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BGH - Entscheidung vom 06.08.2014

1 StR 63/14

Normen:
StPO § 261

BGH, Urteil vom 06.08.2014 - Aktenzeichen 1 StR 63/14

DRsp Nr. 2014/14564

Auswertung eines Tatablaufs durch Zusammenschau sämtlicher Beweismittel in einem Strafverfahren

Tenor

Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 27. September 2013 wird verworfen.

Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Normenkette:

StPO § 261 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen vom Vorwurf des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin freigesprochen. Die Revision der Nebenklägerin, die mit der Sachrüge und Verfahrensbeanstandungen begründet wird, bleibt erfolglos.

I.

1. Dem Angeklagten liegt gemäß der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage zur Last, am 31. Oktober 2012 zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr in der Küche des gemeinsam bewohnten Anwesens in A. seine damalige Lebensgefährtin, die Nebenklägerin, durch einen mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten wuchtigen Stich mit einem spitzen Steakmesser (Filetiermesser) in den Bauchbereich lebensgefährlich verletzt zu haben; zudem habe er der Nebenklägerin weitere Verletzungen mit dem Messer zugefügt, als diese um Hilfe rufend nach draußen gegangen sei.

2. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:

Der Angeklagte und die Nebenklägerin kennen sich seit 1997 und unterhielten seitdem intime Beziehungen. Während ihrer Beziehung wurde der Angeklagte mehrmals unter Alkoholeinfluss ohne Anlass gegenüber der Nebenklägerin gewalttätig, zuletzt im Jahr 2006. Beim letzten Vorfall schlug der Angeklagte die Nebenklägerin mit der Faust ins Gesicht und schlug so auf sie ein, dass sie zu Boden ging. Anschließend trat er mit seinen beschuhten Füßen auf sie ein, so dass sie am nächsten Tag ins Krankenhaus gebracht werden musste, wo ein Rippenbruch festgestellt wurde. Im Rahmen einer dieser Auseinandersetzungen hatte die Nebenklägerin nach einem Schlag durch den Angeklagten in einem Lokal ein Bierglas zerschlagen und versucht, sich mit einer Scherbe die Pulsadern aufzutrennen, um auf sich aufmerksam zu machen. Dies führte zu einer einwöchigen psychiatrischen Behandlung der Nebenklägerin.

Nachdem der 22 Jahre ältere Ehemann der Nebenklägerin, der von der Beziehung seiner Ehefrau mit dem Angeklagten wusste und sie duldete, im Jahr 2010 verstorben war, beabsichtigten der Angeklagte und die Nebenklägerin, im Jahr 2013 zusammenzuziehen. Weil sich die finanzielle Situation des Angeklagten deutlich verschlechterte, musste er seine Wohnung aufgeben und zog schon im September 2012 bei der Nebenklägerin ein.

Am 31. Oktober 2012 tranken beide – gemäß einer länger donnerstags geübten Gewohnheit – gemeinsam ab 18.00 Uhr in einer Gaststätte. Mit dem Taxi ging es nach dem Konsum erheblicher Mengen Alkohol gegen 22.00 Uhr nach Hause, wo Nachbarn das angetrunkene Paar dabei beobachteten, wie es alkoholbedingt Schwierigkeiten beim Gehen und beim Öffnen der Tür hatte. Die Nebenklägerin ging in die Küche und begann dort, für eine Linsensuppe Kartoffeln zu schneiden. Der Angeklagte legte seine Lederjacke ab und entkleidete sich bis auf T-Shirt und Unterhose.

Im Rahmen eines von der Kammer nicht weiter aufklärbaren Geschehensablaufs erlitt die Nebenklägerin neben mehreren Schnittwunden an der linken Hand und am Unterarm eine kleine blutende Verletzung am rechten Zeigefinger sowie eine tiefe und lebensgefährliche Stichverletzung im Oberbauch, durch die sowohl die Magenvorderwand wie auch die Magenhinterwand durchstoßen und die Bauchspeicheldrüse verletzt wurde. Der Angeklagte erlitt eine 10 cm lange Schnittverletzung an der linken Innenhand als auch eine weitere parallele Hautdurchtrennung. Zu diesem Zeitpunkt wirkte auf den Angeklagten eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,82 Promille ein. Die der Nebenklägerin entnommene Blutprobe wies eine Blutalkoholkonzentration von 1,62 Promille auf.

