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BGH - Entscheidung vom 26.04.2012

V ZB 17/12

Normen:
FamFG § 23 Abs. 2
FamFG § 417 Abs. 2
FamFG § 420
FamFG § 68

BGH, Beschluss vom 26.04.2012 - Aktenzeichen V ZB 17/12

DRsp Nr. 2012/10933

Voraussetzungen für eine Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bzw. Abschiebung; Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs wegen unterlassener Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht

1. Ein Amtsgericht verletzt den Anspruch eines Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs bei der Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung, wenn diesem der Haftantrag der beteiligten Behörde erst zu Beginn der Anhörung eröffnet wird. 2. Der Zeitpunkt, zu dem das Gericht des ersten Rechtszugs dem Betroffenen den Haftantrag der beteiligten Behörde zuzuleiten hat, bestimmt sich einerseits danach, was zu der dem Richter im Freiheitsentziehungsverfahren obliegenden Sachaufklärung erforderlich ist, andererseits danach, was den Betroffenen in die Lage versetzt, das ihm von Verfassungs wegen zukommende rechtliche Gehör effektiv wahrzunehmen. Ist der Betroffene ohne vorherige Kenntnis des Antragsinhalts nicht in der Lage, zur Sachaufklärung beizutragen und seine Rechte wahrzunehmen, muss ihm der Antrag vor der Anhörung übermittelt werden. Dagegen genügt die Eröffnung des Haftantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist. 3. Ein solcher Fall ist nicht gegeben, wenn ein vierseitiger Haftantrag mit komplexen Ausführungen zu bisherigen Ermittlungsergebnissen vorliegt. 4. Ein Beschwerdegericht muss sich zudem in Einzelfällen bei neuem Vortrag einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschaffen. Eine Anhörung ist in aller Regel unverzichtbar, wenn es auf die Glaubwürdigkeit des Ausländers ankommt.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 21. Dezember 2011 und der Beschluss der 19. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 27. Januar 2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

FamFG § 23 Abs. 2 ; FamFG § 417 Abs. 2 ; FamFG § 420 ; FamFG § 68 ;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste am 5. Dezember 2011 ohne Reisepass und Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er meldete sich am 20. Dezember 2011 bei der beteiligten Behörde und stellte dort einen Asylantrag. Eine Anfrage über Eurodac ergab, dass der Betroffene am 2. Oktober 2011 bereits in Italien einen Asylantrag gestellt hatte. Am 21. Dezember 2011 hat das Amtsgericht Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach Italien bis zum 20. März 2012 angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Am 6. Februar 2012 ist der Betroffene nach Italien zurückgeschoben worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er die Feststellung, dass er durch die Haftanordnung und ihre Aufrechterhaltung in seinen Rechten verletzt worden ist.

II.

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts liegen die Voraussetzungen für eine Haft zur Sicherung der Zurückschiebung vor. Der Betroffene habe in keiner Weise glaubhaft gemacht, dass er sich für eine Zurückschiebung freiwillig zur Verfügung halten werde. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass ihm der Haftantrag erst zu Beginn seiner erstinstanzlichen Anhörung eröffnet worden sei, da dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betreffe.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Entscheidung des Amtsgerichts als auch die des Beschwerdegerichts verletzen den Betroffenen in seinen Rechten.

1.

Das Amtsgericht hat den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs bei der Anordnung der Haft verletzt, weil ihm der Haftantrag der beteiligten Behörde erst zu Beginn der Anhörung eröffnet wurde.

a)

Der Zeitpunkt, zu dem das Gericht des ersten Rechtszugs dem Betroffenen nach § 23 Abs. 2 FamFG den Haftantrag der beteiligten Behörde zuzuleiten hat, bestimmt sich einerseits danach, was zu der dem Richter im Freiheitsentziehungsverfahren obliegenden Sachaufklärung erforderlich ist, andererseits danach, was den Betroffenen in die Lage versetzt, das ihm von Verfassungs wegen zukommende rechtliche Gehör effektiv wahrzunehmen. Ist der Betroffene ohne vorherige Kenntnis des Antragsinhalts nicht in der Lage, zur Sachaufklärung beizutragen und seine Rechte wahrzunehmen, muss ihm der Antrag vor der Anhörung übermittelt werden. Dagegen genügt die Eröffnung des Haftantrags zu Beginn der Anhörung, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist (vgl. zum Ganzen Senat, Beschluss vom 4. März 2010 V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 , 330 Rn. 16 mwN).

