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BGH - Entscheidung vom 15.10.2015

V ZB 82/14

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 1
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 4
FamFG § 417 Abs. 2 S. 2
RL 2003/110/EG

BGH, Beschluss vom 15.10.2015 - Aktenzeichen V ZB 82/14

DRsp Nr. 2016/460

Anordnung der Haft gegenüber einem Asylbewerber zur Sicherung der Abschiebung nach Russland; Ordnungsgemäße Feststellung der rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der Abschiebung durch das Gericht; Gelingen der Abschiebung innerhalb des beantragten Haftzeitraums als Ergebnis einer Prognose

1. Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nach § 62 Abs. 1 und Abs. 3 S. 4 AufenthG nur angeordnet werden, wenn eine Prognose ergibt, dass die Abschiebung innerhalb des beantragten Haftzeitraums gelingen kann. Diese Prognose ist auch bei der Anordnung einer kürzeren als der in § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG genannten Haftdauer vorzunehmen. 2. Für eine Abschiebung mit einem Direktflug nach Russland ist nicht nach der Richtlinie 2003/110/EG des Rates vom 25. November 2003, sondern nach dem Abkommen zwischen der europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme vom 25. Mai 2006 zu verfahren, das insbesondere andere Nachweise und Fristen vorsieht.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig vom 24. April 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 1 ; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 4; FamFG § 417 Abs. 2 S. 2; RL 2003/110/EG ;

Gründe

I.

Der Betroffene reiste am 4. August 2009 in das Bundesgebiet ein und beantragte wenig später Asyl. Sein Asylantrag wurde durch das zuständige Bundesamt abschlägig beschieden, und zwar zunächst durch einen Bescheid vom 8. Februar 2010 als unzulässig und sodann unter Aufhebung des vorgenannten Bescheides mit einem weiteren Bescheid vom 20. Dezember 2011 als unbegründet. Die für den 6. September 2012 vorgesehene Abschiebung scheiterte daran, dass sich der Betroffene zu dem angekündigten Termin nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft befand. Als er sich am 13. Januar 2014 zur Aufnahme bei der zuständigen Dienststelle der beteiligten Behörde meldete, wurde er festgenommen.

Die beteiligte Behörde hat am gleichen Tag beantragt, gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Russland bis zum 12. Februar 2014 anzuordnen. Diesem Antrag hat das Amtsgericht noch am 13. Januar 2014 entsprochen. Im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens ist der Betroffene aus der Haft entlassen worden, weil nicht absehbar war, wann die russischen Behörden für ihn Passersatzpapiere ausstellen würden. Die - seitdem auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete - Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht als unbegründet zurückgewiesen.

II.

Das Landgericht meint, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei nicht zu beanstanden. Insbesondere fehle es nicht an einem zulässigen Haftantrag. Die beteiligte Behörde habe in ihrem Antrag die nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG erforderlichen Angaben gemacht. Sie habe die im Fall des Betroffenen erforderlichen Schritte zur Durchführung seiner Abschiebung nach Russland im Einzelnen dargelegt.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung lassen sich die Aufrechterhaltung der Haft und die Zurückweisung des Feststellungsantrags des Betroffenen durch das Beschwerdegericht nicht rechtfertigen.

1. Die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung ergibt sich entgegen der Ansicht des Betroffenen nicht schon daraus, dass ihr ein zulässiger Haftantrag nicht zugrunde gelegen hätte.

a) Die Angaben der beteiligten Behörde zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zur erforderlichen Dauer der anzuordnenden Haft waren allerdings in der Sache unrichtig. Sie beruhen auf der unzutreffenden Annahme, für die Abschiebung des Betroffenen nach Russland sei das in der Richtlinie 2003/110/EG des Rates vom 25. November 2003 über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg (ABl. EU Nr. L 321 S. 26) festgelegte Verfahren einzuhalten. Das Verfahren nach dieser Richtlinie ist nur einzuhalten, wenn die Rückführung eines Betroffenen in sein Heimatland auf dem Luftweg erfolgen soll, aber nicht mit einem Direktflug erfolgen kann, sondern eine Zwischenlandung auf einem Flughafen in einem anderen Mitgliedsstaat der europäischen Union erfordert (Art. 1, Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie). Die Richtlinie regelt auch nicht die Verpflichtungen des Heimatlandes des Betroffenen zur Rücknahme, sondern ausschließlich die Unterstützungsverpflichtungen des Mitgliedstaats der Europäischen Union, auf dessen Flughafen die Zwischenlandung erfolgen soll. Für die hier vorgesehene Abschiebung des Betroffenen mit einem Direktflug nach Russland ist nicht nach der genannten Richtlinie, sondern nach dem Abkommen zwischen der europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme vom 25. Mai 2006 (genehmigt durch den Beschluss des Rates vom 19. April 2007, ABl. EU Nr. L 129 S. 38) zu verfahren, das insbesondere andere Nachweise und Fristen vorsieht.

