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BGH - Entscheidung vom 17.01.2012

VIII ZB 95/11

Normen:
ZPO § 234 Abs. 1
BGB § 85 Abs. 2

BGH, Beschluss vom 17.01.2012 - Aktenzeichen VIII ZB 95/11

DRsp Nr. 2012/4444

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen Versäumung einer Rechtsmittelbegründungsfrist bei Versäumung der Frist wegen nicht gewährter Akteneinsicht

1. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei hat mit der Bearbeitung einer Rechtsmittelbegründung so rechtzeitig zu beginnen, dass sie innerhalb der Frist fertiggestellt und dem Gericht übermittelt werden kann. Grundsätzlich dürfen Fristen bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden. Ein bis zum Fristablauf verbleibender Zeitraum von drei Tagen reicht nach dem gewöhnlichen Verlauf zur Erstellung und Übermittlung einer Berufungsbegründung aus.2. Ist eine Rechtsmittelbegründung ohne Akteneinsicht nicht möglich und erhält der Prozessbevollmächtigte einer Partei nicht rechtzeitig die Akteneinsicht durch das Gericht, so dass er die Frist zur Berufungsbegründung nicht einhalten kann, ist auf Antrag der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der Zivilkammer 65 des Landgerichts Berlin vom 30. August 2011 aufgehoben.

Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg vom 17. Februar 2011 gewährt.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und über den Antrag des Beklagten auf Vollstreckungsschutz, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Wert des Beschwerdegegenstands: bis 10.000 €.

Normenkette:

ZPO § 234 Abs. 1 ; BGB § 85 Abs. 2 ;

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt Zahlung von Miete und Räumung einer Mietwohnung. Im Verfahren vor dem Amtsgericht hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 8. Februar 2011 darauf hingewiesen, dass der ihm übermittelten Abschrift des gegnerischen Schriftsatzes vom 20. Januar 2011 ein darin als Anlage genanntes Schreiben der Klägerin vom 3. September 2009 nicht beigefügt gewesen sei; zu einer nachträglichen Übersendung der Anlage kam es nicht. Das der Klage stattgebende, dem Beklagten am 25. Februar 2011 zugestellte Urteil des Amtsgerichts nimmt in den Entscheidungsgründen auf das Schreiben der Klägerin vom 3. September 2009 Bezug.

Die zunächst am 26. April 2011 (Dienstag nach Ostern) ablaufende Begründungsfrist ist antragsgemäß um einen Monat verlängert worden und endete deshalb am 26. Mai 2011. Eine am 23. Mai 2011 begehrte Akteneinsicht konnte dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten nicht gewährt werden, weil die Akten noch nicht beim Berufungsgericht eingegangen waren. Mit Schreiben vom 25. Mai 2011, das noch am selben Tag per Fax eingegangen ist, hat der Prozessbevollmächtigte unter Hinweis darauf, dass die Prozessakten auch beim Amtsgericht nicht greifbar seien, die nochmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Das Berufungsgericht hat dies mangels Zustimmung des Gegners abgelehnt. Die Akten, die sich wegen einer Richterbeurteilung in der Präsidialabteilung befunden hatten, sind dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten erst am 28. Juni 2011 zur Verfügung gestellt worden. Die Berufungsbegründung nebst Wiedereinsetzungsantrag ist am 1. Juli 2011 beim Berufungsgericht eingegangen.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung abgelehnt und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.

II.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Berufung sei als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet worden sei. Wiedereinsetzung könne dem Beklagten nicht gewährt werden, weil die Fristversäumung auf einem ihm nach § 85 Abs. 2 BGB zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruhe. Es sei mit anwaltlicher Sorgfalt nicht zu vereinbaren, erst wenige Tage vor Ablauf der verlängerten Berufungsbegründungsfrist die Bearbeitung der Rechtsmittelbegründung in Angriff zu nehmen und Akteneinsicht zu beantragen. Anwaltlicher Sorgfalt hätte es entsprochen, sich wenigstens um die Erfüllung der Anforderungen des § 520 Abs. 3 Nr. 3 ZPO innerhalb der bereits verlängerten Berufungsbegründungsfrist zu bemühen.

