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BFH - Entscheidung vom 18.08.2015

V R 2/15

Normen:
§ 152 AO
§ 367 Abs 2 AO
AO § 152

BFH, Urteil vom 18.08.2015 - Aktenzeichen V R 2/15

DRsp Nr. 2015/17888

Kriterien für die Höhe des Verspätungszuschlags wegen verspäteter Abgabe der Umsatzsteuerjahreserklärung

1. NV: Aus § 367 Abs. 2 AO , wonach die Finanzbehörde befugt ist, den Verwaltungsakt "im vollen Umfang" zu prüfen, ergibt sich, dass sie im Einspruchsverfahren gegen einen Ermessensverwaltungsakt nicht nur auf eine Prüfung der Ermessensgrenzen reduziert ist, sondern eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen hat, die auch zum Nachteil des Einspruchsführers führen kann. 2. NV: Ist durch die Voranmeldung die Jahressteuerschuld bereits nahezu vollständig getilgt worden, kann ein die Höhe der Abschlusszahlung übersteigender Verspätungszuschlag aus erzieherischen Gründen nur bei besonderer Schwere der Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden.

Die Festsetzung eines Verspätungszuschlags in Höhe von 1.500 EUR wegen verspäteter Abgabe der Umsatzsteuererklärung ist bei nur geringfügiger Abschlusszahlung ermessensfehlerhaft, auch wenn in den Vorjahren die Umsatzsteuerjahreserklärungen verspätet abgegeben wurden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Dezember 2014 8 K 8083/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Normenkette:

AO § 152 ;

Gründe

I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Verspätungszuschlages zur Umsatzsteuer 2010 in Höhe von 1.500 € bei geringfügiger Nachzahlung.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine Steuerberatungsgesellschaft in der Rechtsform einer GmbH. Nachdem sie die Umsatzsteuererklärung 2007 mit dreieinhalbmonatiger Verspätung und die Erklärung für 2009 mit 7 Tagen Verspätung eingereicht hatte, forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) die Umsatzsteuererklärung 2010 vorzeitig zum 30. September 2011 an. Nachdem auch diese Erklärung nicht fristgerecht eingegangen war, erließ das FA am 20. Oktober 2011 einen Schätzungsbescheid, verbunden mit der Festsetzung eines Verspätungszuschlages von 480 €, gegen die die Klägerin Einspruch erhob. Nach Eingang der Steuererklärung am 17. November 2011 setzte das FA den Schätzungsbescheid auf 156.196 € herab, sodass eine Nachzahlung von noch 200,46 € verblieb. Den Verspätungszuschlag minderte es von 480 € auf 100 €.

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein mit der Begründung, sie habe die Anforderung der Steuererklärung übersehen und sei nicht an die vorzeitige Abgabe erinnert worden. Mit Schreiben vom 27. Januar 2012 wies das FA darauf hin, dass es beabsichtige, in Bezug auf den Verspätungszuschlag zu verbösern, da auch in den Vorjahren die Steuererklärungen verspätet abgegeben worden seien (2006: 7 Tage, 2007: 3,5 Monate, 2010: 1,5 Monate). Im Hinblick auf die nur geringfügige Nachzahlung von 200,46 € in 2010 halte das FA einen Verspätungszuschlag von 0,967 % der festgesetzten Steuer (= 1.500 €) für ermessensgerecht.

Nachdem die Klägerin den Einspruch nicht zurückgenommen hatte, erließ das FA am 29. März 2012 eine Einspruchsentscheidung, in der sie den Verspätungszuschlag —wie angekündigt— auf 1.500 € erhöhte. Die Finanzbehörde habe gemäß § 367 Abs. 2 der Abgabenordnung ( AO ) die Sache in vollem Umfang neu zu prüfen. Die Klägerin habe den Ablauf der Veranlagungstätigkeit erheblich gestört, weil sie die vorzeitig angeforderte Steuererklärung erst nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eingereicht habe. Angesichts der Dauer der Überschreitung von 6 Wochen und dem verzögerten Abgabeverhalten in den Vorjahren sowie der geringen Nachzahlung im Verhältnis zur festgesetzten Umsatzsteuer halte es "betragsmäßig als auch prozentual" den Verspätungszuschlag von 1.500 € für angemessen.

