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BGH - Entscheidung vom 02.11.2016

StB 35/16

Normen:
StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1
StGB § 129b Abs. 1

BGH, Beschluss vom 02.11.2016 - Aktenzeichen StB 35/16

DRsp Nr. 2016/19071

Rechtmäßigkeit einer Fortdauer der Untersuchungshaft im Rahmen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland

Tenor

1.

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Kammergerichts Berlin vom 19. September 2016 wird verworfen.

2.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Normenkette:

StGB § 129a Abs. 1 Nr. 1 ; StGB § 129b Abs. 1 ;

Gründe

I.

Der 27-jährige Angeklagte, der deutscher und türkischer Staatsangehöriger ist, befindet sich für das vorliegende Verfahren seit dem 19. Dezember 2015 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des an diesem Tag in Vollzug gesetzten Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012. Nachdem der Generalbundesanwalt das Ermittlungsverfahren an die Generalstaatsanwaltschaft Berlin abgegeben und diese unter dem 21. April 2016 Anklage gegen den Angeklagten zum Kammergericht erhoben hatte, ist der Haftbefehl - mit der Eröffnung des Hauptverfahrens - durch den Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 ersetzt worden.

Danach ist der Angeklagte dringend verdächtig, sich im Alter von 20 Jahren, vom 19. Oktober 2009 bis Ende Januar/Anfang Februar 2010, im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet als Mitglied an der Vereinigung "Deutsche Taliban Mujahideen" beteiligt zu haben, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet waren, Mord (§ 211 StGB ) und Totschlag (§ 212 StGB ) zu begehen, und zugleich eine schwere staatsgefährdende Gewalttat, nämlich eine Straftat gegen das Leben in den Fällen des § 211 StGB oder des § 212 StGB , die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen, vorbereitet zu haben, indem er sich im Umgang mit Schusswaffen und in der Herstellung von und im Umgang mit Sprengstoffen unterweisen ließ und sich eine Waffe verschaffte, strafbar als Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a Abs. 1, 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Satz 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 , § 129b Abs. 1 , § 52 StGB , §§ 1 , 105 ff. JGG . Der Haftbefehl ist auf die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO ) gestützt.

Am 19. September 2016 hat das Kammergericht den Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit bei Urteilsfällung verkündetem Beschluss hat es den Haftbefehl vom 20. Mai 2016 aufrechterhalten.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 26. September 2016 hat der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl des Kammergerichts vom "26.05.2016 (gemeint: 20. Mai 2016) in Gestalt des" Haftfortdauerbeschlusses vom 19. September 2016 eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Mit der Beschwerde wendet er sich ausschließlich gegen die Annahme, die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität bestünden fort.

Mit Verfügung vom 4. Oktober 2016 hat das Kammergericht der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 304 Abs. 1 , 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 , § 306 Abs. 1 StPO ) Beschwerde des Angeklagten, die sich gegen den Haftfortdauerbeschluss des Kammergerichts vom 19. September 2016 als zuletzt ergangene den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung richtet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO , 59. Aufl., § 117 Rn. 8 mwN), bleibt in der Sache erfolglos. Insbesondere liegen weiterhin die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität vor.

1. Gegen den Angeklagten besteht der - von der Verteidigung mit der Beschwerde ausdrücklich nicht beanstandete - dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Der dringende Tatverdacht wird hier durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, NStZ 2004, 276 , 277; vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297 ).

2. a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ) besteht nach Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sowie fast zehneinhalbmonatigem Untersuchungshaftvollzug fort.

Von der Straferwartung, die sich nach der Verurteilung des Angeklagten auf die verhängte Jugendstrafe konkretisiert hat (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 52), geht weiterhin ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar nimmt der Angeklagte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend an, dass hierfür die sog. Nettostraferwartung maßgebend ist, so dass von dem festgelegten Strafmaß neben der vollzogenen Untersuchungshaft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ) eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe in Abzug zu bringen sein kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 23; MüKoStPO/Böhm/Werner aaO, Rn. 53). Dem Angeklagten ist jedoch nicht darin zu folgen, dass er mit einer Reststrafenaussetzung tatsächlich rechnen kann. Das gilt unabhängig davon, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt (zur Frage des gesetzlichen Maßstabs im Fall einer Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft [§ 85 Abs. 6, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG] vgl. die Nachweise bei OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 2015 - III2 Ws 33/15, [...] Rn. 17 f.; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl., § 57 Rn. 9 Fn. 25).