Kurz nach 23.00 Uhr befanden sich der Angeklagte und die Nebenklägerin vor der Haustür des Wohnanwesens. Auf dem Boden lag ein verbogenes Steakmesser (Filetiermesser). Die blutende Nebenklägerin saß auf der Gartenbank und rief um Hilfe. Der erheblich alkoholisierte und an der Hand blutende Angeklagte versuchte, sie dazu zu bewegen, mit ihm in das Haus zurückzugehen, was sie aber wiederholt ablehnte. Als ein durch die Hilferufe aufmerksam gewordener Nachbar herbeikam, zeigte die Nebenklägerin ihm den Bauchstich und sagte: „Der Arsch hat mir zweimal das Messer in den Bauch gesteckt“ (bzw. „gerammt“). Auch gegenüber einem weiteren Nachbarn erklärte die Nebenklägerin, dass der Angeklagte sie gestochen habe; dieser kommentierte dies mit den Worten „Ja, ich, ganz bestimmt, ich war ja immer alles!“ gegenüber einem Zeugen, der ihn ins Wohnhaus zurückbrachte, äußerte der Angeklagte: „So weit kann einen eine Frau bringen!“. Zu den eintreffenden Rettungssanitätern sagte die Nebenklägerin „Der gehört doch weggesperrt, der Vollidiot!“ und „Der ist voll auf mich losgegangen“. Zudem erklärte sie, dass sie mit dem Angeklagten nach einem Schoppen nach Hause gekommen sei, sie alles gemacht habe und er sie niedergestochen habe. Als dem Angeklagten am nächsten Tag der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts eröffnet wurde, erklärte er bezogen auf die Nebenklägerin „Ist die bekloppt oder was?“ und erläuterte, dass er einen Stich in die linke Hand bekommen habe, er aber nicht wisse, was passiert sei. In einem im Mai 2013 verfassten Brief schrieb der Angeklagte bezüglich der Nebenklägerin: „Wäre die Prozessgegnerin meinem Wunsche am 31.10.2012 um 20.00 h gefolgt, wäre die peinliche Auseinandersetzung zwischen uns wahrscheinlich nicht erfolgt.“

3. Zur Beweiswürdigung des Landgerichts:

Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung lediglich Angaben zur Vorgeschichte gemacht, nicht aber zum Tattag. Gegenüber dem Ermittlungsrichter hatte er die Geschehnisse am Tattag einschließlich der Taxifahrt geschildert und gemeint, alles sei in Ordnung gewesen, er könne sich auch nicht vorstellen, dass man anschließend einen heftigen Streit gehabt habe. Er wisse auch nicht, wie es zu seinen Verletzungen gekommen sei; seine Erinnerung setze erst wieder im Krankenhaus ein.

Die Nebenklägerin hat bei ihrer ersten polizeilichen Vernehmung zwei Tage nach der Tat die Geschehnisse bis zur Zubereitung der Linsensuppe mit allen Einzelheiten berichtet und erklärt, anschließend habe sie einen „Fadenriss“. Sie wisse nur noch, dass sie schnell aus dem Haus habe heraus wollen, da sie einen Stich oder eine Verletzung gemerkt habe. Draußen habe sie mit ihrer linken Hand etwas abgewehrt, weil sie gemerkt habe, dass der Angeklagte noch weiter habe zustechen wollen.

Bei weiteren polizeilichen Vernehmungen und in der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin konkretere Angaben gemacht. Gegenüber Zeugen konnte die Nebenklägerin das Geschehen zunächst ebenfalls nur bruchstückhaft berichten. Weil sie sich an den Vorfall nicht habe erinnern können, der ihr keine Ruhe gelassen habe, habe sie – so eine Zeugin – immer wieder Gedächtnislücken zu füllen versucht, etwa anhand der Fotos vom Tatort, die ihr eine Bekannte und die Polizei vorgelegt hätten. Auch in der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin angegeben, dass sie zunächst keine Erinnerung an die zu den Verletzungen führenden Vorgänge gehabt habe; weil sie sich aber täglich Gedanken gemacht und eine Zeugin ihr bereits früh Fotos vom Tatort mitgebracht habe, seien dann Kleinigkeiten wieder ins Gedächtnis zurückgekommen. Die Kammer hat nicht ausschließen können, dass die Erweiterungen der ursprünglichen Aussage der Nebenklägerin suggestiv beeinflusst und deshalb unzuverlässig seien; die Nebenklägerin habe – so die Kammer – immer wieder Erinnerungslücken durch Schlussfolgerungen anhand anderweitiger Informationen und eine aus Sicht der Nebenklägerin logische Rekonstruktion des Tatablaufs geschlossen.

An dem Filetiermesser wurde beim Abrieb von Blutspuren an verschiedenen Stellen DNA des Angeklagten und der Nebenklägerin gefunden. An dem Pullover der Nebenklägerin befand sich im Lendenbereich ein ca. 1,5 cm langer Defekt, der allerdings keine Blutanhaftungen aufwies.

