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BVerfG - Entscheidung vom 16.10.2013

2 BvR 1446/12

Normen:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
RVG § 14 Abs. 1
ZPO § 765a

BVerfG, Beschluss vom 16.10.2013 - Aktenzeichen 2 BvR 1446/12

DRsp Nr. 2014/690

Erstattung der dem Beschwerdeführer durch die Verfassungsbeschwerde entstandenen Auslagen; Erledigung einer Verfassungsbeschwerde durch eine erfolgreiche Drittwiderspruchsklage des Beschwerdeführers

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund bedarf es bei einem annähernd hundertjährigen Schuldner zumindest der Auseinandersetzung mit einer entsprechenden ärztlichen Prognose, ob bei Patienten dieses Alters allein ein Umgebungswechsel ein lebensbedrohliches Zustandsbild auslösen könnte.

Tenor

1

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

2

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Normenkette:

GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; RVG § 14 Abs. 1 ; ZPO § 765a;

Gründe

I.

Gegenstand des Verfahrens ist nunmehr noch die Frage, ob dem Beschwerdeführer die durch seine für erledigt erklärte Verfassungsbeschwerde entstandenen Auslagen zu erstatten sind.

Die Verfassungsbeschwerde betraf die Zurückweisung eines Antrags auf Vollstreckungsschutz für unbestimmte Zeit (§ 765a ZPO ) gegen eine Zwangsräumung. Nachdem der neben dem Vollstreckungsschutzverfahren betriebenen Drittwiderspruchsklage des Beschwerdeführers rechtskräftig stattgegeben worden war, hat er die Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt und beantragt, die Auslagenerstattung anzuordnen (§ 34a Abs. 3 BVerfGG ).

II.

Über die Erstattung der dem Beschwerdeführer durch die Verfassungsbeschwerde entstandenen Auslagen hat gemäß § 93d Abs. 2 Satz 1 BVerfGG die Kammer zu entscheiden. Der Maßstab für diese Entscheidung ergibt sich aus § 34a Abs. 3 BVerfGG (vgl. BVerfGE 85, 109 <114>). Danach ist die Entscheidung nach Billigkeitsgesichtspunkten zu treffen.

Dabei kommt insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zu (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>; 87, 394 <397>). Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt oder hilft sie der Beschwer auf andere Weise ab, kann - soweit keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind - davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat. In diesem Fall ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und sie zu verpflichten, die Auslagen des Beschwerdeführers in gleicher Weise zu erstatten, wie wenn der Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. BVerfGE 87, 394 <397>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. März 2004 - 1 BvR 1778/01 -, [...], Rn. 5).

Eine Erstattung aus Billigkeitsgesichtspunkten kommt auch dann in Betracht, wenn die Verfassungsbeschwerde bei überschlägiger Beurteilung offensichtlich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte und wenn im Rahmen der kursorischen Prüfung zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen nicht Stellung genommen zu werden braucht. Dies ist der Fall, wenn die Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde unterstellt werden kann und wenn die verfassungsrechtliche Lage bereits geklärt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 1954/11 -, [...], Rn. 18; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 - 1 BvR 367/12 -, [...], Rn. 2).

Nach diesen Maßstäben entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der dem Beschwerdeführer durch die Verfassungsbeschwerde entstandenen Auslagen anzuordnen. Zwar hat die öffentliche Gewalt die angegriffenen Entscheidungen nicht von sich aus beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abgeholfen. Es stellt keine Abhilfe in diesem Sinne dar, dass der Drittwiderspruchsklage stattgegeben wurde, denn in diesem Verfahren war die Frage, ob die Räumungsvollstreckung eine mit den Grundrechten nicht vereinbare sittenwidrige Härte darstellt, weder zu prüfen noch zu entscheiden. Die Verfassungsbeschwerde hatte aber bei kursorischer Prüfung offensichtlich Aussicht auf Erfolg. Die verfassungsrechtliche Lage ist geklärt.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde war offensichtlich begründet.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahmen dienen sollen, so kann ein gleichwohl erfolgender Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 52, 214 <219>; BVerfGK 6, 5 <10> m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben sind die angegriffenen Entscheidungen mit dem Grundrecht des am 1. Februar 1913 geborenen Beschwerdeführers auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ) offensichtlich unvereinbar. Eine die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts in gebotenem Maß berücksichtigende Abwägung haben die Fachgerichte nicht vorgenommen. Weder das Amtsgericht noch das Landgericht setzen sich mit der in dem vorgelegten Attest einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom 28. Dezember 2011 enthaltenen Prognose auseinander, dass bei Patienten dieses Alters allein ein Umgebungswechsel ein lebensbedrohliches Zustandsbild auslösen könne. Das Alter des Beschwerdeführers, die ihm bescheinigte Erkrankung und der Umstand, dass er ständig von zwei Pflegekräften betreut wird, ließen ferner schon für sich genommen darauf schließen, dass sich ein Umzug in erheblichem Maße auf seinen Gesundheitszustand auswirken werde. Weder haben die Gerichte Anlass gesehen, dies weiter aufzuklären, noch haben sie es bei der Abwägung in gebotenem Maße berücksichtigt. Auch die Begründung des Landgerichts, eine Verlängerung des Räumungsaufschubs sei nicht möglich, weil Bemühungen um Erlangung von Ersatzwohnraum nicht vorgetragen worden seien, ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.

III.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. September 2010 - 1 BvR 2649/06 -, [...], Rn. 36).

Vorinstanz: LG München I, vom 24.05.2012 - Vorinstanzaktenzeichen 14 T 6954/12
Vorinstanz: AG München, vom 15.03.2012 - Vorinstanzaktenzeichen 1534 M 11995/12