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BGH - Entscheidung vom 08.01.2016

I ZB 41/15

Normen:
ZPO §§ 233 A, 234 A, 238 Abs. 2
ZPO § 233 (A)
ZPO § 234 (A)
ZPO § 238 Abs. 2
ZPO §§ 114 ff.
ZPO § 233
ZPO § 234
ZPO § 238 Abs. 2
ZPO § 522 Abs. 1 S. 2-4
ZPO § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1

Fundstellen:
FamRZ 2016, 716
NJW-RR 2016, 507
WM 2016, 1187

BGH, Beschluss vom 08.01.2016 - Aktenzeichen I ZB 41/15

DRsp Nr. 2016/3911

Gesonderte Anfechtung eines durch das Berufungsgericht durch gesonderten Beschluss zurückgewiesenen Wiedereinsetzungsantrags; Verhinderung des Rechtsmittelführers an der rechtzeitigen Vornahme einer fristwahrenden Handlung (hier: der Begründung der Berufung); Gewährung der Wiedereinsetzung in die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist; Kausalität zwischen Mittellosigkeit und der Fristversäumung der betroffenen Partei

Hat das Berufungsgericht durch gesonderten Beschluss einen Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen, so muss diese Entscheidung gesondert nach § 238 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 2 bis 4 ZPO angefochten werden, um sie nicht in Rechtskraft erwachsen und für die Entscheidung über die Verwerfung bindend werden zu lassen. Die betroffene Partei ist jedoch unter dem Aspekt der Rechtskraft nicht gehindert, nachfolgend weitere Wiedereinsetzungsgründe geltend zu machen, über die noch nicht entschieden worden ist (Fortführung von BGH, Beschluss vom 16. April 2002 - VI ZB 23/00, NJW 2002, 2397 ).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Stendal vom 16. April 2015 aufgehoben.

Der Beklagten wird gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Burg vom 7. August 2014 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 1.501,50 €

Normenkette:

ZPO §§ 114 ff.; ZPO § 233 ; ZPO § 234 ; ZPO § 238 Abs. 2 ; ZPO § 522 Abs. 1 S. 2-4; ZPO § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ; GG Art. 2 Abs. 1 ; GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

I. Das Amtsgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 7. August 2014 zur Zahlung von Maklerlohn in Höhe von 1.501,50 € nebst Zinsen an die Klägerin verurteilt. Gegen das ihr am 11. August 2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 8. September 2014 Berufung eingelegt und zugleich Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten beantragt. Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2014 hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und deren Verlängerung beantragt. Am 5. November 2014 hat er die Berufung begründet.

Mit Beschluss vom 20. Februar 2015 hat das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und den Hinweis erteilt, die Berufung sei wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist unzulässig. Zugleich hat das Landgericht auch den Prozesskostenhilfeantrag zurückgewiesen. Am 12. März 2015 hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten Beschwerde gegen den Beschluss vom 20. Februar 2015 eingelegt und erneut Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Mit Beschluss vom 16. April 2015 hat das Landgericht die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen und den weiteren Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Der Beklagten ist zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung versagt worden.

1. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Beschluss verletzt die Beklagte in ihren Verfahrensgrundrechten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ) und wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Diese gebieten es, den Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 3. Februar 2011 - I ZB 74/09, NJW-RR 2011, 702 Rn. 6; Beschluss vom 8. Februar 2012 - XII ZB 462/11, NJW-RR 2012, 757 Rn. 4 mwN). Dagegen verstößt die angefochtene Entscheidung. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Beklagte habe den geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Bei zutreffender Beurteilung ist der Beklagten Wiedereinsetzung in die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren.