Hiergegen erhob die Klägerin Klage vor dem Finanzgericht (FG) mit der Begründung, das FA dürfe sein Ermessen nur einmal ausüben. Eine Verböserung im Einspruchsverfahren setze voraus, dass sich der zugrunde gelegte Sachverhalt im Verlauf des Einspruchsverfahrens wesentlich geändert habe, woran es fehle. Die Verböserung dokumentiere eine unsachliche Entscheidung zu Lasten eines wegen zahlreicher Streitigkeiten "offenkundig nicht geliebten" Steuerpflichtigen.

Das FG wies die Klage ab. Das FA habe auch im Hinblick auf die Verböserung ermessensfehlerfrei entschieden. Das FG folge nicht der Entscheidung des FG Rheinland-Pfalz vom 20. März 1998 3 K 2262/96 (juris), wonach eine Verböserung im Einspruchsverfahren nur bei Änderung der Ermessenskriterien zulässig sei. Angesichts des bisherigen Abgabeverhaltens seien sachfremde Erwägungen wie ein Verstoß gegen das Übermaßverbot nicht zu erkennen. Aus den Ausführungen des FA ergebe sich, dass nach dessen Auffassung der ursprünglich festgesetzte Zuschlag von nur 100 € nicht im angemessenen Verhältnis zur festgesetzten Steuer stehe.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Eine Verböserung im Einspruchsverfahren sei bei Ermessensentscheidungen nur bei gravierender Veränderung der Situation, des Verhaltens, der Beträge oder sonstiger Kriterien die zu neuen Ergebnissen führen möglich.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des FG sowie den Änderungsbescheid über den Verspätungszuschlag aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das FA habe auch bei einer Ermessensentscheidung im Einspruchsverfahren die Sache in vollem Umfang zu überprüfen und ggf. eine erneute Ermessensentscheidung zu treffen.

II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung und Zurückverweisung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FA war zwar zur Festsetzung eines Verspätungszuschlages berechtigt und hat auch die Voraussetzungen für eine Verböserung im Rahmen einer Einspruchsentscheidung beachtet. Ein Verspätungszuschlag in der Höhe von 1.500 € bei geringfügiger Abschlusszahlung ist jedoch ermessensfehlerhaft (§ 102 FGO ).

1. Nach § 152 AO kann das FA gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgerecht nachkommt, einen Verspätungszuschlag festsetzen, wenn das Versäumnis nicht entschuldbar erscheint. Die Höhe des Verspätungszuschlages darf 10 % der festgesetzten Steuer und den Betrag von 25.000 € nicht überschreiten. Der Sinn und Zweck des Verspätungszuschlages besteht als Druckmittel eigener Art in einem zugleich repressiven und präventiven (erzieherischen) Charakter (BFH-Urteil vom 18. November 1986 VIII R 183/84, BFH/NV 1987, 416 , Rz 16). Es soll die Störung der Veranlagungsarbeit durch den verzögerten oder unterbliebenen Eingang der Steuererklärung sanktioniert werden und der Steuerpflichtige für die Zukunft zur pünktlichen Abgabe der Steuererklärung angehalten werden. Diesem Zweck entsprechend sind bei der Bemessung der Höhe des Verspätungszuschlages neben seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Erklärungsabgabe zu veranlassen, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe gezogenen Vorteile sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Bei der Gewichtung dieser Kriterien handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des FA, die gemäß § 102 FGO gerichtlich lediglich auf Ermessensfehler zu überprüfen ist (Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 29. März 2007 IX R 9/05, BFH/NV 2007, 1617 ).

2. Nach diesen Maßstäben ist die Festsetzung eines Verspätungszuschlages zwar dem Grunde nach —auch im Rahmen einer Verböserung (s. unten 3.)— gerechtfertigt, weil die Klägerin die Umsatzsteuererklärung 2010 trotz vorzeitiger Anforderung schuldhaft erst mit einer Verspätung von 6 Wochen eingereicht hatte, in ihrer Höhe aber ermessensfehlerhaft (s. unter 4.).

