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BVerwG - Entscheidung vom 18.02.2013

6 BN 1.12

Normen:
Thür OBG § 27
Thür OBG § 54
VwGO § 47 Abs. 2 Satz 1
VwGO § 47 Abs. 2 S. 1
VwGO § 60 Abs. 1
VwGO § 67 Abs. 4 S. 1
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 20 Abs. 3
GKG § 6 Abs. 1 Nr. 5
Stadtordnung § 8a Abs. 2
Thür OBG § 27 Abs. 1

Fundstellen:
NJW 2013, 8
NVwZ-RR 2013, 387

BVerwG, Beschluss vom 18.02.2013 - Aktenzeichen 6 BN 1.12

DRsp Nr. 2013/4856

Wiedereinsetzung in die Antragsfrist nach § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO zur Wahrnehmung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes im Falle der Versäumung der Frist durch das Verfahren zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe

War jemand aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, sich zur Erhebung einer Normenkontrollklage durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen und führt das zur Herbeiführung einer anwaltlichen Vertretung erforderliche Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Versäumung der Antragsfrist nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO , so ist ihm zur Wahrnehmung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG ) Wiedereinsetzung in diese Frist zu gewähren.

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2012 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Normenkette:

VwGO § 47 Abs. 2 S. 1; VwGO § 60 Abs. 1 ; VwGO § 67 Abs. 4 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1 ; GG Art. 19 Abs. 4 ; GG Art. 20 Abs. 3 ; GKG § 6 Abs. 1 Nr. 5 ; Stadtordnung § 8a Abs. 2; Thür OBG § 27 Abs. 1 ;

Gründe

Die gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberverwaltungsgericht gerichtete Beschwerde der Antragsgegnerin bleibt ohne Erfolg. Die gegen fünf Punkte in dem Urteil (1. bis 5.) gerichteten Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) sind unbegründet.

1. Mit ihrer ersten Grundsatzrüge hält die Beschwerdeführerin die Rechtsfrage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob die Versäumung der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - nach entsprechendem Antrag - dann zu gewähren ist, wenn innerhalb der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ein vollständiger Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Normenkontrollverfahren gestellt worden ist, der gerichtliche Beschluss über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe jedoch erst nach Ablauf der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ergeht.

Die Rechtsfrage erfordert nicht die Durchführung einer Revision, denn sie ist vom Oberverwaltungsgericht bereits zutreffend beantwortet worden. Daher würde eine Revision zu keinem anderen Ergebnis des Rechtsstreits führen. Nach den Feststellungen im angegriffenen Urteil wendet der Antragsteller sich im Wege der Normenkontrolle gegen den mit Änderungsverordnung vom 26. Juni 2008 - bekannt gemacht im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 4. Juli 2008 - in die Stadtordnung der Stadt Erfurt eingefügten § 8a betreffend Alkoholverzehr in der Öffentlichkeit. Die Jahresfrist aus § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO hinsichtlich dieser Vorschrift lief demnach bis zum 4. Juli 2009. Der Antragsteller hat zunächst mit am 18. Mai 2009 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom selben Tage einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das von ihm beabsichtigte Normenkontrollverfahren gestellt. Diesem Antrag hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 27. August 2009 - OVG 3 SO 355/09 - entsprochen und ihm antragsgemäß seinen Prozessbevollmächtigten beigeordnet. Nach Zustellung dieses Beschlusses am 15. September 2009 hat der Antragsteller mit am 28. September 2009 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten den verfahrensgegenständlichen Normenkontrollantrag gestellt und zugleich Wiedereinsetzung in die einjährige Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO beantragt.

Der Antragsteller hat zwar die Einjahresfrist für die Stellung des Normenkontrollantrags nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO versäumt. Das Oberverwaltungsgericht hat ihm im Urteil im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung jedoch zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, weil er im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO "ohne Verschulden" verhindert war, die Frist einzuhalten. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG ) gebietet es, dem Antragsteller in einem Normenkontrollverfahren die Möglichkeit zu geben, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts sowie seine Auslegung und Anwendung im konkreten Fall müssen ein Ausmaß rechtlichen Gehörs eröffnen, das sachangemessen ist, um dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG ) gerecht zu werden. Es gilt, dem Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. April 1982 - 2 BvR 810/81 - BVerfGE 60, 305 <310> m.w.N.). Dazu zählt, dass die Partei grundsätzlich die Fristen ausnutzen darf, die der Gesetzgeber für das jeweilige gerichtliche Verfahren typisierend als sachlich angemessen erachtet hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1987 - 2 BvR 314/86 - NJW 1987, 1191 zum Fall der Überschreitung einer Berufungsbegründungsfrist nach vorangegangener Aufhebung der Berufungsverwerfung durch das Bundesverfassungsgericht). War jemand aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, sich zur Erhebung einer Normenkontrollklage durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, und führt das zur Herbeiführung einer anwaltlichen Vertretung erforderliche Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zur Versäumung der Antragsfrist nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO , so ist ihm zur Wahrnehmung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG ) Wiedereinsetzung in diese Frist zu gewähren.

Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG gebietet, bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes die Situation des mittellosen Antragstellers weitgehend der Situation des bemittelten Antragstellers anzugleichen. Es ist zentraler Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigenmächtiggewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen grundsätzlich zu verwehren. Die Beteiligten werden auf den Weg vor die Gerichte verwiesen. Dies bedingt zugleich, dass der Staat Gerichte einrichtet und den Zugang zu ihnen jedermann in grundsätzlich gleicher Weise eröffnet. Daher sind verfassungsrechtlich Vorkehrungen geboten, die Mittellosen einen weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen. Anderenfalls liefe für einen Teil der Bevölkerung die formal bestehende Möglichkeit, Rechtsschutz zu erlangen, mangels finanzieller Möglichkeit faktisch leer (BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 - BVerfGE 81, 347 <356>).

Die Prozesskostenhilfe will dem Antragsteller den Zugang zum Gericht offen halten. Seine Mittellosigkeit steht einer Rechtsverfolgung entgegen. Die Prozesskostenhilfe hat die Aufgabe, dieses Hindernis auszuräumen. Der Antragsteller hat grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass geklärt wird, ob die einer Rechtsverfolgung entgegenstehende Mittellosigkeit durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe überwunden wird, bevor er ein Kostenrisiko eingeht und den Rechtsbehelf in der Hauptsache rechtshängig macht. Ein Gesuch um Prozesskostenhilfe kann deshalb gestellt werden, bevor der Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt wird. Die Mittellosigkeit des Antragstellers ist ein unverschuldetes Hindernis für eine rechtzeitige Einlegung eines fristgebundenen Rechtsbehelfs. Dieses Hindernis wird durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beseitigt. Dem Antragsteller ist nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Frist zu gewähren.

Der Antragsteller muss ein Gesuch um Prozesskostenhilfe für einen erst beabsichtigten Rechtsbehelf innerhalb der Frist für dessen Einlegung anbringen, und zwar in bescheidungsfähiger Form.

Ist ein Antragsteller infolge seiner Mittellosigkeit nicht in der Lage, die Kosten für einen beabsichtigten Normenkontrollantrag aufzubringen, kann er nach diesen Grundsätzen ebenfalls innerhalb der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zunächst nur Prozesskostenhilfe für einen erst noch beabsichtigten Normenkontrollantrag und die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die spätere ordnungsgemäße Einlegung des Normenkontrollantrags beantragen. Entscheidet das Oberverwaltungsgericht erst nach Ablauf der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, kann der Antragsteller innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO den Normenkontrollantrag nachholen und Wiedereinsetzung in die versäumte Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO erhalten. Dem steht nicht entgegen, dass die Normenkontrolle ein objektives Beanstandungsverfahren ist und dem Normunterworfenen die Möglichkeit bleibt, auch nach Ablauf der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Gültigkeit der Norm in Einzelfällen ihrer Anwendung inzident durch das Gericht überprüfen zu lassen (so aber OVG Münster, Beschluss vom 19. Februar 2004 - 7a D 67/03.NE - NVwZ-RR 2005, 290). Hat der Gesetzgeber den Normenkontrollantrag als Rechtsbehelf überhaupt zur Verfügung gestellt, muss der Zugang zu diesem Rechtsbehelf einem mittellosen Antragsteller in gleicher Weise eröffnet sein wie einem bemittelten Antragsteller. Er kann verlangen, dass seine Mittellosigkeit als Hindernis für den Zugang zum Normenkontrollverfahren durch Bewilligung von Prozesskostenhilfe beseitigt wird, bevor er kostenträchtige Maßnahmen ergreift. Die Einreichung eines Normenkontrollantrags erfordert die Beauftragung eines Rechtsanwalts (§ 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO ); die Gerichtskosten werden bereits mit Stellung des Antrags fällig (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 GKG ). Unerheblich ist ferner, dass die Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Ausschlussfrist darstellt (so aber ebenfalls OVG Münster a.a.O.). Sie beruht auf der Wertung des Gesetzgebers, aus Gründen der Rechtssicherheit sollten seit längerem angewandte Normen der Nichtigerklärung mit allgemein verbindlicher Wirkung (§ 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ) entzogen werden. Ebenso wie durch einen zunächst nur zur Fristwahrung eingereichten Normenkontrollantrag wird die Rechtssicherheit aber auch durch einen innerhalb der Antragfrist eingereichten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen beabsichtigten Normenkontrollantrag beseitigt. Die Wiedereinsetzung nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe steht mithin dem Zweck nicht entgegen, der mit der Ausschlussfrist angestrebt wird. Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht zu der Ausschlussfrist des § 60 Abs. 3 VwGO bereits entschieden, sie stehe einer Wiedereinsetzung nicht entgegen, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe die Frist für die nachzuholende Rechtshandlung seit über einem Jahr verstrichen sei. Die Ursache der Säumnis liege in der Sphäre des Gerichts. Für den Antragsteller stelle sich dies als höhere Gewalt dar (Beschluss vom 2. April 1992 - BVerwG 5 B 50.92 -Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 177). So verhält es sich auch, wenn der Antragsteller rechtzeitig Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Normenkontrollverfahren beantragt, das Gericht über den Antrag aber erst nach Ablauf der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO entscheidet. Die Versäumung der Antragsfrist stellt sich auch in diesem Fall als ein in der Sphäre des Gerichts liegendes unabwendbares Ereignis dar, das eine Wiedereinsetzung erforderlich macht. Das Bundesverwaltungsgericht hat sogar bei der Versäumung materieller Ausschlussfristen unter vergleichbaren Voraussetzungen in Ausnahmefällen Nachsicht gewährt (Beschluss vom 5. Mai 2000 - BVerwG 7 B 220.99 - Buchholz 428 § 30a VermG Nr. 18), nämlich dann, wenn ein Verhalten der Behörde für die Fristversäumnis ursächlich war und durch die Nachsichtgewährung der Zweck der Ausschlussfrist nicht verfehlt wird.