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Beklagten ist zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt worden.

a) Das Landgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung zurückgewiesen, die Bedürftigkeit der Beklagten sei für die Fristversäumung nicht kausal geworden. Die Berufung sei unbedingt eingelegt worden. Der Prozessbevollmächtigte sei unabhängig von der Bewilligung der Prozesskostenhilfe zur Fertigung der Berufungsbegründung bereit gewesen, wie deren Einreichung am 5. November 2014 gezeigt habe.

b) Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, so lange als ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Vornahme einer fristwahrenden Handlung - hier: der Begründung der Berufung - verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags rechnen musste, weil er sich für bedürftig im Sinne der §§ 114 ff. ZPO halten durfte und aus seiner Sicht alles Erforderliche getan hatte, damit aufgrund der von ihm eingereichten Unterlagen ohne Verzögerung über seinen Prozesskostenhilfeantrag entschieden werden konnte. Deshalb kann eine unbemittelte Partei, für die ein Anwalt formularmäßig Rechtsmittel eingelegt hat, ohne es zu begründen, die aber keinen Prozessbevollmächtigten hat, der gewillt ist, für sie weiter tätig zu werden, noch am letzten Tag der Rechtsmittelbegründungsfrist einen Prozesskostenhilfeantrag stellen. Das Rechtsmittel darf dann nicht mit dem Argument verworfen werden, innerhalb der Begründungsfrist sei keine Begründung eingereicht worden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. September 2004 - II ZB 17/03, FamRZ 2005, 105 ; BGH, NJW-RR 2012, 757 Rn. 8).

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt allerdings nur in Betracht, wenn die Mittellosigkeit der betroffenen Partei für die Fristversäumung kausal geworden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2008 - VI ZB 16/07, NJW 2008, 2855 ; BGH, NJW-RR 2012, 757 Rn. 9). Rechtsmittelfristen werden nur schuldlos im Sinne von § 233 ZPO versäumt, wenn eine Partei sich wegen ihrer Mittellosigkeit außerstande sieht, einen Rechtsanwalt mit der Einlegung oder Begründung des Rechtsmittels zu beauftragen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 1999 - V ZB 19/99, NJW 1999, 3271 ; BGH, NJW-RR 2012, 757 Rn. 9). Entscheidend für die Ursächlichkeit der Mittellosigkeit einer Partei für die Versäumung der Frist ist, ob der Rechtsanwalt bereit war, das Rechtsmittel auch ohne Bewilligung von Prozesskostenhilfe einzulegen und zu begründen (BGH, NJW 2008, 2855 Rn. 4). Holt die Partei die Verfahrenshandlung nach Ablauf der dafür vorgesehenen Frist, aber vor der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch nach, so ist, solange sich nichts Gegenteiliges ergibt, davon auszugehen, dass die Mittellosigkeit für die zunächst unterbliebene und sodann verspätet vorgenommene Verfahrenshandlung ursächlich geworden ist. Einer Darlegung der Gründe, weshalb das Rechtsmittel nicht schon vor Ablauf der Frist unabhängig von der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe begründet werden konnte, bedarf es nicht (BGH, NJW 2008, 2855 Rn. 5; NJW-RR 2012, 757 Rn. 9). Anders verhält es sich, wenn die Begründung noch innerhalb der Frist erfolgt. Dann ist davon auszugehen, dass die Mittellosigkeit für eine gleichwohl eintretende Fristversäumung nicht kausal geworden ist (BGH, NJW 2008, 2855 Rn. 6; BGH, Beschluss vom 16. November 2010 - VIII ZB 55/10, NJW 2011, 230 Rn. 21).

bb) Nach diesen Maßstäben hat die Beklagte die Frist zur Begründung der Berufung schuldlos versäumt. Sie hat innerhalb der Frist zur Berufungseinlegung einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt und die Beiordnung ihres erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten beantragt. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hat die Beklagte innerhalb der Berufungsbegründungsfrist eingereicht. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte nicht darauf vertrauen durfte, sie erfülle die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, bestehen nicht.

