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BSG - Entscheidung vom 05.05.2015

B 10 ÜG 19/14 B

Normen:
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1- 2
GVG § 198 Abs. 1 S. 2

BSG, Beschluss vom 05.05.2015 - Aktenzeichen B 10 ÜG 19/14 B

DRsp Nr. 2015/15876

Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens Kriterien für die Angemessenheit Umstände des Einzelfalls Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung

1. Wie der Senat bereits entschieden hat, richtet sich die Angemessenheit gemäß § 198 Abs. 1 S. 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles. 2. Zu den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls zählen demnach insbesondere Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. 3. Dabei ergibt sich die von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG genannte Bedeutung eines Verfahrens aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten 4. Zur Bedeutung der Sache i.S. von § 198 Abs. 1 S. 2 GVG trägt dabei im Kontext des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz maßgeblich das Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung bei. 5. Entscheidend ist deshalb auch, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition des Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auf 9600 Euro festgesetzt.

Normenkette:

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1 - 2; GVG § 198 Abs. 1 S. 2;

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem SG München ( S 35 AL 428/04) und dem Bayerischen LSG (L 9 AL 139/08) in Höhe von 9600 Euro.

Die Klägerin hatte im Ausgangsverfahren im Wege einer am 16.3.2004 erhobenen Untätigkeitsklage begehrt, die Bundesagentur für Arbeit zu verurteilen, ihren Antrag auf Arbeitslosengeld für den Zeitraum vom 18.8. bis 17.9.1995 zu bescheiden. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Gerichtsbescheid vom 2.5.2008; Berufungsurteil vom 29.7.2010). Das Ausgangsverfahren endete im Dezember 2010 mit der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin durch das BSG (Beschluss vom 29.12.2010 - B 11 AL 107/10 B).

Ihre daraufhin wegen der Dauer des Ausgangsverfahrens erhobene Entschädigungsklage war nur teilweise erfolgreich. Das LSG hat zwar eine mit 50 Monaten unangemessen lange Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 428/04 vor dem SG München festgestellt (Urteil vom 23.5.2014). Gleichwohl stehe der Klägerin eine Entschädigung in Geld nicht zu, weil nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 4 GVG ausreichend sei. Die Sache sei für sie von geringer Bedeutung gewesen: Es handele sich nur um einen geringen streitigen Zeitraum, den die Klägerin zudem erst nach achteinhalb Jahren geltend gemacht habe. Nach so langer Zeit sehe die Rechtsordnung die Durchsetzung von Ansprüchen im Regelfall nicht mehr vor, wie etwa die Rechtsinstitute der Verwirkung, der Verjährung sowie das Verbot widersprüchlichen Verhaltens zeigten.

Nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten (Beschluss vom 24.11.2014) hat die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, die Rechtssache weiche von der Rechtsprechung des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) und ihr komme grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ). Ungeklärt sei bislang insbesondere, ob die "Bedeutung des Verfahrens" gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG aus der Sicht der Verfahrensbeteiligten oder objektiv, aus der Sicht der Gerichtsinstanz, zu beurteilen sei.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist insgesamt zulässig, aber unbegründet.

1. Soweit die Klägerin das Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ) rügt, genügt die Beschwerde nicht den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG .

Eine Abweichung (Divergenz) iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann ausreichend dargetan, wenn die Beschwerdebegründung schlüssig erklärt, mit welchem genau bestimmten entscheidungserheblichen Rechtssatz das angegriffene Urteil des LSG von welcher genau bestimmten rechtlichen Aussage des BSG , des GmSOGB oder des BVerfG abweicht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29, 54). Dazu genügt es nicht darzulegen, die angefochtene Entscheidung entspreche nicht den Kriterien, die insbesondere das BSG aufgestellt hat, sondern es ist aufzuzeigen, inwiefern das LSG diesen Kriterien ausdrücklich widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29, 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26). Zudem ist anzugeben, inwiefern die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruhen kann (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29, 54, 67).