2. Mit ihrer zweiten Grundsatzrüge bringt die Antragsgegnerin vor, bei abstraktgenereller Betrachtung sei davon auszugehen, dass das Verhalten, an das § 8a Abs. 2 der Stadtordnung anknüpfe, nämlich das mit dem Verzehr von Alkohol verbundene Lagern von Personengruppen oder das längere Verweilen einzelner Personen in den in § 8a Abs. 2 Stadtordnung genannten Bereichen, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt von Schäden für geschützte Rechtsgüter im Einzelfall erwarten lasse, wenn

- es der allgemeinen Lebenserfahrung entspreche, dass der Konsum von Alkohol - jedenfalls in größeren Mengen - das Aggressions- und Gewaltpotential im Einzelfall erhöhen könne,

- aufgrund statistischer Untersuchungen belegt sei, dass eine große Zahl von Gewaltdelikten im Zusammenhang mit vorherigem Alkoholgenuss stehe,

- die Verhinderung von Pöbeleien gegenüber Bürgern, Touristen und sonstigen Passanten, unabhängig davon, ob ein derartiges Verhalten als strafrechtlich relevantes Delikt der Beleidigung zu qualifizieren sei, ein nach Auffassung des ThürOVG "anerkennenswertes Ziel" darstelle,

- feststehe, dass durch die Regelung des § 8a Abs. 2 Stadtordnung verbotene Verhalten nicht unerhebliche Belästigungen von Passanten und Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begünstigen könne und sich diese Gefahr in der Vergangenheit des Öfteren realisiert habe, was entsprechende Beschwerden von Anwohnern und Passanten zur Folge gehabt habe,

- feststehe, dass es seit Erlass der angegriffenen Regelung des § 8a Abs. 2 Stadtordnung zu einem Rückgang von Belästigungen und Störungen von Passanten durch die in § 8a Abs. 2 Stadtordnung angesprochenen Personen bzw. Personengruppen gekommen sei.

§ 8a Stadtordnung beruhe auf § 27 Abs. 1 Thür OBG , demzufolge ordnungsbehördliche Verordnungen erlassen werden dürften, zur "Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung", also einer abstrakten Gefahr. Nach § 54 Ziff. 3a Thür OBG sei eine abstrakte Gefahr definiert als eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Falle ihres Eintritts eine Gefahr gemäß den Buchst. a bis d darstelle. An diese Begriffsbestimmung knüpfe auch das Thüringer Oberverwaltungsgericht im angegriffenen Urteil an. Es verneine aber das Vorliegen einer abstrakten Gefahr mit der Begründung, es gebe keinerlei tragfähige tatsächliche Grundlage für die Annahme, hier bestehe eine abstrakte ordnungsrechtlich relevante Gefahr.

