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BGH - Entscheidung vom 21.06.2012

V ZB 263/11

Normen:
FamFG § 417 Abs. 2 S. 2
AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5

BGH, Beschluss vom 21.06.2012 - Aktenzeichen V ZB 263/11

DRsp Nr. 2012/16247

Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot und Beschleunigungsgebot bei Anordnung bzw. Aufrechterhaltung einer Abschiebungshaft

Tenor

Dem Betroffenen wird Rechtsanwalt Dr. von Plehwe beigeordnet.

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin vom 21. Oktober 2011 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Kosten für den Dolmetscher nicht erhoben werden.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

FamFG § 417 Abs. 2 S. 2; AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 ;

Gründe

I.

Der Betroffene reiste am 2. Juni 2009 nach Deutschland ein und stellte einen Antrag auf Gewährung von Asyl, den das zuständige Bundesamt mit bestandskräftigem Bescheid vom 7. Mai 2010 ablehnte und mit der Aufforderung verband, Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen. Sein Aufenthalt in Deutschland wurde in der Folgezeit mehrfach geduldet, zuletzt bis zum 18. Januar 2011. Am 11. Januar 2011 nahm die beteiligte Behörde das Passersatzpapier des Betroffenen in Besitz und forderte ihn auf, sich am folgenden Morgen um 6.00 Uhr bei ihr zu melden und an einer Anhörung zur Feststellung seiner Personenidentität teilzunehmen. Dem leistete der Betroffene nicht Folge. Er meldete sich auch nicht bei der beteiligten Behörde, die ihn deshalb von Amts wegen mit unbekanntem Aufenthalt abmeldete. Am 21. September 2011 wurde der Betroffene in Oranienburg festgenommen.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 22. September 2011 gegen den Betroffenen Abschiebungshaft bis zum Ablauf des 22. Dezember 2011 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Am 19. Dezember 2011 ist der Betroffene aus der Haft entlassen worden, weil dessen Rückführung nach Vietnam trotz der Teilnahme an einer Botschaftsvorführung gescheitert ist. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt der Betroffene die Feststellung, dass ihn die Haftanordnung des Amtsgerichts und die Aufrechterhaltung der Haft durch das Landgericht in seinen Rechten verletzt haben.

II.

Das Beschwerdegericht meint, der Haftantrag der beteiligten Behörde entspreche den gesetzlichen Anforderungen. Er sei auch begründet. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Der Haftgrund nach dem hier noch maßgeblichen § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF (heute § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ) liege vor. Aus dem Nichterscheinen des Betroffenen zur Botschaftsvorführung am 12. Januar 2011 und seinem anschließenden Verschwinden ergebe sich, dass er sich der Abschiebung entziehen wolle. Abschiebungshindernisse bestünden nicht. Die angeordnete Haft sei auch nicht unverhältnismäßig. Der Termin der Abschiebung stehe fest. Falls die Abschiebung nicht gelinge, erhalte der Betroffenen eine neue Duldung.

III.

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung stand.

1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 , Satz 2 FamFG mit einem Antrag nach § 62 FamFG ohne Zulassung statthaft (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9). Sie ist auch sonst zulässig und insbesondere fristgerecht erhoben und begründet worden. Die Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde begannen nach § 71 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 41 Abs. 1 Satz 2 FamFG mit der förmlichen Zustellung am 26. Oktober 2011 zu laufen und endeten wegen des Wochenendes erst am 28. November 2011. An diesem Tag sind die Rechtsbeschwerde und ein Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist eingegangen. Die Begründung hat der Betroffene in der verlängerten Begründungsfrist vorgelegt. Einer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen bedarf es deshalb nicht.

