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BVerfG - Entscheidung vom 08.06.2012

1 BvR 2853/10

Normen:
GG Art. 3 Abs. 3 S. 2
SGB VII § 9 Abs. 1 S. 2

Fundstellen:
NZS 2012, 901

BVerfG, Beschluss vom 08.06.2012 - Aktenzeichen 1 BvR 2853/10

DRsp Nr. 2012/17181

Anerkennung einer sekundären Neurotisierung als sogenannte Wie-Berufskrankheit

Die Regelungen zum Vorliegen einer Berufskrankheit, insbesondere deren Voraussetzungen gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII , knüpfen nicht an das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Behinderung an.

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Normenkette:

GG Art. 3 Abs. 3 S. 2; SGB VII § 9 Abs. 1 S. 2;

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein sozialgerichtliches Verfahren zur gesetzlichen Unfallversicherung auf Anerkennung einer Berufskrankheit.

Bei dem 1989 geborenen Beschwerdeführer ist wegen einer "sekundären Neurotisierung bei Teilleistungsstörung (Legasthenie und Dyskalkulie)" ein Grad der Behinderung von 60 vom Hundert anerkannt. Im Kindesalter besuchte er zunächst eine allgemeinbildende, später eine Sonderschule. Er begehrt die Anerkennung der sekundären Neurotisierung als sogenannte Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VII ) mit der zweigleisigen Begründung, er habe alternativ dadurch, dass er der allgemeinen Beschulung unterlegen habe, die sich auf ihn als behinderten Schüler negativ ausgewirkt habe, oder durch einen Mangel an individueller Förderung eine schwere seelische Erkrankung erlitten. Der Unfallversicherungsträger lehnte den Antrag ab; Klage, Berufung und Revision blieben ohne Erfolg. Das Bundessozialgericht hat wesentlich darauf abgestellt, dass die allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 SGB VII nicht vorlägen. Spezifische Einwirkungen, die eine Standard-Beschulung ohne Berücksichtigung der Teilleistungsstörungen Legasthenie und Dyskalkulie auf entsprechend behinderte Schüler habe, habe das Landessozialgericht ebenso wenig festgestellt wie einen Ursachenzusammenhang zwischen den allgemeinen Einwirkungen des Schulbesuchs auf alle Schüler und psychischen Erkrankungen. Demgegenüber sei ein bloßer Mangel an individueller Förderung keine Einwirkung in diesem Sinne.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verstöße gegen zahlreiche Normen des Grundgesetzes . Er sei als behinderter Schüler doppelt diskriminiert worden: Erstens durch die Versagung der geforderten behindertengerechten Beschulung, zweitens durch die Verweigerung des Zugangs zum Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Verfassungsbeschwerde rüge ausdrücklich nur die zweite Diskriminierung. Die entscheidende Rechtsfrage laute: "Hat ein behinderter Schüler, welcher der staatlichen Schulpflicht unterliegt und der dauerhaft berufsunfähig wird, weil der Staat pflichtwidrigerweise keine angemessenen Vorkehrungen getroffen hat, keinen Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente, weil er am Maßstab eines Nichtbehinderten gemessen wird, welcher dadurch nicht erkrankt?"

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist in wesentlichen Teilen unzulässig, da sie nicht den in § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG enthaltenen Mindestanforderungen an eine schlüssige und substantiierte Begründung genügt (vgl. zum Maßstab: BVerfGE 99, 84 <87> m.w.N.; 101, 331 <345>; 105, 252 <264>; 108, 370 <386>).

2. Soweit die Verfassungsbeschwerde einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG rügt, ist sie - bei ebenfalls erheblichen Zulässigkeitsbedenken - jedenfalls unbegründet. Dabei kann zugunsten des Beschwerdeführers davon ausgegangen werden, dass er aufgrund seiner Legasthenie- und Dyskalkulie-Erkrankung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG behindert ist.

a) Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG insbesondere in seinem Beschluss des Ersten Senats vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288 <301 ff.> zum Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen im Bereich des - wie hier - niedersächsischen Schulwesens auseinandergesetzt. Das hiesige Begehren des Beschwerdeführers, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erhalten, lässt sich mit den dortigen Ausführungen jedoch nicht stützen, da die dort relevanten Fragestellungen in der vorliegenden Verfassungsbeschwerde nicht einschlägig sind. Denn der Beschwerdeführer wendet sich ausdrücklich nicht gegen die Versagung der sonderpädagogischen Förderung.

b) Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Regelung in § 9 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 SGB VII oder deren Auslegung in den angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen aus anderen Erwägungen gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen könnte. Es ist vorliegend verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Anspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneint worden ist. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber verpflichtet sein könnte, außerhalb des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung Regelungen zu schaffen, die dem Begehren des Beschwerdeführers zum Erfolg verhelfen. Die Regelungen zum Vorliegen einer Berufskrankheit knüpfen nicht an das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Behinderung an; behinderte Menschen sind ebenso wie nicht behinderte in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen. Erfasst wird jedoch - für alle Menschen in gleicher Weise - im Recht der Berufskrankheiten ausschließlich das gesetzlich umschriebene Risiko. Mithin ist von vornherein nicht jede Erkrankung erfasst, die im Einzelfall durch eine berufliche Tätigkeit verursacht wird; vielmehr müssen die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII gegeben sein. Ausgehend hiervon ist die Auslegung, die die Norm in den angegriffenen Entscheidungen erfahren hat, vertretbar.

Auch ohne einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist der behinderte Schüler nicht schutzlos gestellt. Gegen die Ausgestaltung des Schulsystems in der Weise, dass die Leistungen der Schule bei Bestehen eines behinderungsbedingten sonderpädagogischen Förderbedarfs um individuelle Fördermaßnahmen ergänzt werden, werden verfassungsrechtliche Bedenken weder vorgetragen noch sind solche ersichtlich. Einem Schüler steht dann der Rechtsweg gegen eine ablehnende Entscheidung über die Fördermaßnahme zu; anschließend kann gegebenenfalls ein Amtshaftungsanspruch in Betracht kommen, wenn die Leistung schuldhaft zu Unrecht versagt worden ist.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Vorinstanz: BSG, vom 27.04.2010 - Vorinstanzaktenzeichen B 2 U 13/09 R
Vorinstanz: LSG Niedersachsen-Bremen, vom 14.01.2009 - Vorinstanzaktenzeichen L 9 U 129/06
Vorinstanz: SG Lüneburg, vom 17.05.2006 - Vorinstanzaktenzeichen S 2 U 124/05
Fundstellen
NZS 2012, 901