Die somit dargelegte Grundsatzrüge im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist unbegründet. Zum einen fehlt es an der Formulierung einer für klärungsbedürftig gehaltenen Rechtsfrage, und wird stattdessen im Stile einer Berufungsbegründung dem Oberverwaltungsgericht ein Rechtsanwendungsfehler vorgehalten. Darüber hinaus betrifft der Vorhalt aber auch ausschließlich die Anwendung von Recht des Freistaates Thüringen, das einer Überprüfung im Revisionsverfahren nicht zugänglich ist (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Es geht nämlich um die Frage, wie sich zu dem in § 8a Stadtordnung geregelten Sachverhalt die Kategorien der Bekämpfung einer abstrakten Gefahr - nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts von § 27 Abs. 1 Thür OBG erfasst - und denjenigen des Gefahrenverdachts oder Gefährdungspotentials verhalten - nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts von § 27 Abs. 1 Thür OBG nicht erfasst. Insoweit ist das Revisionsgericht nämlich an die Auslegung des Landesrechts durch das Oberverwaltungsgericht gebunden.

3. Mit ihrer dritten Grundsatzrüge hält die Antragsgegnerin die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob das auf die Furcht vor Anpöbelungen, Beleidigungen und gewalttätigen Übergriffen gegründete subjektive Unsicherheitsgefühl, das Bürger und Passanten bei der Begegnung mit angetrunkenen Personen bzw. Personengruppen empfinden, eine Gefahr im Sinne des abstrakten Gefahrenbegriffs darstelle, wie er der Regelung des § 27 Abs. 1 Thür OBG zugrunde liege.

Auch diese Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) ist unbegründet. Sie betrifft eine Frage der Anwendung von Landesrecht und ist somit einer Klärung im Revisionsverfahren nicht zugänglich (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Im angegriffenen Urteil hat das Oberverwaltungsgericht - unter Aufgabe einer früheren anderslautenden Rechtsprechung - ausgeführt, ein bloßes "subjektives Unsicherheitsgefühl" könne für sich besehen nicht Schutzgut der öffentlichen Sicherheit sein. Eine andere Ansicht lasse sich schon nicht mit dem klassischen, hier maßgeblichen Gefahrenbegriff in Einklang bringen, wie er in der ständigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, namentlich auch derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde gelegt werde. Zum Beleg wird in diesem Zusammenhang auf das Urteil vom 3. Juli 2002 (BVerwG 6 CN 8.01 - Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 71 = BVerwGE 116, 347 ) Bezug genommen. Dieses Urteil darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, das Bundesverwaltungsgericht habe darin einen eigenen - gar bundesrechtlichen - Gefahrenbegriff angewendet. Der bundesrechtliche Ausgangspunkt im Urteil vom 3. Juli 2002 lag ausschließlich im Bestimmtheitsgrundsatz, wonach aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem (Art. 20 Abs. 1 und 3 , Art. 28 Abs. 1 GG ) folgt, dass in einem Gesetz, durch das die Exekutive zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt wird, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt werden müssen. Der Bezug zu den landesrechtlichen Kategorien von "abstrakter Gefahr" und "Gefahrenverdacht" ergab sich lediglich aus dem Umstand, dass die Frage, welche Bestimmtheitsanforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, von den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme, namentlich der Grundrechtsrelevanz der Regelung abhängt (a.a.O. Rn. 31). Bundesrechtlich - aus Gründen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes - war lediglich die Notwendigkeit der zu treffenden Unterscheidung zwischen abstrakter Gefahr im Sinne der Verordnungsermächtigung und dem Begriff der Gefahrenvorsorge (a.a.O. Rn. 36). Diese Unterscheidung hat das Oberverwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren aber anhand seiner Auslegung des thüringischen Landesordnungsrechts getroffen, und an diesen Feststellungen käme auch ein Revisionsverfahren nicht vorbei.

