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BGH - Entscheidung vom 08.12.2016

5 StR 512/16

Normen:
StPO § 349 Abs. 2
StGB § 63 S. 2
StGB § 242 Abs. 1
StGB § 244 Abs. 1 Nr. 1

BGH, Beschluss vom 08.12.2016 - Aktenzeichen 5 StR 512/16

DRsp Nr. 2017/2880

Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner seit Jahren bestehenden psychischen Erkrankung

Angesichts einer gutachterlich festgestellten Schwere der psychischen Erkrankung des Angeklagten ist es nicht ausgeschlossen, dass seine Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat vollständig aufgehoben war. Eine vom Sachverständigen attestierte "erhalten gebliebene Fähigkeit des Angeklagten, auf Interaktionen zu reagieren" spricht nicht ohne weiteres gegen eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, wenn die Interaktionen durch geistige Verwirrung gekennzeichnet erscheinen.

Tenor

1.

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Göttingen vom 12. Juli 2016 aufgehoben; davon ausgenommen sind die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen, die aufrecht erhalten bleiben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StPO § 349 Abs. 2 ; StGB § 63 S. 2; StGB § 242 Abs. 1 ; StGB § 244 Abs. 1 Nr. 1 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit Bedrohung sowie wegen Missbrauchs von Notrufen, Diebstahls in drei Fällen und Bedrohung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO .

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts beging der Angeklagte, der an einer schizoaffektiven Störung mit manischen Phasen in einem Residualzustand aufgrund einer chronifizierten Psychose leidet und seit Mitte der Neunzigerjahre vielfach als "Drehtürpatient" in psychiatrischen Kliniken behandelt worden war, folgende Taten:

Am 2. Juli 2015 rief er wiederholt über den Polizeinotruf im Lage- und Führungszentrum der Polizei an und drohte unter anderem mit der Vernichtung Berlins (Tat 1).

Zwei Tage später beschimpfte er eine Kundin in einem Supermarkt und bezichtigte sie des Diebstahls einer Schale Erdbeeren. Nachdem die Kundin verängstigt das Geschäft verlassen hatte, aß er selbst einen Teil der Erdbeeren und entfernte sich schließlich aus dem Geschäft, ohne diese zu bezahlen (Tat 2). Den Ladendetektiv, der ihn stellte, und die herbeigerufenen Polizeibeamten beschimpfte er ebenso wie unbeteiligte Passanten. Aufgrund seines fremdaggressiven Verhaltens wurde er in eine psychiatrische Fachklinik gebracht.

Am 31. August 2015 steckte er in einem Supermarkt Waren im Wert von 4,77 € in seine Jackentasche und verließ das Geschäft, ohne zu bezahlen. Er wurde wiederum von dem Ladendetektiv gestellt, dem er auf entsprechende Aufforderung in sein Büro folgte. Herbeigerufene Polizeibeamte fanden in der Hosentasche des Angeklagten ein kleines Werkzeugtool mit Messer und in seinem Rucksack einen klappbaren Korkenzieher mit Messer (Tat 3).

Am 16. Oktober 2015 betrat er erneut denselben Supermarkt in dem ihm inzwischen wegen eines weiteren nicht verfahrensgegenständlichen Diebstahls Hausverbot erteilt worden war. Von einer Mitarbeiterin auf dieses Hausverbot angesprochen setzte er seinen Weg durch das Geschäft fort und befüllte seinen Einkaufskorb mit Waren. Als sich die Zeugin unter erneutem Hinweis auf das Hausverbot weigerte, die Waren abzukassieren, begann der Angeklagte, "wild herumzupöbeln", und drohte unter anderem damit, den Laden "abzufackeln". Sodann trat er gegen eine Metallstange, die sich dabei verbog (Tat 4).

Drei Tage später betrat der Angeklagte einen anderen Supermarkt trotz des auch dort bestehenden Hausverbots. Nachdem er von einem Mitarbeiter auf das Hausverbot hingewiesen worden war, entleerte der Angeklagte im Bereich der Kasse aus einer Sporttasche eine Reihe von zuvor den Verkaufsregalen entnommenen Gegenständen (Gesamtwert rund 17 €). Auf die erneute Aufforderung zum Verlassen des Ladens reagierte er aufgeregt und holte mit einer gefüllten Weinflasche gegen den Mitarbeiter aus. Dann zog er ein Brotmesser aus seiner Hosentasche und rannte das Messer ausgestreckt vor sich haltend in den Ausgangsbereich des Geschäfts. Da ihm der Zeuge den Weg verstellte, wich er jedoch aus und wurde schließlich von einem weiteren Zeugen, vor dem der Angeklagte ebenfalls mit dem Messer "herumfuchtelte", in eine Ecke gedrängt. Nachdem dem Angeklagten das Messer aus der Hand gefallen war, gelang es den Zeugen, den Angeklagten bis zum Erscheinen der Polizei festzuhalten. Dabei äußerte dieser, er sei Gott und alle hätten vor ihm niederzuknien (Tat 5).