Diesen Anforderungen hat die Klägerin nicht hinreichend Rechnung getragen. Zwar behauptet sie eine Abweichung des LSG von den Urteilen des BSG vom 21.2.2013 (B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1) und vom 3.9.2014 (B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4). Sie macht insoweit geltend, das LSG verstoße in seinem Urteil vom 23.5.2014 mit seiner tragenden Rechtsauffassung in entscheidungserheblicher Weise gegen Rechtsgrundsätze, die das BSG zur Auslegung des § 198 GVG herausgearbeitet habe. Insbesondere habe der Rechtsstreit für die Klägerin eine erhebliche Bedeutung gehabt. Indes hat es die Klägerin damit bereits versäumt, aus der Entscheidung des LSG sowie aus den genannten Entscheidungen des BSG konkrete Rechtssätze herauszuarbeiten und gegenüberzustellen, die sich widersprechen. Vielmehr kritisiert sie lediglich die Rechtsanwendung des LSG im konkreten Einzelfall. Die Klägerin legt gerade nicht dar, dass das LSG eine eigene, die Entscheidung tragende Rechtsansicht bewusst in Abweichung von der des BSG getroffen hat. Tatsächlich hat sich das LSG die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 23.5.2014 (dort s S 7, 8, 10) ausdrücklich zu eigen gemacht und insbesondere auf die im Urteil des BSG vom 21.2.2013 (aaO) für die Beurteilung der Verfahrensdauer entwickelten Grundsätze abgestellt. Zum BSG -Urteil vom 3.9.2014 (B 10 ÜG 12/13 R, aaO) konnte das LSG keinen abweichenden Rechtssatz entwickeln, da es vorher entschieden hat. Damit hat das LSG zu keinem Zeitpunkt der Auslegung des § 198 GVG durch das BSG widersprochen oder die Absicht erkennen lassen, dafür abweichende eigene Maßstäbe zu entwickeln. Ob das LSG die Vorgaben des BSG im Einzelfall zutreffend angewendet und auf dieser Grundlage richtig entschieden hat - etwa bei der Beurteilung des Verursachungsbeitrags der Klägerin zur Dauer des Berufungsverfahrens - ist nicht zulässiger Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

2. Soweit die Klägerin als Zulassungsgrund eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ) geltend macht, genügt die Beschwerdebegründung zwar den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG . Die Beschwerde hat insoweit jedoch in der Sache ebenfalls keinen Erfolg, denn die Rechtssache hat jedenfalls inzwischen keine grundsätzliche Bedeutung (mehr).

Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (vgl BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Keiner Klärung bedarf die Frage, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht (vgl BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4) oder bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65).

Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob die "Bedeutung des Verfahrens" gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG aus der nachvollziehbaren Sichtweise der Verfahrensbeteiligten oder allein objektiv aus derjenigen des Gerichts zu beurteilen ist, erweist sich zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung als nicht mehr klärungsbedürftig (vgl hierzu BSG Beschluss vom 16.5.2007 - B 11b AS 61/06 B - Juris RdNr 7 mwN). Wie der Senat bereits entschieden hat, richtet sich die Angemessenheit gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles (vgl die Senatsentscheidung vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1). Diese Rechtsprechung hat der Senat in seiner Sitzung vom 3.9.2014 weiterentwickelt. Zu den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls zählen demnach insbesondere Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (vgl Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 22 ff). Dabei ergibt sich die von § 198 Abs 1 S 2 GVG genannte Bedeutung eines Verfahrens aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten (vgl EGMR Urteil vom 8.6.2006 - Individualbeschwerde Nr 75529/01 Sürmeli/Deutschland RdNr 133, NJW 2006, 2389; BVerwGE 147, 146). Zur Bedeutung der Sache iS von § 198 Abs 1 S 2 GVG trägt dabei im Kontext des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz maßgeblich das Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung bei. Entscheidend ist deshalb auch, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition des Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt (vgl BSG , aaO, RdNr 29 mwN; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 35 und Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 38).

In nachfolgenden Entscheidungen hat der Senat die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Geldentschädigung nach § 198 GVG , wie ihn auch die Klägerin verfolgt, weiter konkretisiert. Demnach kommt bei festgestellter Überlänge eines Gerichtsverfahrens eine Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Geldentschädigung gemäß § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 GVG allenfalls ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat ( BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 7/14 R - RdNr 43 - Juris; vgl ebenfalls BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 50).

Die Bedeutung des Verfahrens ist demnach weder, wie die Klägerin meint, überwiegend subjektiv aus der Perspektive des Verfahrensbeteiligten noch allein aus der Sicht der Gerichtsinstanz, sondern nach dem objektivierten Klägerhorizont zu beurteilen, wie ihn der Senat in den zitierten Entscheidungen zugrunde gelegt hat. Davon ist im Übrigen auch das LSG ausgegangen, weil es den im Ausgangsverfahren erst nach langer Zeit eingeklagten Anspruch der Klägerin in einen objektiven zeitlichen Rahmen eingeordnet hat. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage ist damit geklärt. Warum gleichwohl noch Klärungsbedarf fortbestehen sollte, hat die Klägerin bei ihrer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BSG nicht begründen können (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2). Insbesondere hat sie weder dargelegt noch ist sonst ersichtlich, welche Besonderheiten ihr Fall aufweisen sollte, die noch einer grundsätzlichen rechtlichen Einordnung und Klärung bedürften.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO .

4. Die Streitwertentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 52 Abs 1 bis 3 GKG . Da die Klägerin einen immateriellen Schaden in Höhe von 9600 Euro geltend macht, ist der Streitwert in dieser Höhe festzusetzen.

Vorinstanz: LSG Bayern, vom 23.05.2014 - Vorinstanzaktenzeichen L 8 SF 20/12