2. Das Rechtsmittel ist indessen nicht begründet. Die Haftanordnung und die Aufrechterhaltung der Haft durch das Beschwerdegericht haben den Betroffenen nicht in seinen Rechten verletzt.

a) Die formellen und materiellen Voraussetzungen für die Anordnung und die Aufrechterhaltung waren gegeben. Der erforderliche Haftantrag der beteiligten Behörde befasst sich mit sämtlichen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG zu behandelnden Gesichtspunkten. Er verhält sich zwar nicht im Einzelnen zu den Gründen dafür, dass die Rückführung des Betroffenen nach Vietnam bislang nicht gelungen ist. Das war aber auch nicht erforderlich. Aus ihm geht, was genügt, hervor, dass jetzt Aussicht auf ein Gelingen der Rückführung besteht. Die zuständige Staatsanwaltschaft hatte die nach § 72 Abs. 4 AufenthG erforderliche Zustimmung erteilt. Der Betroffene ist vollziehbar ausreisepflichtig. Bei Anordnung und bei Aufrechterhaltung der Haft lag jedenfalls der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG aF vor, weil sich der Betroffene der vorgesehenen Vorführung bei den vietnamesischen Behörden am 12. Januar 2011 entzogen und sich bei den Ausländerbehörden nicht gemeldet hatte. Das stellt der Betroffene auch nicht mehr in Abrede.

b) Entgegen der Ansicht des Betroffenen verstießen weder die Anordnung noch die Aufrechterhaltung der Haft gegen das Verhältnismäßigkeits- und das Beschleunigungsgebot.

aa) Die Anordnung der Haft für die Dauer von drei Monaten war zur Durchführung der Abschiebung erforderlich. Es war zu erwarten, dass sie in diesem Zeitraum gelingen würde. Die Rückführung nach Vietnam erfolgt in dem von dem Beschwerdegericht zutreffend dargestellten Listenverfahren nach Art. 2 des Protokolls vom 21. Juli 1995 zu dem deutschvietnamesischen Rückführungsabkommen vom gleichen Tag (BGBl. II S. 744 und 746) nicht kontinuierlich auf Grund von Einzelprüfungen, sondern in Kontingenten auf Grund von Sammelprüfungen in Vorführungsterminen. Der Betroffene war in die für den hier nächsterreichbaren Vorführungstermin am 30. November 2011 aufgestellte Liste A aufgenommen. Es konnte deshalb davon ausgegangen werden, dass er für eine Rückführung nach Vietnam grundsätzlich in Betracht kam und die Rückführung dorthin bis zum 13. Dezember 2011 gelingen werde. Dem stand nicht entgegen, dass sie bei früheren Gelegenheiten misslungen war. Sie erschien jedenfalls jetzt möglich. Diese Einschätzung der beteiligten Behörde, vor allem aber des Haftrichters und des Beschwerdegerichts ist nicht deshalb fehlerhaft, weil die Rückführung tatsächlich nicht erreicht worden ist. Denn damit mussten sie angesichts der Aufnahme des Betroffenen in die Liste A nicht rechnen.

bb) Die beteiligte Behörde hat auch nicht gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen.

(1) Bei Anordnung der Haft war ein schnellerer Weg zur Rückführung des Betroffenen nicht erkennbar. Dieser hätte zwar seine Rückkehr nach Vietnam außerhalb des Listenverfahrens freiwillig betreiben können. Diese Möglichkeit kam hier aber ernsthaft nicht in Betracht. Die beteiligte Behörde hatte den Betroffenen aufgefordert, sich zu dem Vorführungstermin am 12. Januar 2011 einzufinden. Dabei hätte der Betroffene zudem zur Beschleunigung seiner Rückkehr nach Vietnam durch die Erklärung beitragen können, freiwillig zur Rückkehr bereit zu sein. Solche Personen werden nach Art. 2 Nr. 2 Anstrich 1 des erwähnten Protokolls zu dem deutschvietnamesischen Rücknahmeübereinkommen schneller überprüft und eher in die Liste B aufgenommen, auf Grund derer die Heimreisedokumente erstellt werden. Der Betroffene hat sich diesem Vorführungstermin entzogen und ist bei einem Freund untergekommen, ohne die beteiligte Behörde über seinen Aufenthalt zu informieren. Er hat das bei seiner Anhörung durch den Haftrichter eingeräumt und keine Angaben gemacht, die Veranlassung hätten geben können, der Möglichkeit einer freiwilligen Rückkehr nachzugehen. Dem nachzugehen war auch nicht auf Grund anderer Anhaltspunkte geboten.

