Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerfG - Entscheidung vom 19.08.2015

1 BvR 1917/15

Normen:
BVerfGG § 93a Abs. 2
SGB II § 21 Abs. 6
SGG § 178a
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 1

BVerfG, Beschluss vom 19.08.2015 - Aktenzeichen 1 BvR 1917/15

DRsp Nr. 2015/16432

Gewährung eines Mehrbedarfs für tatsächlich anfallende Fahrtkosten zur Substitutionsbehandlung wegen Drogenabhängigkeit durch den Grundsicherungsträger

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Normenkette:

BVerfGG § 93a Abs. 2 ; SGB II § 21 Abs. 6 ; SGG § 178a; GG Art. 1 Abs. 1 ; GG Art. 20 Abs. 1 ;

Gründe

I.

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen des Landessozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, mit denen eine Fahrtkosten zusprechende Entscheidung des Sozialgerichts aufgehoben und ein Abänderungsantrag des Beschwerdeführers abgelehnt wurde, sowie gegen die damit verbundenen ablehnenden Prozesskostenhilfeentscheidungen.

1. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II . Er ist drogenabhängig und leidet unter einer ausgeprägten Borderlinestörung mit Autoaggressionen und einer mittelgradigen Depression. Wegen der Drogenabhängigkeit befindet er sich in einer täglichen Substitutionsbehandlung, begleitet durch eine psychosoziale Betreuung. Die Fahrtkosten zu dieser Behandlung in Höhe von circa 180 € monatlich übernahm bis einschließlich Januar 2015 der Grundsicherungsträger. Seit Februar 2015 lehnt er die Übernahme der Kosten unter Verweis auf eine Zuständigkeit der Krankenkasse ab.

Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Übernahme der Kosten war vor dem Sozialgericht erfolgreich. Auf die Beschwerde des Grundsicherungsträgers hob das Landessozialgericht den Beschluss des Sozialgerichts mit der Begründung auf, der Beschwerdeführer habe einen Anordnungsanspruch auf einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II nicht glaubhaft gemacht. Er sei darauf zu verweisen, sich wegen der Fahrtkosten zunächst an seine Krankenkasse zu wenden. Den Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers für das Beschwerdeverfahren lehnte das Landessozialgericht mangels Erfolgsaussichten ab.

Gegen den Beschluss des Landessozialgerichts wandte sich der Beschwerdeführer mit einem als Anhörungsrüge bezeichneten Schriftsatz, verbunden mit einem weiteren Prozesskostenhilfeantrag. Das Landessozialgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Bereits im Januar 2015 habe er sich an seine Krankenkasse gewandt und deren abschlägige Entscheidung dem SGB II -Träger vorgelegt. Er habe nun nochmals einen entsprechenden Bescheid besorgt, den er dem Schriftsatz beifüge.

Das Landessozialgericht teilte dem Beschwerdeführer daraufhin mit, dass eine Gehörsverletzung nicht ersichtlich sei, da aufgrund seines bisherigen Vortrags nicht damit zu rechnen gewesen sei, dass er sich bereits an die Krankenkasse gewandt habe; der nun vorgelegte Bescheid sei nach der Beschwerdeentscheidung ergangen. Der Bescheid gebe jedoch Anlass zu einer erneuten Prüfung. Die Anhörungsrüge legte das Landessozialgericht daher als Abänderungsantrag aus und lehnte diesen ab. Zwar sei aufgrund des ablehnenden Bescheids der Krankenkasse nunmehr davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf die Fahrtkosten gegen den Grundsicherungsträger nach § 21 Abs. 6 SGB II zustehe. Dies gelte allerdings nur für die Kosten zur nächstgelegenen ärztlichen Praxis. Im Schriftverkehr zwischen dem Landessozialgericht und den Beteiligten des Ausgangsverfahrens habe der Grundsicherungsträger mehrere Praxen benannt, in denen der Beschwerdeführer näher am Wohnort behandelt werden könne. Er habe nicht zu allen stichhaltige Gründe genannt, warum er keine dieser Praxen in Anspruch nehmen könne. Im Übrigen bestehe ein Anspruch auf Erstattung in Höhe der Fahrtkosten zu einer ärztlichen Behandlung bei einem örtlich näher praktizierenden Arzt nicht, wenn diese Behandlung nicht wahrgenommen werde. Den erneuten Prozesskostenhilfeantrag lehnte das Gericht wiederum mangels Erfolgsaussichten ab.

2. Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde, die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden ist, rügt der Beschwerdeführer Verletzungen von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG , von Art. 2 Abs. 1 , 2 GG und von Art. 19 Abs. 4 GG . Hinsichtlich der die Prozesskostenhilfe ablehnenden Entscheidungen rügt er eine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG ), da sie zum Teil unzulässig ist (dazu 1.) und im Übrigen kein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt (dazu 2.).

1. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Hauptsacheentscheidungen des Landessozialgerichts ist unzulässig, da sie den Grundsatz der Subsidiarität nicht wahrt. Zwar ist davon auszugehen, dass ein Mehrbedarf für tatsächlich anfallende Fahrtkosten zur Substitutionsbehandlung nach § 21 Abs. 6 SGB II zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums jedenfalls in dem Umfang bestehen kann, in dem Fahrtkosten für eine nicht in Anspruch genommene Behandlung in einer näheren Praxis angefallen wären. Doch hat der Beschwerdeführer nicht alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen, um die insofern geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Dazu gehört es insbesondere, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit einer Anhörungsrüge anzugreifen, wenn das Fachgericht in diesem Verfahren auch andere Grundrechtsverletzungen beseitigen kann (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 - 1 BvR 644/05 -, www.bverfg.de, Rn. 10). Die Anforderung, Rechtsbehelfe einzulegen, steht zwar unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit (stRspr, vgl. nur BVerfGE 132, 99 <117 Rn. 45>). Daher müssen Beschwerdeführende aus Gründen der Subsidiarität eine Anhörungsrüge oder den sonst gegen eine Gehörsverletzung gegebenen Rechtsbehelf nur dann ergreifen, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren den Rechtsbehelf ergreifen würden (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28>). Dies ist hier der Fall. Der Beschwerdeführer führt selbst aus, das Landessozialgericht habe ihm den Schriftsatz mit den vom Grundsicherungsträger benannten Ärzten nicht vollständig übermittelt, so dass er sich nicht an alle habe wenden und hierzu vortragen können. Damit lagen ein Gehörsverstoß und folglich auch die Anhörungsrüge nach § 178a SGG nahe. Das Anhörungsrügeverfahren gegen diese zweite Entscheidung des Landessozialgerichts hätte dem Fachgericht die Möglichkeit gegeben, eine etwaige Verletzung des Rechts auf die Sicherung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG durch die gänzliche Versagung von Fahrtkosten zu beseitigen.

Die Anhörungsrüge ist auch nicht unzumutbar, weil diese zweite Entscheidung des Landessozialgerichts auf eine (so bezeichnete) Anhörungsrüge des Beschwerdeführers erging. Das Landessozialgericht hatte ausdrücklich klargestellt, dass es über einen Abänderungsantrag entschied, und die Entscheidung ersichtlich auf Umstände gestützt, die sich erst nach der ersten Entscheidung ergeben hatten. Damit handelte es sich um eine selbstständige Sachentscheidung, die mit der Anhörungsrüge angreifbar war.

2. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Entscheidungen des Landessozialgerichts richtet, mit denen es die Prozesskostenhilfe ablehnte, ist sie mangels Annahmegründen im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Zwar hat das Landessozialgericht nicht berücksichtigt, dass dem Beschwerdeführer - als Gegner im Beschwerdeverfahren - für dieses Verfahren nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Prozesskostenhilfe ohne Prüfung der Erfolgsaussichten zu bewilligen gewesen wäre. Auch kann es den Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit verletzen, wenn im anschließenden Abänderungsverfahren die klärungsbedürftige Rechtsfrage zum Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in das Prozesskostenhilfeverfahren vorverlagert wird. Doch muss dies hier nicht entschieden werden, da kein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt (BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Das besondere Gewicht der geltend gemachten Grundrechtsverletzung ist nur gegeben, wenn eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten zu besorgen ist, diese geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten, auf einer groben Verkennung des grundrechtlich gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt. Das ist hier nicht ersichtlich. Die mögliche Rechtsverletzung trifft den Beschwerdeführer auch nicht in existentieller Weise, da die nach § 183 Satz 1 SGG gerichtskostenfreien Verfahren, auf die sich die Prozesskostenhilfe beziehen sollte, bereits abgeschlossen sind; so kann der Zweck der Prozesskostenhilfe nicht mehr erreicht werden. Dem Beschwerdeführer sind auch keine weiteren Kosten entstanden, von denen er durch eine nachträgliche Prozesskostenhilfebewilligung freigehalten werden könnte.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

III.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG; vgl. BVerfGE 13, 127 ; 102, 197 <198, 224>).

IV.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: LSG Rheinland-Pfalz, vom 16.04.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 3 AS 168/15
Vorinstanz: LSG Rheinland-Pfalz, vom 06.07.2015 - Vorinstanzaktenzeichen 3 AS 240/15