliegt, der zu einem rückwirkenden Anspruch auf Krg führen kann. Dies aber ist keine abstrakt-generelle Rechtsfrage, sondern eine auf den Fall des Klägers zugeschnittene Frage der Rechtsanwendung, die das LSG unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des BSG bejaht hat.

Weiterer Klärungsbedarf ergibt sich auch nicht, wenn die Beklagte meint, die von ihr aufgeworfenen Fragen hätten nach der Gesetzesänderung von § 46 S 1 Nr 2, S 2 SGB V (in der ab 23.7.2015 gültigen Fassung) weiterhin grundsätzliche Bedeutung. Dass die neue - hier noch nicht anwendbare - Gesetzeslage eine revisionsrechtliche Entscheidung in dieser Sache erfordere, drängt sich unter Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten nicht auf, zumal nicht dargelegt ist, dass der Kläger auch nach neuer Rechtslage keinen Anspruch auf Krg gehabt hätte.

2. Die Beklagte bezeichnet auch keine Divergenz hinreichend.

Divergenz liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn das Urteil des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Abweichung. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das BSG die oberstgerichtliche Rechtsprechung im Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 17; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 10 RdNr 4; BSG SozR 1500 § 160a Nr 67 S 89 ff; BSG SozR 1500 § 160a Nr 14 S 22).

Die Beklagte ist der Ansicht, das Berufungsurteil weiche von der Entscheidung des BSG vom 26.6.2007 - B 1 KR 37/06 R - (SozR 4-2500 § 46 Nr 2) ab. Dort habe das BSG aufgeführt:

"Der Umstand allein, dass ein von einem Versicherten am 31.3.2003 (letzter Tag der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit) hinzugezogener Vertragsarzt keine AU-Feststellung vornahm, führt nicht schon dazu, dass von der Fehlerhaftigkeit dieser Behandlung ausgegangen und der beklagten Krankenkasse ein 'Fehlverhalten' des Vertragsarztes zugerechnet werden muss."

Das Berufungsgericht habe den hierzu "widersprüchlichen Grundsatz" aufgestellt: "Bei einer Differenzierung von Verantwortungsbereichen kann es keinen Unterschied machen, ob der Vertragsarzt eine medizinisch fehlerhafte Feststellung trifft, was der Krankenkasse zuzurechnen ist ... oder ob von dem Arzt die Feststellung vereitelt wird, da auch ein solches Verhalten unmittelbar mit der Feststellung weiterer Arbeitsunfähigkeit verknüpft ist ... Der Versicherte hat sich in einem solchen Fall keinen fehlerhaften Rechtsrat von seinem Arzt geholt, was der Krankenkasse nicht zuzurechnen wäre ..., sondern es lediglich hingenommen, dass der Arzt an diesem Tag keine Feststellung weiterer Arbeitsunfähigkeit vorgenommen hat."

Schon aus der Gegenüberstellung der von der Beklagten zitierten Passagen ist zweifelhaft, ob sie einander widersprechende abstrakte Rechtsgrundsätze gegenüberstellt und worin die Rechtsprechungsabweichung genau liegen soll. Das erschließt sich auch nicht aus ihren ergänzenden Ausführungen, indem sie verschiedene Fallkonstellationen gegenüberstellt (Beschwerdebegründung S 9). Bei der Rüge der Divergenz muss vielmehr ein abstrakter Rechtssatz der vorinstanzlichen Entscheidung und ein abstrakter Rechtssatz aus dem höchstrichterlichen Urteil so genau bezeichnet werden, dass die Divergenz erkennbar wird (vgl BSG vom 3.2.2015 - B 13 R 261/14 B - Juris RdNr 10). Überdies fehlt es auch an hinreichender Bezeichnung der Entscheidungserheblichkeit der behaupteten Divergenz. Hierfür hätte die Beklagte aufzeigen müssen, dass das Revisionsgericht die oberstgerichtliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (zum Ganzen vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 f mwN). Auch daran fehlt es hier.

Schließlich ist es nicht ausreichend, wenn die fehlerhafte Anwendung eines als solchen nicht in Frage gestellten höchstrichterlichen Rechtssatzes durch das Berufungsgericht geltend gemacht wird (bloße Subsumtionsrüge), denn nicht die Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall, sondern nur eine Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen ermöglicht die Zulassung der Revision wegen Divergenz ( BSG SozR 1500 § 160a Nr 67 S 91; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 f).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG ).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG .

Vorinstanz: LSG Rheinland-Pfalz, vom 04.02.2016 - Vorinstanzaktenzeichen L 5 KR 65/15
Vorinstanz: SG Trier, - Vorinstanzaktenzeichen S 5 KR 149/14