III.

Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig. Sie ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat dem Beklagten zu Unrecht Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zu Begründung der Berufung versagt, weil es die an den Prozessbevollmächtigten des Beklagten zu stellenden Sorgfaltsanforderungen bezüglich der Akteneinsicht überspannt hat; damit ist auch der Verwerfung des Rechtsmittels die Grundlage entzogen.

1. Der Beklagte war ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Begründung der Berufung gehindert. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt ein dem Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht darin, dass dieser Akteneinsicht erst am 23. Mai 2011 und somit wenige Tage vor dem Ende der am 26. Mai 2011 ablaufenden (verlängerten) Rechtsmittelbegründungsfrist beantragt und mit der Anfertigung der Berufungsbegründung nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt begonnen hat.

Allerdings hat der Prozessbevollmächtigte einer Partei durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig hergestellt wird und fristgerecht beim zuständigen Gericht eingeht (BGH, Beschlüsse vom 13. Februar 2007 - VIII ZB 40/06, NJW 2007, 2559 Rn. 7; vom 2. Dezember 1996 - II ZB 19/96, NJW-RR 1997, 562 unter II; st. Rspr.). Hierzu gehört selbstverständlich auch, dass er mit der Bearbeitung einer Rechtsmittelbegründung so rechtzeitig beginnt, dass sie innerhalb der Frist fertiggestellt und dem Gericht übermittelt werden kann. Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten aber nicht verstoßen. Grundsätzlich dürfen Fristen bis zum letzten Tag ausgeschöpft werden (BVerfG, NJW 1991, 2076 mwN). Anhaltspunkte dafür, dass der bis zum Fristablauf verbleibende Zeitraum von drei Tagen nach dem gewöhnlichen Verlauf nicht zur Erstellung und Übermittlung der Berufungsbegründung ausgereicht hätte, sind nicht erkennbar. Insbesondere durfte der Prozessbevollmächtigte angesichts des Zeitablaufs seit Rechtsmitteleinlegung davon ausgehen, dass sich die Prozessakten beim Berufungsgericht befanden und ihm kurzfristig zur Verfügung gestellt werden konnten. Wie der weitere Ablauf zeigt, war die rechtzeitige Einsichtnahme nur deshalb nicht möglich, weil die Akten weder beim Berufungsgericht noch beim Amtsgericht greifbar waren; dies kann dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten nicht angelastet werden.

Anders als das Berufungsgericht offenbar meint, war der Prozessbevollmächtigte des Beklagten auch nicht gehalten, sich ungeachtet der nicht gewährten Akteneinsicht um die Erstellung einer fristgerechten Rechtsmittelbegründung zu bemühen. Denn dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten lagen nicht sämtliche der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Unterlagen vor, so dass eine sachgerechte Bearbeitung der Rechtsmittelbegründung ohne Akteneinsicht schon aus diesem Grund nicht möglich war.

2. Der Beklagte hat innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO Wiedereinsetzung beantragt und die versäumte Berufungsbegründung nachgeholt. Das Hindernis ist mit der am 28. Juni 2011 gewährten Akteneinsicht weggefallen; die Berufungsbegründung und der Wiedereinsetzungsantrag sind am 1. Juli 2011 und somit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen.

3. Über den - mit Schriftsatz vom 17. November 2011 wiederholten - Antrag des Beklagten auf Vollstreckungsschutz hat das Berufungsgericht zu entscheiden, bei dem der Rechtsstreit nach der Beendigung des Rechtsbeschwerdeverfahrens durch diesen Beschluss wieder anhängig ist.

Vorinstanz: AG Berlin-Charlottenburg, vom 17.02.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 214 C 290/10
Vorinstanz: LG Berlin, vom 30.08.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 65 S 145/11