4. Mit der vierten Rüge hält die Antragsgegnerin die Rechtsfrage für klärungsbedürftig, ob eine Regelung in einer Polizeiverordnung, die - wie § 8a Abs. 2 Stadtordnung - in bestimmten Innenstadtbereichen das Lagern von Personengruppen bzw. längere Verweilen einzelner Personen (bis zum Ablauf von 15 bis 20 Minuten) untersagt, deshalb nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, weil

- der Genuss von Alkohol im Innenstadtbereich - so das Thüringer Oberverwaltungsgericht - keineswegs stets oder auch nur regelmäßig und typischerweise in ein Angetrunkensein münde,

- eine derartige Regelung die Freiheitsrechte anderer beschränke, die als Bürger der Stadt, als touristische Fußgänger oder durchreisende Radfahrer ohne jede weitere Beeinträchtigung anderer eine zeitlang in der Innenstadt verweilen und außerhalb der zugelassenen Freischankflächen geringe Mengen Alkohol zu sich nehmen möchten,

- im Falle konkreter Belästigungen im Einzelfall, etwa bei Beleidigungen oder gar Handgreiflichkeiten, ordnungsbehördliche Eingriffsbefugnisse bereits durch § 8 der Stadtordnung (und gegebenenfalls auch durch andere Bestimmungen des Polizei- und Ordnungsrechts) eröffnet wären?

Auch diese Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ) ist unbegründet. Sie beanstandet wiederum im Stil einer Berufungsbegründung die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch das Oberverwaltungsgericht auf § 8a Abs. 2 Stadtordnung. Sofern es dabei um den landesordnungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geht, ist die Beschwerde aus den bereits genannten Gründen der Revision nicht zugänglich (§ 137 Abs. 1 VwGO ). Unterstellt, die Beschwerde habe auch einen Verstoß gegen den bundesrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz rügen wollen, wäre es für eine erfolgreiche Grundsatzrüge jedoch erforderlich, eine auf das Rechtsverständnis dieses Rechtsgrundsatzes gerichtete, bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht behandelte Rechtsfrage darzulegen. Eine solche Frage ist der Beschwerde nicht zu entnehmen. Die Verletzung von Bundesrecht durch Landesrecht vermag die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 1 Nr. 1 VwGO dann nicht zu rechtfertigen, wenn nicht das Bundesrecht, sondern allenfalls das Landesrecht klärungsbedürftig erscheint. Das ist in aller Regel der Fall, wenn die Unvereinbarkeit von Landesrecht mit bundesverfassungsrechtlichen Grundsätzen oder Garantien, etwa der Gleichheit, der Verhältnismäßigkeit oder des Übermaßverbotes, der Rechtsschutzgewährleistung oder der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung behauptet wird. Hier muss, um die Grundsatzzulassung erhalten zu können, dargelegt werden, dass der bundesverfassungsrechtliche Maßstab selbst einen die Zulassung der Revision rechtfertigenden Klärungsbedarf aufweist (Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO § 132 Rn. 44 unter Hinweis auf Beschluss vom 30. November 1994 - BVerwG 4 B 243.94 - Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 59).

5. Mit der fünften Rüge hält die Antragsgegnerin die Rechtsfrage für grundsätzlich klärungsbedürftig (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ), ob bei einem Verbot des mit dem Verzehr von Alkohol verbundenen Lagerns von Personengruppen bzw. längeren Verweilens einzelner Personen in bestimmten Innenstadtbereichen eine Ausnahme, die den Alkoholgenuss innerhalb zugelassener Freischankflächen vom Verbot ausnimmt, mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei.

Die Rüge ist unbegründet. Eine für klärungsbedürftig gehaltene Frage zu Art. 3 Abs. 1 GG wird nicht dargelegt. Der fragliche Textteil in den Gründen des angegriffenen Urteils selbst führt Art. 3 Abs. 1 GG nicht als Prüfungsmaßstab an (S. 19), so dass auch ein einschlägiger bundesrechtlicher Anwendungsfehler nicht in Betracht kommt. Die vom Oberverwaltungsgericht beanstandete mangelnde Differenzierung zwischen Freischankflächen und dem übrigen Straßenraum steht vielmehr im Zusammenhang mit einer ganzen Anzahl von Gründen, die gerichtliche Zweifel daran äußern, ob die Erwägungen zum Erlass von § 8a Stadtordnung durch den Zweck der Gefahrenabwehr gedeckt sind. Dahin zielt insbesondere die im selben Zusammenhang stehende Ausführung auf S. 20 des Urteils, wonach Gefahrenabwehrregelungen nicht zur Erleichterung der behördlichen Aufsicht dienen dürfen.

6. Die Kosten der Beschwerde hat die Antragsgegnerin zu tragen, weil sie unterlegen ist (§ 154 Abs. 2 VwGO ). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 , § 52 Abs. 2 GKG .

Vorinstanz: OVG Thüringen, vom 21.06.2012 - Vorinstanzaktenzeichen 3 N 653/09
Fundstellen
NJW 2013, 8
NVwZ-RR 2013, 387