Wie bereits das Kammergericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat, spricht schon das Vollzugsverhalten des Angeklagten gegen eine Reststrafenbewährung. Er hat in mindestens fünf Fällen an verschiedenen Tagen in den Monaten April bis Juni 2016 gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstoßen, dabei mehrfach Bedienstete beleidigt und in einem Fall bei Widerstandshandlungen versucht, Bedienstete durch Kopfstöße und Fußtritte zu verletzen.

Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit steht jedenfalls derzeit einer Reststrafenaussetzung entgegen; denn nach den Ausführungen des Kammergerichts war in der Hauptverhandlung nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte von seiner jihadistischen Grundeinstellung wirklich distanziert hätte. Auf diese Beurteilung der Geisteshaltung des Angeklagten kommt es für den Senat als Beschwerdegericht in besonderer Weise an; denn der Senat selbst hat keinen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen. Hinzu kommt, dass die Annahme der Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen voraussetzt. Sie müssen gerade nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen; insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 22 mwN).

Die Umstände, die gegen eine zu erwartende Reststrafenaussetzung sprechen, vergrößern zugleich die Besorgnis, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entzieht, weil sie Zweifel an seiner Zuverlässigkeit begründen. Soweit die Beschwerde auf das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Tag gelegte Wohlverhalten gegenüber dem Gericht verweist, deutet dies nur darauf hin, dass er willens und fähig ist, sein Verhalten nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu steuern, zumal er sich Bediensteten der Justizvollzugsanstalt gegenüber auch über Richter abfällig äußerte.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte auch türkischer Staatsangehöriger ist, über Fremdsprachenkenntnisse und Auslandskontakte verfügt, sich von September 2009 bis Dezember 2015 im Ausland aufhielt und trotz des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012 nicht ergriffen werden konnte. Diesbezüglich verweist der Senat auf die Ausführungen im Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 und in dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 4. Oktober 2016.

Den benannten die Fluchtgefahr begründenden Umständen stehen auch mit Blick darauf, dass sich der Angeklagte selbst stellte und mittlerweile wieder über stabile familiäre Bindungen in Deutschland verfügt, hinreichend gewichtige fluchthindernde Umstände nicht entgegen.

Nach alledem kann dahinstehen, inwieweit, wie das Kammergericht meint, weitere gegen den Angeklagten geführte, noch offene Ermittlungsverfahren die Fluchtgefahr erhöhen, namentlich dasjenige wegen des Verdachts der Mitgliedschaft im Islamischen Staat (IS). Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Berücksichtigung eines anderen Strafverfahrens einen bestimmten Verdachtsgrad für eine Tatbegehung oder -beteiligung voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 1992 - 3 Ws 636/92, MDR 1993, 371 ; LR/Hilger, StPO , 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 19).

b) Daneben liegt weiterhin - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 37 mwN) - der Haftgrund der Schwerkriminalität vor. Es kann - erst recht - nicht ausgeschlossen werden, dass ohne die weitere Untersuchungshaft die alsbaldige Ahndung der Tat vereitelt werden könnte.

c) Weniger einschneidende Maßnahmen (§ 116 StPO ) bieten bei einer Gesamtschau und -würdigung der genannten Umstände voraussichtlich keinen Erfolg. Für eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls fehlt es an einer ausreichenden Vertrauensgrundlage in der Person des Angeklagten.

3. Die Haftfortdauer steht nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der verhängten (vgl. BeckOK StPO/Krauß, § 120 Rn. 3; KK-Schultheis, StPO , 7. Aufl., § 120 Rn. 7) Strafe.

Ein Verstoß gegen das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot liegt nicht vor. Vermeidbare den Strafverfolgungsbehörden oder Strafgerichten anzulastende Verzögerungen sind nicht eingetreten. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat unter dem 21. April 2016, etwa vier Monate nach der Verhaftung des Angeklagten, die Anklage gegen ihn erhoben. Am 20. Mai 2016, einen Monat später, hat das Kammergericht das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung fand an 17 Tagen zwischen dem 13. Juni und dem 19. September 2016 statt. In Anbetracht des Umfangs und der Komplexität des Verfahrens wurde dieses zu jeder Zeit ausreichend gefördert.

Vorinstanz: KG, vom 19.09.2016