3. Die Verböserung des zunächst auf nur 100 € festgesetzten Verspätungszuschlages im Einspruchsverfahren ist grundsätzlich zulässig.

a) Gemäß § 367 Abs. 2 AO hat die Finanzbehörde im Einspruchsverfahren den Verwaltungsakt "in vollem Umfang erneut" zu prüfen. Sie kann den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Einspruchsführers ändern, wenn der Einspruchsführer zuvor auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu äußern. Für Einspruchsentscheidungen hinsichtlich einer Ermessensentscheidung gilt nichts anderes: Die Rechtsbehelfsstelle hat eine eigenständige Ermessensentscheidung nach der sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage zu treffen (BFH-Beschluss vom 19. November 2007 VIII B 30/07, BFH/NV 2008, 335 ; Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 365 AO Rz 114; a.A. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. März 1998 3 K 2262/96, juris). Dies ergibt sich aus dem unterschiedlichen Prüfungsmaßstab einer Ermessensentscheidung für Gerichte in § 102 FGO (eingeschränkte Prüfung nur auf Ermessensfehler) und der Rechtsbehelfsstelle des FA im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 AO (Überprüfung "im vollen Umfang").

b) Der Kläger beruft sich zu Unrecht auf den BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 335 , der im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde zur Ablehnung einer Divergenz zu den Rechtsausführungen der Vorinstanz ausgeführt hat, dass im dortigen Streitfall nach der erstmaligen Festsetzung des Verspätungszuschlages in der weiterhin nicht erfolgten Abgabe der Steuererklärung eine Intensivierung des Verspätungszeitraums gelegen habe, die auch nach den Maßstäben der Vorinstanz zu einer Änderung der Sachlage führen würde. Die Rechtsauffassung des BFH, wonach auch bei Ermessensentscheidungen eine Prüfung in vollem Umfang erfolgen muss, ergibt sich aus Leitsatz 1 der Entscheidung.

c) Entgegen der Darstellung der Klägerin hat das FA auch die weitere Voraussetzung erfüllt, wonach gemäß § 367 Abs. 2 AO der Rechtsbehelfsführer vor der Verböserung unter Angabe von Gründen hierauf hingewiesen wurde. Wie das FG zutreffend ausführt, hat das FA in seinem Hinweis im Schreiben vom 27. Januar 2012 die Verböserung des Verspätungszuschlages von 100 € damit begründet, dass das FA nunmehr auch die Verspätungen in den Vorjahren mit einbezogen habe. Eine mehrfache Verspätung in den Vorjahren kann auch dann zu Lasten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, wenn in den Vorjahren noch kein Verspätungszuschlag festgesetzt worden sein sollte (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1617 ).

4. Das FG hat jedoch nicht berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des BFH neben der Anzahl und Dauer der Verspätung der Höhe der Abschlusszahlung ein erhebliches Gewicht beizumessen ist. Nach den BFH-Urteilen vom 15. März 2007 VI R 29/05 (BFH/NV 2007, 1076 ) und vom 8. Dezember 1988 V R 169/83 (BFHE 155, 46 , BStBl II 1989, 231 ) stellt die Höhe der Abschlusszahlung die Richtschnur für die Bemessung der Höhe des Zuschlages dar. Zwar kann ein Verspätungszuschlag aus erzieherischen Gründen auch dann festgesetzt werden, wenn die geschuldete Steuer —wie im Streitfall— aufgrund der Voranmeldungen fast oder insgesamt bereits gezahlt worden war (hier 200,46 € Nachzahlung von im Verhältnis zur Steuer von 156.196 €). In diesen Fällen ist unter den Gesichtspunkten der Vorteilsziehung und des Verschuldens nachvollziehbar abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten Abgabe der Steuererklärung noch zukommt, nachdem die geschuldete Steuer fast vollständig entrichtet worden ist. Zuschläge, die den Charakter steuerlicher Sanktionen haben, dürfen nicht außer Verhältnis zur Schwere des Verstoßes des Steuerpflichtigen gegen seine Pflichten stehen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Salomie und Oltean vom 9. Juli 2015 C–183/14, EU:C:2015:454, Rz 51). Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des Senats ein die Abschlusszahlung übersteigender Verspätungszuschlag nur bei besonderer Schwere der Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden (BFH-Beschluss vom 14. April 2011 V B 100/10, BFH/NV 2011, 1288 ).

5. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird in einem erneuten Verfahren unter Berücksichtigung dieser Ermessensrichtlinien erneut über die Höhe des Verspätungszuschlages entscheiden und hierbei dem FA gemäß § 102 Satz 2 FGO Gelegenheit geben, ggf. seine Ermessenserwägungen zu ergänzen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO .

Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg, vom 09.12.2014 - Vorinstanzaktenzeichen 8 K 8083/12