Der Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Berufung nach Ablauf der Frist zur Berufungsbegründung begründet hat, hindert entgegen der Ansicht des Landgerichts die Annahme nicht, die Mittellosigkeit der Beklagten sei für die Fristversäumung kausal geworden. Wird nach Fristablauf das Rechtsmittel begründet, kann, solange sich nichts Gegenteiliges ergibt, nicht darauf geschlossen werden, dass die Mittellosigkeit deshalb nicht kausal für die Fristversäumung geworden ist, weil der Prozessbevollmächtigte unabhängig von der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zu einer weiteren Tätigkeit bereit war. Darlegungen, weshalb das Rechtsmittel nicht schon vor Ablauf der Frist begründet werden konnte, bedarf es nicht (vgl. BGH, NJW-RR 2012, 757 Rn. 9). Mangels gegenteiliger Feststellungen ist auch vorliegend davon auszugehen, dass die Mittellosigkeit der Beklagten für die Fristversäumung kausal geworden ist.

cc) Die mit Beschluss vom 20. Februar 2015 erfolgte Zurückweisung des ersten Wiedereinsetzungsantrags der Beklagten steht der Gewährung von Wiedereinsetzung nicht entgegen, auch wenn die Beklagte diesen Beschluss nicht mit der Rechtsbeschwerde angegriffen hat.

Zwar muss bei gesonderter Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch diese mit dem statthaften Rechtsmittel angegriffen werden, weil andernfalls die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag rechtskräftig und für die Entscheidung über die Verwerfung des Rechtsmittels bindend wird (BGH, Beschluss vom 16. April 2002 - VI ZB 23/00, NJW 2002, 2397 mwN; Grandel in Musielak/Voit, ZPO , 12. Aufl., § 238 Rn. 7). Jedoch ist die betroffene Partei unter dem Aspekt der Rechtskraft - soweit die Wiedereinsetzungsfrist des § 234 ZPO gewahrt ist, die bei Geltendmachung mehrerer Hinderungsgründe erst mit der Beseitigung des letzten Hinderungsgrunds zu laufen beginnt (vgl. Grandel in Musielak/Voit aaO § 234 Rn. 3) - nicht gehindert, nachfolgend weitere Wiedereinsetzungsgründe geltend zu machen, über die noch nicht entschieden worden ist.

So verhält es sich vorliegend. Der erste Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten ist auf die krankheitsbedingte Versäumung der Begründungsfrist durch den Prozessbevollmächtigten der Beklagten gestützt gewesen. Nunmehr ist Gegenstand der Entscheidung, ob die Beklagte aufgrund ihrer Mittellosigkeit an der Einhaltung der Frist schuldlos gehindert war.

3. Der Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung zu gewähren, weil auch die weiteren Voraussetzungen hierfür vorliegen.

a) Allerdings ist das sich aus der Mittellosigkeit der Beklagten ergebende Hindernis am 5. November 2014 behoben worden. Dieses bestand darin, dass die Beklagte ohne Bewilligung von Prozesskostenhilfe keinen Rechtsanwalt fand, der die Berufung begründete. Weggefallen ist das Hindernis, weil der Prozessbevollmächtigte der Beklagten an diesem Tag die Berufung auch ohne Gewährung von Prozesskostenhilfe begründet hat. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass das in der Mittellosigkeit bestehende Hindernis wegfällt, wenn sich die Vermögensverhältnisse der Partei in der Weise ändern, dass sie in die Lage versetzt wird, die Prozesskosten aus eigenen Mitteln aufzubringen, und dies erkennt oder die Anwendung der erforderlichen Sorgfalt erkennen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 1998 - XII ZR 262/98, NJW 1999, 793 ). Damit ist die vorliegende Fallkonstellation vergleichbar, in der der Prozessbevollmächtigte auch ohne Gewährung von Prozesskostenhilfe die Berufung begründet.

b) Danach hätte die Beklagte an sich die Wiedereinsetzung innerhalb der Monatsfrist des § 236 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 ZPO beantragen müssen. Dass dies nicht rechtzeitig geschehen ist, ist unschädlich, weil die Beklagte die in der fehlenden Berufungsbegründung liegende versäumte Prozesshandlung vor Ablauf der Antragsfrist vorgenommen hat und ihr nach § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 ZPO Wiedereinsetzung ohne Antrag gewährt werden kann.

Vorinstanz: AG Burg, vom 07.08.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 3 C 634/13
Vorinstanz: LG Stendal, vom 16.04.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 22 S 91/14
Fundstellen
FamRZ 2016, 716
NJW-RR 2016, 507
WM 2016, 1187