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BGH - Entscheidung vom 05.08.2014

1 StR 340/14

Normen:
StGB § 211

Fundstellen:
NStZ 2015, 215
StV 2015, 283

BGH, Beschluss vom 05.08.2014 - Aktenzeichen 1 StR 340/14

DRsp Nr. 2014/13701

Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke bei der Tötung eines Kleinkindes

Tenor

1.

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 1. April 2014

a)

im Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass die Angeklagte des Totschlags schuldig ist,

b)

im Strafausspruch aufgehoben.

2.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Normenkette:

StGB § 211 ;

Gründe

1. Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes aus dem nach §§ 21 , 49 Abs. 1 StGB verschobenen Strafrahmen zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Die mit der näher ausgeführten Sachrüge begründete Revision der Angeklagten erzielt den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO .

2. Die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Nach den Urteilsfeststellungen tötete die Angeklagte ihre sechs Monate alte Tochter, während ihr Ehemann, der Kindesvater, aus eigenem Antrieb auf dem Weg zu einer zwei Kilometer von der ehelichen Wohnung entfernten Arztpraxis war, um sich dort unter Vortäuschung eines Magen-Darm-Infekts für die nächsten Tage krankschreiben zu lassen. Zweck der Krankschreibung war, dass sich der Kindesvater in den kommenden Tagen - wie schon an diesem Tag und den Tagen zuvor - vermehrt um das gemeinsame Kind kümmern wollte, weil die Angeklagte mit dessen Versorgung aufgrund einer mittelgradig depressiven Episode überfordert war.

b) Die Schwurgerichtskammer hat das Merkmal der Heimtücke insbesondere aus folgenden Gründen als erfüllt angesehen:

Der Vater sei zur Abwehr von Gefahren gegenüber dem selbst nicht zum Argwohn fähigen Kleinkind bereit gewesen und habe schon den ganzen Tag über die Versorgung und den Schutz des Kindes in besonderem Maße wahrgenommen und beides im Vertrauen auf die Angeklagte nur wenige Minuten vor der Tat vorübergehend an diese abgegeben. Die Zeit seiner Abwesenheit sei aufgrund der räumlichen Nähe der Arztpraxis zur Wohnung der Familie von vorneherein absehbar kurz gewesen. Insbesondere habe er die Wohnung nur verlassen, um seiner schon bislang ausgeübten Schutzfunktion nach seiner Krankschreibung noch besser nachkommen zu können. Beim Verlassen der Wohnung und während des ca. 30 Minuten dauernden Arztbesuchs habe er sich keines Angriffs gegen sein Kind versehen; anderenfalls hätte er die Wohnung nicht verlassen, das Kind mitgenommen oder andere Maßnahmen zum Schutz der Tochter ergriffen. Weil er der Angeklagten vertraut und nicht im Geringsten geglaubt habe, sie könne in seiner Abwesenheit das gemeinsame Kind töten, habe er der Angeklagten vorübergehend die Obhut über das Kind überlassen. Diese Situation habe die Angeklagte bewusst zur Tötung des Kindes ausgenutzt.

c) Die Urteilsfeststellungen belegen das Mordmerkmal der Heimtückenicht.

aa) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass es bei der Tötung eines wenige Wochen oder Monate alten Kleinkindes für die Frage der Heimtücke nicht auf dessen Arg- und Wehrlosigkeit ankommt, da es aufgrund seines Alters noch zu keinerlei Argwohn oder Gegenwehr fähig ist, sondern auf die Arg- und Wehrlosigkeit eines im Hinblick auf das Kind schutzbereiten Dritten (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 21. November 2012 - 2 StR 309/12, NStZ 2013, 158 mwN). Schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz eines Kleinkindes vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut (BGH, aaO) oder vom Täter ausgeschaltet wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2005 - 5 StR 401/05, NStZ-RR 2006, 43 ). Zwar ist es nicht erforderlich, dass der potentiell schutzbereite Dritte "zugegen" ist. Der schutzbereite Dritte muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls den Schutz allerdings auch wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe erforderlich ist (vgl. BGH, Urteile vom 21. November 2012 - 2 StR 309/12, NStZ 2013, 158 , und vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93 , 94).

bb) An letzterem fehlt es vorliegend. Wer - wie hier der Kindesvater - den räumlichen Bereich des Kleinkindes für eine nicht nur unerhebliche Dauer verlässt und sich über einen Kilometer davon entfernt, ist mangels tatsächlicher Einwirkungsmöglichkeit auf das Geschehen nicht mehr in der Lage, seinen Schutz wirksam zu erbringen und kann deshalb nicht mehr als "schutzbereiter Dritter" im oben genannten Sinne angesehen werden. Eine gleichsam stellvertretende Zurechnung der Arg- und Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten zu Gunsten eines strukturell zu Argwohn und Gegenwehr unfähigen Menschen ist nur gerechtfertigt, wenn beide derart räumlich verbunden sind, dass der Dritte dem Täter bei dem tödlichen Angriff grundsätzlich etwas entgegensetzen könnte. Dies ist nicht der Fall, wenn aufgrund der räumlichen Entfernung des Dritten der tödliche Angriff schon überhaupt nicht wahrgenommen werden kann und eine Gegenwehr auch deshalb zu spät käme, weil hierfür erst eine erhebliche räumliche Distanz überwunden werden muss.

Ursache für die Abwesenheit des Kindesvaters war auch nicht etwa eine Aufforderung oder Täuschung durch die Angeklagte mit dem Ziel, während seiner Abwesenheit einen ungehinderten Angriff auf das gemeinsame Kind vorzunehmen. Vielmehr hat sich der Vater aus freien Stücken aus der Wohnung zum Arzt begeben und damit den zuvor ausgeübten Schutz des gemeinsamen Kindes ohne Einwirkung durch die Angeklagte aufgegeben.

d) Weil nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen der Schwurgerichtskammer ein anderes Mordmerkmal ausscheidet und angesichts der gründlichen und erschöpfenden Beweiserhebung aus Sicht des Senats auszuschließen ist, dass noch weitergehende Feststellungen getroffen werden könnten, die nach den oben genannten Maßstäben eine heimtückische Tötung belegen, hat der Senat den Schuldspruch entsprechend § 354 Abs. 1 StPO geändert. Dass sich die Angeklagte gegen den Vorwurf des Totschlags anders hätte verteidigen können, schließt der Senat aus.

3. Die Änderung des Schuldspruchs führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Die hierzu rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen können bestehen bleiben und allenfalls durch solche ergänzt werden, die zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen. Der neue Tatrichter wird bei der von ihm vorzunehmenden Strafzumessung Formulierungen zu vermeiden haben, die - worauf die Revision im Ansatz zutreffend hinweist - einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot aus § 46 Abs. 3 StGB nahelegen könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2009 - 4 StR 53/09, NStZ 2009, 564 ).

Vorinstanz: LG Ravensburg, vom 01.04.2014
Fundstellen
NStZ 2015, 215
StV 2015, 283