b) Dieser Fehler der beteiligten Behörde ändert aber an der Zulässigkeit des von ihr gestellten Haftantrages nichts. Die beteiligte Behörde musste in dem Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG darlegen, auf welcher Grundlage die Abschiebung erfolgen sollte, welche Schritte hierfür erforderlich waren und welchen Zeitraum sie jeweils in Anspruch nahmen (Senat, Beschluss vom 16. Juli 2014 - V ZB 80/13, InfAuslR 2014, 384 Rn. 16). Dem hat die beteiligte Behörde entsprochen. Sie hat dargelegt, dass sie die Abschiebung auf der Grundlage der Richtlinie 2003/110/EG durchführen wollte. Sie hat das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Verfahren zutreffend beschrieben. Das trifft entgegen der Auffassung des Betroffenen auch für die Darlegung der beteiligten Behörde zu, zuerst den Flugschein beschaffen und erst dann das Ersuchen stellen zu wollen. Denn diese Vorgehensweise wird in den nach der Richtlinie zu verwendenden Formularen vorausgesetzt. Ob die der Beschreibung der beteiligten Behörde zugrundeliegende Annahme zutrifft, die Rückführung des Betroffenen habe nach der Richtlinie zu erfolgen, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern eine Frage der Begründetheit des Haftantrags (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - V ZB 214/12, [...] Rn. 9).

2. Es lässt sich dennoch nicht ausschließen, dass die Haftanordnung den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Bislang ist nämlich entgegen § 26 FamFG nicht ordnungsgemäß aufgeklärt, auf welcher Tatsachengrundlage bei Erlass der Haftanordnung die Prognose gerechtfertigt war, die beabsichtigte Abschiebung des Betroffenen werde bei dem gebotenen Vorgehen nach dem genannten Abkommen vom 25. Mai 2006 in dem beantragten Zeitraum gelingen.

a) Haft zur Sicherung der Abschiebung darf nach § 62 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 4 AufenthG nur angeordnet werden, wenn eine Prognose ergibt, dass die Abschiebung innerhalb des beantragten Haftzeitraums gelingen kann. Das gilt nicht nur, wenn eine Sicherungshaft von drei Monaten verhängt werden soll, die § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG ausdrücklich anspricht. Diese Prognose ist auch bei der Anordnung einer kürzeren Haftdauer vorzunehmen, um die es hier ging (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Mai 2011 - V ZB 265/10, FGPrax 2011, 201 Rn. 9). Sie erfordert eine Feststellung der rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der zu sichernden Abschiebung und ist nach § 26 FamFG von dem Richter von Amts wegen vorzunehmen (Senat, Beschluss vom 11. Mai 2011 - V ZB 265/10 aaO Rn. 8 f.).

b) Diesen Anforderungen ist das Amtsgericht nicht gerecht geworden. Es hat die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der Abschiebung nicht (ordnungsgemäß) festgestellt. In seinem Beschluss hat es sich darauf beschränkt, die Ausführungen der beteiligten Behörde zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur erforderlichen Dauer der Haft aus dem Haftantrag wörtlich wiederzugeben und hinzuzusetzen, es schließe sich dem an. Das war unzureichend. Die nach § 26 FamFG gebotene Überprüfung der Angaben der beteiligten Behörde hätte ergeben, dass schon die genannte Rechtsgrundlage der beabsichtigten Abschiebung aus den dargelegten Gründen nicht einschlägig war und infolgedessen deren übrige Angaben nicht als Grundlage der anzustellenden Prognose taugten.

c) Die Prognose hat das Beschwerdegericht nicht nachgeholt. Es hat sich zwar mit der Frage befasst, ob die gegen den Betroffenen angeordnete Haft zu lang gewesen sein könnte, und diese Frage verneint. Es hat sich aber nicht mit der Frage befasst, ob und aus welchen Gründen die Erwartung gerechtfertigt war, die Abschiebung des Betroffenen könne in dem beantragten Zeitraum gelingen. Für das Rechtsbeschwerdeverfahren ist deshalb zu unterstellen, dass eine ausreichende Tatsachengrundlage hierfür fehlte. Sollte sich das bestätigen, hätte das Beschwerdegericht die angeordnete Haft nicht mit Einschränkungen aufrechterhalten dürfen, sondern feststellen müssen, dass sie den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

IV.

Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif, weil die erforderlichen Feststellungen zu der gebotenen Prognose fehlen. Diese können nachgeholt werden. Dem anwaltlich vertretenen Betroffenen kann rechtliches Gehör zu dem Ergebnis der weiteren Sachaufklärung gewährt werden. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichts zur anderweiten Behandlung und Entscheidung an dieses zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG ).

Das Beschwerdegericht wird unter Berücksichtigung der Dauer der Vorbereitung der früheren Abschiebung des Betroffenen im Jahr 2012 aufzuklären haben, ob und auf welchen Tatsachengrundlage bei Anordnung der Haft die Aussicht bestanden hat, den Betroffenen bis zum Ende der beantragten Haft nach Russland abzuschieben. Dabei wird auch zu klären sein, ob sich die beteiligte Behörde bei den russischen Behörden vor dem Haftantrag nach dem voraussichtlichen Zeitaufwand für die Beschaffung der Ersatzpapiere insbesondere nach den Möglichkeiten einer Abkürzung des Verfahrens mit Blick auf die frühere Abschiebung erkundigt hat und was eine solche Erkundigung ergeben hat oder, wenn sie nicht erfolgt sein sollte, ergeben hätte.

Vorinstanz: AG Braunschweig, vom 13.01.2014 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 1/14
Vorinstanz: LG Braunschweig, vom 24.04.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 8 T 60/14