Als Sachverständigen hat das Landgericht u.a. einen Rechtsmediziner gehört. Nach seinen Ausführungen, denen sich die Kammer angeschlossen hat, wurden die Verletzungen bei der Nebenklägerin und beim Angeklagten wahrscheinlich durch das später verbogen aufgefundene Steakmesser (Filetiermesser) verursacht. Das Verletzungsbild beim Angeklagten spräche auf den ersten Blick für Abwehrverletzungen, wie sie etwa entstehen, wenn man zur Abwehr eines Angriffs in ein Messer greift. Der lebensgefährliche Bauchstich bei der Nebenklägerin müsse durch ein schwungvolles Zustechen verursacht worden sein; die weiteren Verletzungen der Nebenklägerin seien mit ihrer Schilderung, sie habe mit dem linken Arm Messerangriffe des Angeklagten abzuwehren versucht, in Einklang zu bringen. Der Sachverständige konnte keine Angaben dazu machen, wer die jeweiligen Verletzungen verursacht hat. Nach Angaben eines als Zeugen gehörten Kriminalbeamten spricht nach kriminalistischer Erfahrung gegen eine Selbstverletzung der Nebenklägerin mittels Bauchstichs das Fehlen sog. Zauderstiche (vorheriger Stichversuche) und das Durchtrennen der Kleidung.

Die Kammer ist nicht davon überzeugt, dass der Angeklagte der Nebenklägerin den lebensgefährlichen Bauchstich zugefügt hat. Nach Ansicht der Kammer gibt es kein belastbares Indiz für ein Durchstoßen der Kleidung mit dem Messer, weil an dem einzigen Stoffdefekt Blutanhaftungen fehlen, die beim Durchstoßen des Pullovers und dem Zufügen eines derartigen Bauchstichs regelmäßig zu erwarten seien. Zudem sei die Nebenklägerin deutlich enthemmt gewesen und habe sich schon früher selbst verletzt, so dass nicht auszuschließen sei, dass sie sich selbst das Messer in den Bauch gestoßen habe. Die weiteren Verletzungen der Nebenklägerin könnten auch dadurch entstanden sein, dass sich der Angeklagte in Notwehr gegen einen Angriff der Zeugin gewehrt habe, weil insbesondere die Spurenlage bezüglich des in der Küche aufgefundenen „großen Messers“ darauf hindeute, dass die Nebenklägerin dies in der Hand hatte. Gegen die Angaben der Nebenklägerin zum Tatgeschehen spreche auch, dass sie den durch die Hilferufe herbeigeilten Zeugen gesagt habe, der Angeklagte habe sie zweimal in den Bauch gestochen, obwohl sie nur einen Bauchstich erlitten habe.

Der Angeklagte habe die Tat zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich eingeräumt. Zwar spräche die unmittelbar nach dem Geschehen getätigte Äußerung „Soweit kann einen eine Frau bringen“ für ein Einräumen der Täterschaft, zwingend sei dies aber nicht, auch weil der Angeklagte zuvor gesagt hatte „Ja, ganz bestimmt, ich war ja immer alles“. Auch die spätere Äußerung zu der Nebenklägerin in dem Brief vom Mai 2013 sei kein Indiz zu Lasten des Angeklagten. Die früheren Gewalttätigkeiten des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin könnten zwar als belastendes Indiz gewertet werden, allerdings reiche dieser Umstand für sich genommen nicht aus, um die Kammer bei ansonsten unaufgeklärtem Geschehensablauf von einem rechtswidrigen Angriff des Angeklagten auf die Nebenklägerin zu überzeugen.

Auch in der „Zusammenschau sämtlicher Beweismittel“ sei die Kammer nicht in der Lage, das eigentliche Tatgeschehen zu rekonstruieren; sie könne weder ausschließen, dass die Nebenklägerin den Angeklagten angegriffen und dieser sich nur gewehrt habe, noch dass sie sich selbst den Stich in den Bauch versetzt habe.

II.

Die zulässige Revision der Nebenklägerin ist unbegründet.

1. Die Verfahrensbeanstandungen hinsichtlich des Zeugen H. sind, worauf bereits der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift vom 14. April 2014 zutreffend hingewiesen hat, nicht in der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausgeführt und deshalb unzulässig.

2. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler auf.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO ). Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Insbesondere ist es ihm verwehrt, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch seine eigene zu ersetzen. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich somit darauf, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind.

Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, etwa hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Insbesondere ist die Beweiswürdigung auch dann rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 10. August 2011 – 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110 f. mwN).

Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht, sie jeweils einzeln abzuhandeln. Das einzelne Beweisanzeichen ist vielmehr mit allen anderen Indizien in eine Gesamtwürdigung einzustellen. Erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffes entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln können (vgl. Senat aaO S. 111 mwN). Deshalb muss sich aus den Urteilsgründen selbst ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen wurden (Senat, Urteil vom 18. März 2009 – 1 StR 549/08).

b) Diesen Anforderungen an eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung wird das angefochtene Urteil gerecht. Die vom Landgericht vorgenommene „Zusammenschau sämtlicher Beweismittel“ genügt noch den oben dargelegten revisionsrechtlichen Anforderungen an eine umfassende Gesamtwürdigung sämtlicher Indizien. Auch revisionsrechtlich beachtliche Erörterungsmängel bestehen nicht.