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BFH - Entscheidung vom 23.08.2016

V R 11/13

Normen:
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009
§ 64 Abs 2 S 1 EStG 2009
Art 67 S 1 EGV 883/2004
Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009
EStG VZ 2010
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1
EStG § 64 Abs. 2 S. 1
AO § 46
VO Nr. 883/2004 Art. 67 S. 1
VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2

BFH, Urteil vom 23.08.2016 - Aktenzeichen V R 11/13

DRsp Nr. 2016/18756

Kindergeldberechtigung der in Deutschland ansässigen Mutter polnischer Staatsangehörigkeit für ihr in Polen bei dem von ihr geschiedenen Vater lebenden Kindes Rechtsfolgen der Bevollmächtigung des Vaters mit der Geltendmachung des Kindergeldanspruchs

1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH Urteil vom 10. März 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134 , BStBl II 2016, 612 ). 2. NV: Für den Bezug von Familienleistungen nach ausländischem (hier: polnischem) Recht geltende Einkommensgrenzen sind auf den Kindergeldanspruch nicht anwendbar.

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134 , BStBl II 2016, 612 ). 2. Auch wenn der anspruchsberechtigte Elternteil den nicht anspruchsberechtigten Elternteil bevollmächtigt, den Kindergeldanspruch geltend zu machen, wird Kindergeld nicht gegenüber dem Bevollmächtigten, sondern nur gegenüber dem anspruchsberechtigten Elternteil festgesetzt. 3. Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben. Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht außer Kraft gesetzt werden (Bestätigung der Rechtsprechung). 4. Die Abtretung erfasst nicht die gesamte Rechtsstellung des Kindergeldberechtigten. Übertragen werden kann nur der Zahlungsanspruch im Auszahlungsverfahren, nicht die Antragsberechtigung im Festsetzungsverfahren (vgl. BFH-Rechtsprechung).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 30. Januar 2013 15 K 3230/11 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Normenkette:

EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1 ; EStG § 64 Abs. 2 S. 1; AO § 46 ; VO Nr. 883/2004 Art. 67 S. 1; VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2;

Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige, die in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und als Gewerbetreibende selbständig ist. Sie ist Mutter des 1992 geborenen Sohnes P, der bis 2012 in Polen im Haushalt des von der Klägerin geschiedenen Kindsvaters lebte und dort eine Schule besuchte. Der Kindsvater ist polnischer Staatsangehöriger. Er arbeitet in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Polnische Familienleistungen bezog er nicht.

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag der Klägerin auf Kindergeld für P ab Oktober 2010 ab, da der Kindsvater vorrangig kindergeldberechtigt sei. Den dagegen eingelegten Einspruch wies sie im Oktober 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 795 abgedruckten Urteil statt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Revision.

Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 1. Oktober 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski C–378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C–378/14 (EU:C:2015, 720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst —DStRE— 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.

Die Familienkasse beantragt,

das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Wenn unterstellt werde, dass der Kindsvater in Deutschland lebe, müsse auch die Anwendbarkeit der polnischen Einkommensgrenzen für die Gewährung von Familienleistungen unterstellt werden. Danach scheide ein Anspruch des Kindsvaters aus.

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung ( EStG ). Danach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.

1. Die Familienkasse X der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes , Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Z (Familienkasse) eingetreten (s. dazu Senatsurteil vom 19. September 2013 V R 25/12, BFH/NV 2014, 322 , Rz 11 f.).

2. Die Klägerin ist zwar kindergeldberechtigt, weil sie in Deutschland lebt und Mutter eines Sohnes ist, der seinen Wohnsitz in Polen hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG ) und für den ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da er eine Schule besuchte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ).

Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Kindsvater vorrangig anspruchsberechtigt.

a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) —wie hier die Klägerin nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004— Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501 ).

Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134 , BStBl II 2016, 612 ).

c) So verhält es sich im Streitfall: P lebt im Haushalt des ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsvaters, so dass die Klägerin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Die Einkommensgrenzen nach polnischem Recht sind für den Kindergeldanspruch des Kindsvaters ohne Bedeutung. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 ist im Streitfall über den Kindergeldanspruch zu entscheiden, als würden alle Beteiligten unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen. Die Einkommensgrenzen nach polnischem Recht finden danach keine Anwendung.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO .

Vorinstanz: FG Köln, vom 30.01.2013 - Vorinstanzaktenzeichen 15 K 3230/11