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BGH - Entscheidung vom 15.09.2016

4 StR 351/16

Normen:
StPO § 261

Fundstellen:
NStZ-RR 2017, 5

BGH, Urteil vom 15.09.2016 - Aktenzeichen 4 StR 351/16

DRsp Nr. 2016/17166

Verpflichtung des Tatrichters zur Auseinandersetzung mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten

Erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffes entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln können. Der Tatrichter ist daher gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, sie jeweils einzeln abzuhandeln.

Tenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 22. März 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StPO § 261 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen von dem Vorwurf freigesprochen, Mittäter einer versuchten (besonders schweren) Vergewaltigung gewesen zu sein, wobei einer der Täter bei der Tat ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet habe. Dagegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin mit der Sachrüge. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen zum Tatablauf getroffen:

Am 18. September 2015 gegen 21.45 Uhr führte die Nebenklägerin in einem Park in G. zwei Hunde aus, als zwei Personen von hinten an sie herantraten. Ein Täter umschlang sie von hinten mit seinem linken Arm und drückte ihr einen Gegenstand, möglicherweise ein Messer oder einen Schraubendreher, an den Hals. Er zog sie an sich und sagte entweder "Zieh Dich aus! Zieh Dich aus!" zu der Geschädigten oder "Zieh sie aus! Zieh sie aus!" zu dem Mittäter. Dieser kniete oder hockte sich vor die Nebenklägerin und versuchte, ihre Hose zu öffnen, was ihm jedoch wegen eines umgeschnallten Hundetaschen-Gürtels nicht gelang. Er griff deshalb in den Hosenbund, um die Hose herunterzureißen, was aber ebenfalls misslang. In dieser Situation kam einer der Hunde aus dem Gebüsch und biss dem Täter, der die Nebenklägerin festhielt, in den linken Arm. Der Täter vor der Nebenklägerin blickte erschrocken auf, es kam zu einem Blickkontakt. Der hinter ihr stehende Täter schrie auf und ließ die Nebenklägerin los. Sie schrie spätestens jetzt um Hilfe, trat nach den Tätern und lief zu einem Café. Die Täter, von denen einer penetrant nach Schweiß und Knoblauch roch, entfernten sich in die andere Richtung.

Das Landgericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Angeklagte, der sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen hat, einer der Täter war. Zwar sei die Nebenklägerin davon überzeugt, dass der Angeklagte der vor ihr hockende Täter gewesen sei. Unter Beachtung der früheren Beschreibungen dieses Täters durch die Nebenklägerin und der weiteren Umstände, die zur Identifizierung des Angeklagten als Täter geführt hätten, könne es sich aber dieser Einschätzung der Nebenklägerin nicht mit einem ausreichenden Maß an Sicherheit anschließen.

II.

Das freisprechende Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, da die Beweiswürdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.

1. Die Beweiswürdigung ist zwar Sache des Tatrichters; kann er die erforderliche Gewissheit nicht gewinnen und zieht er die hiernach gebotene Konsequenz und spricht frei, so hat das Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Revisionsgericht die Beweisergebnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte; das Revisionsgericht hat die tatrichterliche Überzeugungsbildung sogar dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise näherliegend gewesen wäre (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13 und vom 12. Mai 2016 - 4 StR 569/15 jeweils mwN).

Der Tatrichter ist aber gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen. Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, sie jeweils einzeln abzuhandeln. Das einzelne Beweisanzeichen ist vielmehr mit allen anderen Indizien in eine Gesamtwürdigung einzustellen. Erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffes entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln können (BGH, Urteil vom 26. Mai 1999 - 3 StR 110/99, NStZ-RR 2000, 45 ).

2. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.

Die Strafkammer musste ihrer Beweiswürdigung die Aussage der Nebenklägerin zugrunde legen und prüfen, ob diese glaubhaft ist und ob die Zeugin den Angeklagten überzeugungskräftig als Täter identifiziert hat. Anstelle einer Gesamtschau aller Beweise - die es lediglich am Ende der Beweiswürdigung formelhaft erwähnt - hat das Landgericht hier wesentliche Beweisanzeichen für die Täteridentifikation - wie die früheren Beschreibungen des Täters durch die Nebenklägerin, das Phantombild, die Barttracht, den Geruch und weitere Identifizierungsmerkmale - jeweils einzeln abgehandelt. Die dabei gewählten Formulierungen lassen besorgen, dass es die festgestellten Beweisanzeichen einzeln daraufhin bewertet hat, ob sie für sich genommen eine Überzeugung von einer Täterschaft des Angeklagten zu tragen vermögen. So heißt es etwa auf Seite 6 der Urteilsgründe: "Die Kammer konnte sich nicht anhand eines Abgleichs der von der Geschädigten vor der Festnahme des Angeklagten gegebenen Täterbeschreibung mit dem Angeklagten aus eigenen Erwägungen heraus von der Täterschaft des Angeklagten überzeugen" und weiter auf Seite 7: "Ansonsten ist die Beschreibung so vage, dass sie der Ansicht der Kammer nach auf viele Personen im zumindest gleichen Maße wie auf den Angeklagten zutrifft". Auf Seite 10 der Urteilsgründe führt die Strafkammer aus: "Die Kammer konnte die zur Verurteilung des Angeklagten notwendige Überzeugung auch nicht darüber gewinnen, dass sie die Identifizierung des Angeklagten als den Täter durch die Geschädigte zur eigenen Überzeugung übernahm", und auf Seite 13: "Auch, dass die Geschädigte den Angeklagten in der Hauptverhandlung nochmals zu ihrer eigenen absoluten Sicherheit als den Täter erkannte, lässt die Kammer nicht die Überzeugung von der Identität des Angeklagten mit dem Täter gewinnen".

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei der gebotenen wertenden Gesamtschau aller be- und entlastenden Indizien die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Essen, vom 22.03.2016
Fundstellen
NStZ-RR 2017, 5