Am 10. November 2015 nahm der Angeklagte in einem Warenhaus Gegenstände im Gesamtwert von rund 60 € aus den Auslagen und entfernte sich, ohne zu bezahlen (Tat 6). Er wurde von zwei Ladendetektiven verfolgt und in der Fußgängerzone angesprochen. Der Angeklagte beleidigte die Zeugen unter anderem als "Scheiß Kanacken", öffnete seine Hose und urinierte in ihre Richtung, wobei er versuchte, sie mit seinem Urinstrahl zu treffen. Die herbeigerufenen Polizeibeamten brachten ihn erneut in eine psychiatrische Klinik. Auf der Fahrt dorthin drohte der Angeklagte, eine Bombe in Berlin zu zünden.

2. Das Landgericht hat die Taten wie folgt gewertet: Tat 1 als Missbrauch von Notrufen (§ 145 Abs. 1 StGB ), Taten 2, 3 und 6 als Diebstähle (§ 242 Abs. 1 StGB ), Tat 4 als Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Bedrohung und Sachbeschädigung (§ 123 Abs. 1, § 241 Abs. 1 , § 303 Abs. 1 , § 52 Abs. 2 StGB ) und Tat 5 als Diebstahl mit Waffen (§ 242 Abs. 1 , § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB ). Sachverständig beraten ist es zu dem Ergebnis gekommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner seit Jahren bestehenden psychischen Erkrankung bei allen Taten sicher erheblich vermindert, jedoch "auf keinen Fall" gänzlich aufgehoben gewesen sei. Von dem Angeklagten seien weitere "fremdaggressive bedrohliche Handlungen im Bereich von gewalttätigen Konfrontationen, insbesondere auch Messerangriffe, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten". Zwar könnten die Taten "bei oberflächlicher Betrachtung als 'Kleinkriminalität' gewertet werden" (UA S. 32); jedoch zeige gerade Tat 5, dass die häufigen Konfrontationen des Angeklagten mit durch seine Handlungen betroffenen Personen jedenfalls dann eine hohe Gefährlichkeit aufwiesen, wenn er bewaffnet sei.

3. Der Schuldspruch kann nicht bestehen bleiben.

a) Im Fall 5, also derjenigen Tat, auf die das Landgericht die Unterbringungsentscheidung in erster Linie stützt, belegen schon die Feststellungen die Begehung eines Diebstahls nicht (mit Waffen, § 242 Abs. 1 , § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB ). Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte bereits mit dem Hineinlegen der Waren in seine Sporttasche neuen (eigenen) Gewahrsam an den Gegenständen erlangt habe (UA S. 24). Schon dies erscheint zweifelhaft, da nicht ersichtlich ist, ob der Angeklagte die Waren verdeckt oder sichtbar in der geschlossenen oder offenen Sporttasche transportierte. Jedenfalls hat das Landgericht keine Feststellungen dahingehend getroffen, dass der Angeklagte die Waren mit Zueignungsabsicht in seine Sporttasche gelegt hatte. Da er die Tasche im Kassenbereich entleerte, ergibt sich eine zuvor bestehende Zueignungsabsicht auch nicht ohne weiteres aus dem äußeren Tatgeschehen.

Der Senat schließt nicht aus, dass vom neuen Tatgericht insoweit ergänzende Feststellungen getroffen werden können, die einen Gewahrsamsbruch und eine Zueignungsabsicht des Angeklagten belegen.

b) Ungeachtet der an sich zutreffenden rechtlichen Würdigung der übrigen (rechtswidrigen) Taten hebt der Senat den gesamten Schuldspruch auf. Angesichts der im Urteil dargestellten Schwere der psychischen Erkrankung des Angeklagten erscheint es nicht ausgeschlossen, dass seine Schuldfähigkeit zumindest bei Begehung einiger der Taten vollständig aufgehoben war, zumal die zahlreichen früheren Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten jeweils wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden waren. Die "erhalten gebliebene Fähigkeit des Angeklagten, auf Interaktionen zu reagieren", auf die der Sachverständige und mit ihm das Landgericht insoweit abstellen, spricht nach Auffassung des Senats nicht ohne weiteres gegen eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, da sich diese Interaktionen in den Fällen 2, 4, 5 und 6 gerade als "impulshaft" gestört erweisen und teilweise durch geistige Verwirrung gekennzeichnet erscheinen.

4. Hinsichtlich der Anordnung der Maßregel weist der Senat auf Folgendes hin:

Insbesondere wenn das neue Tatgericht im Fall 5 nicht die tatsächlichen Voraussetzungen eine Diebstahls mit Waffen (§ 242 Abs. 1 , § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB ) sondern lediglich diejenigen einer Bedrohung (§ 241 Abs. 1 StGB ) festzustellen vermag, wird es sich angesichts des geringen Gewichts auch der übrigen Anlasstaten mit den Anforderungen des § 63 Satz 2 StGB (in der Fassung vom 8. Juli 2016) auseinanderzusetzen haben. In diesem Zusammenhang kann früheren rechtswidrigen Taten, die wegen Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht zu einer Anklage gekommenen sind, sowie vor allem den im angefochtenen Urteil erwähnten Brandlegungen entscheidende Bedeutung zukommen. Hierzu sind dann jedoch nähere, durch die Beweiswürdigung unterlegte Feststellungen zu treffen.

Vorinstanz: LG Göttingen, vom 12.07.2016