b)

Danach genügte es hier nicht, dem Betroffenen den Haftantrag erst zu Beginn der Anhörung zu eröffnen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts betraf der vierseitige Haftantrag der beteiligten Behörde nicht einen einfach gelagerten Sachverhalt. In dem Haftantrag war nicht wie das Beschwerdegericht meint lediglich dargelegt, dass der Betroffene ohne Papiere illegal nach Deutschland eingereist sei. Vielmehr verhielt er sich unter anderem auch dazu, dass die erkennungsdienstliche Behandlung über Eurodac ergeben habe, dass der Betroffene in Italien einen Asylantrag gestellt habe, und daher die italienischen Behörden für den rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens zuständig seien. Zudem ist dargelegt, dass ein von dem Betroffenen in Deutschland gestellter Asylantrag der Anordnung von Haft nicht entgegenstünde, da ein solcher Antrag im Hinblick auf die Zuständigkeit Italiens nach § 27a AsylVfG unzulässig wäre. Schließlich verhält sich der Haftantrag auch zu der Frage der Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Angesichts der Komplexität der Ausführungen kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene ohne vorherige Zuleitung des Haftantrags nicht in der Lage war, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde (vgl. § 417 Abs. 2 FamFG ) zu äußern. Der Umstand, dass dem Betroffenen bei der behördlichen Ingewahrsamnahme der strafrechtliche Vorwurf der unerlaubten Einreise in arabischer Schrift eröffnet worden war, ändert daran nichts.

2.

Auch die Beschwerdeentscheidung verletzt den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

a)

Es kann dahin gestellt bleiben, ob der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen im Laufe des Beschwerdeverfahrens Kenntnis von dem Haftantrag erlangt hat. Auch wenn dies der Fall wäre, durfte das Beschwerdegericht nicht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen; dies kommt gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2, § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG nur dann in Betracht, wenn die Anhörung in erster Instanz ordnungsgemäß erfolgt ist (Senat, Beschluss vom 8. Februar 2012 V ZB 260/11, [...] Rn. 6 mwN).

b)

Darüber hinaus hätte das Beschwerdegericht den der Entziehungsabsicht entgegenstehenden, erstmals in der Beschwerdeinstanz erhobenen Vortrag, sich für die Zurückschiebung nach Italien bereithalten zu wollen, durch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von dem Betroffenen würdigen müssen. Eine Anhörung ist in aller Regel unverzichtbar, wenn es auf die Glaubwürdigkeit des Ausländers ankommt (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153). So liegt es hier. Das Beschwerdegericht durfte das Vorbringen des Betroffenen nicht als Schutzbehauptung werten, ohne sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Denn es lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Betroffene seine Absicht, sich der Zurückschiebung nicht zu entziehen, erst im Beschwerdeverfahren hat vorbringen können. Das amtsgerichtliche Protokoll lässt nicht erkennen, dass der Betroffene zu der Frage der Entziehungsabsicht überhaupt angehört worden ist. Die einzigen protokollierten Äußerungen des Betroffenen bestehen in den Sätzen "Sie können mich fragen. ... Ja, das stimmt". Worauf sich letztere Antwort bezieht, ist dem Protokoll nicht zu entnehmen.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2 , § 81 Abs. 1 , § 430 FamFG . Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 V ZB 28/10 Rn. 18, [...]). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO .

Vorinstanz: AG Kiel, vom 21.12.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 43 XIV 117 B
Vorinstanz: LG Kiel, vom 27.01.2012 - Vorinstanzaktenzeichen 19 T 1/12