(2) Bei der Aufrechterhaltung der Haft hatte der Betroffene allerdings erklärt, er wolle freiwillig ausreisen. Diese Erklärung erforderte zusätzliche Ermittlungen oder eine andere Einschätzung der Lage nur, wenn sie glaubhaft war. Das hat das Beschwerdegericht verneint. Diese Einschätzung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt überprüfbar und in diesem Rahmen nicht zu beanstanden. Der Betroffene hatte sich, wie erwähnt, dem Vorführungstermin am 12. Januar 2011 entzogen, bei der beteiligten Behörde nicht abgemeldet und durch dieses Verhalten die Abschiebung deutlich verzögert. Er hatte diesen Sachverhalt vor dem Haftrichter eingeräumt und keine Andeutung zu einem etwa eingetretenen Sinneswandel gemacht. Was ihn dazu bewogen haben und weshalb zu erwarten sein könnte, dass er, was nach dem bisherigen Ablauf der Ereignisse nahelag, die Gelegenheit einer - zudem unbegleiteten - Vorsprache bei der vietnamesischen Vertretung nicht wieder zu einem Untertauchen nutzen würde, hat er nicht ansatzweise erläutert. Seiner Erklärung musste das Beschwerdegericht deshalb keinen Glauben schenken. Daran ändert es nichts, dass sich der Betroffene später bei den Behörden gemeldet hat. Bei Anordnung und bei Aufrechterhaltung der Haft zeigte er ein gegenteiliges Verhalten, und nur darauf konnte die Prognose aufbauen.

(3) Weder der Haftrichter noch das Beschwerdegericht mussten sich mit der von der Rechtsbeschwerde aufgeworfenen Frage befassen, ob eine Beschleunigung durch eine Einzelrückführung außerhalb des Listenverfahrens zu erreichen war. Eine solche Einzelrückführung ist zwar nach einem abgestimmten Ergebnisvermerk des Auswärtigen Amtes über eine Konsultation mit den vietnamesischen Behörden vom 27. Februar bis 3. März 2006 in Hoi An möglich. Sie soll aber - als Ausnahme von dem völkervertraglich vereinbarten Listenverfahren - nur in begründeten Einzelfällen stattfinden und auch nur nach Absprache zwischen den deutschen und den vietnamesischen Behörden. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei dem Fall des Betroffenen um einen solchen begründeten Ausnahmefall gehandelt haben und dass dieser Umstand zu einer tatsächlich schnelleren Abwicklung der Rückführung hätte führen können, lagen weder bei Anordnung noch bei Aufrechterhaltung der Haft vor. Der Fall des Betroffenen unterscheidet sich nicht von den Fällen anderer Vietnamesen, die sich unerlaubt im Bundesgebiet aufhalten und abzuschieben sind.

cc) Zur Sicherung der Abschiebung standen schließlich auch keine milderen Mittel als die Inhaftierung zur Verfügung. Der Betroffene stützt seine gegenteilige Ansicht auf die Erklärung der Mitarbeiterin der beteiligten Behörde bei seiner Anhörung durch das Beschwerdegericht, er werde bei Scheitern der Abschiebung eine neue Duldung erhalten. Die Mitarbeiterin hat damit aber nur die sich aus ihrer Sicht dann ergebende Rechtslage beschrieben. Darüber, ob die Sicherung der Abschiebung auch ohne Inhaftierung möglich gewesen wäre, besagt die Erklärung nichts. Haftrichter und Beschwerdegericht haben das mit der beteiligten Behörde nach dem seinerzeitigen Verhalten des Betroffenen anders gesehen. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG . Zu berücksichtigen war allerdings, dass in Abschiebungshaftsachen von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09,

BGHZ 184, 323 , 333 Rn. 21). Insoweit war die Kostenentscheidung in der Entscheidung des Beschwerdegerichts zu ändern.

Vorinstanz: AG Oranienburg, vom 22.09.2011 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 5/11
Vorinstanz: LG Neuruppin, vom 21.10.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 5 T 206/11