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BGH - Entscheidung vom 14.02.2012

V ZB 4/12

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1

BGH, Beschluss vom 14.02.2012 - Aktenzeichen V ZB 4/12

DRsp Nr. 2012/6329

Verletzen des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Zurückweisung einer Beschwerde vor Ablauf der Begründungsfrist

1. Ein statthafter Aussetzungsantrag hat in der Sache Erfolg, wenn bei der gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen ist, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird. Das ist der Fall, wenn die Haftanordnung und die Entscheidung über die Beschwerde den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben. 2. Eine Haftanordnung erscheint bereits dann rechtswidrig, wenn sich weder aus der Akte noch aus dem Protokoll der Anhörung des Betroffenen ergibt, dass diesem der Haftantrag vor dem Anhörungstermin ausgehändigt worden ist. Die Bekanntgabe des Haftantrags ist jedoch notwendige Voraussetzung für die ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs, da andernfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene nicht in der Lage war, sich zu sämtlichen Angaben der Behörde zu äußern. 3. Ein Haftantrag muss die gesetzlich vorgeschriebenen Angaben über die erforderliche Dauer der Haft bis zur Zurückschiebung des Betroffenen enthalten. Allgemeine Angaben, welche Maßnahmen zur Durchführung der Zurückschiebung möglicherweise in Betracht kommen könnten, genügen nicht. Die Begründung der Erforderlichkeit der Dauer der beantragten Freiheitsentziehung muss vielmehr auf die Maßnahmen für die Zurückschiebung des Ausländers bezogen sein und Ausführungen dazu enthalten, dass und in welchen Zeiträumen Zurückschiebungen in die im konkreten Fall in Betracht kommenden Zielstaaten üblicherweise möglich sind. Soweit Rückübernahmeabkommen mit Staaten bestehen, sind die für die Erledigung der Ersuchen um Rückübernahme des Ausländers durchzuführenden Maßnahmen und der dafür üblicherweise benötigte Zeitraum in dem Haftantrag darzustellen. 4. Das Verfassungsgebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn das Beschwerdegericht bereits zwei Tage nach der Haftanordnung über die noch im Termin vor dem Amtsgericht, unmittelbar im Anschluss an die Haftanordnung erhobene Beschwerde entschieden hat, ohne eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeit zuzuwarten. Auch wenn sich ein anwaltlich nicht vertretener Betroffener nicht ausdrücklich die Begründung seiner Beschwerde vorbehalten hat, darf das Beschwerdegericht das Rechtsmittel erst dann zurückweisen, wenn eine von ihm gesetzte Frist für die Begründung verstrichen ist oder es eine für dessen Begründung angemessene Zeit zugewartet hat.

Tenor

Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 13. Dezember 2011 angeordneten und mit Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 15. Dezember 2011 aufrechterhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen eingestellt.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ;

Gründe

Der in entsprechender Anwendung des § 64 Abs. 3 FamFG statthafte Aussetzungsantrag (vgl. nur Senat, Beschluss vom 1. Juli 2011 - V ZB 141/11, InfAuslR 2011, 399 mwN) hat in der Sache Erfolg. Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Rechtsbeschwerde Erfolg haben wird, da die Haftanordnung und die Entscheidung über die Beschwerde den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

1. Die Haftanordnung erscheint bereits deshalb rechtswidrig, weil sich weder aus der Akte noch aus dem Protokoll der Anhörung des Betroffenen ergibt, dass diesem der Haftantrag der Beteiligten zu 2 vor dem Anhörungstermin ausgehändigt worden ist. Die Bekanntgabe des Haftantrags ist jedoch notwendige Voraussetzung für die ausreichende Gewährung rechtlichen Gehörs, da andernfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene nicht in der Lage war, sich zu sämtlichen Angaben der Behörde zu äußern (Senat, Beschluss vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257 , 258 Rn. 9).

2. Dem Haftantrag fehlten zudem die nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG vorgeschriebenen Angaben über die erforderliche Dauer der Haft bis zur Zurückschiebung des Betroffenen. Allgemeine Angaben, welche Maßnahmen zur Durchführung der Zurückschiebung möglicherweise in Betracht kommen könnten, genügen nicht. Die Begründung der Erforderlichkeit der Dauer der beantragten Freiheitsentziehung muss vielmehr auf die Maßnahmen für die Zurückschiebung des Ausländers bezogen sein und Ausführungen dazu enthalten, dass und in welchen Zeiträumen Zurückschiebungen in die im konkreten Fall in Betracht kommenden Zielstaaten üblicherweise möglich sind (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, Rn. 13, [...]). Soweit Rückübernahmeabkommen mit diesen Staaten bestehen (hier die Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Republik Österreich vom 16. Dezember 1997, BGBl. II 1998, 80, und der Republik Kosovo vom 21. April 2010, BGBl. II 259), sind die für die Erledigung der Ersuchen um Rückübernahme des Ausländers durchzuführenden Maßnahmen und der dafür üblicherweise benötigte Zeitraum in dem Haftantrag darzustellen. Das alles ist hier nicht geschehen.

3. Schließlich ist das Verfassungsgebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG ) auch dadurch verletzt worden, dass das Beschwerdegericht bereits zwei Tage nach der Haftanordnung über die noch im Termin vor dem Amtsgericht, unmittelbar im Anschluss an die Haftanordnung erhobene Beschwerde entschieden hat, ohne eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeit zuzuwarten. Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht mit dieser Verfahrensweise dem Betroffenen faktisch die Möglichkeit genommen habe, sein Rechtsmittel zu begründen, weil der ebenfalls zwei Tage nach der Inhaftierung für ihn tätig gewordene Rechtsanwalt im Beschwerdeverfahren nichts mehr bewirken konnte.

Maßgebend für Art. 103 Abs. 1 GG ist der Gedanke, dass ein Verfahrensbeteiligter Gelegenheit haben muss, durch seinen Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen. Das Gericht muss bei der Anwendung des Rechts ein Ausmaß an Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2.Juni 2010 - 1 BvR 448/06, Rn. 15, [...]).

Diesem Gebot handelt ein Gericht zuwider, wenn es eine Beschwerde schon vor Ablauf einer gesetzlich bestimmten Begründungsfrist oder - wenn eine solche Frist nicht bestimmt ist - vor Verstreichen einer für die Begründung des Rechtsmittels angemessenen Zeitspanne zurückweist. Auch wenn sich ein anwaltlich nicht vertretener Betroffene nicht ausdrücklich die Begründung seiner Beschwerde vorbehalten hat (zur Wartepflicht des Gerichts in diesen Fällen: BVerfG, NJW 2009, 1582 , 1583), darf das Beschwerdegericht das Rechtsmittel erst dann zurückweisen, wenn eine von ihm gesetzte Frist für die Begründung verstrichen ist oder es eine für dessen Begründung angemessene Zeit zugewartet hat. Das war hier nicht der Fall.

Vorinstanz: AG Neu-Ulm, vom 13.12.2011 - Vorinstanzaktenzeichen XIV 13/11
Vorinstanz: LG Memmingen, vom 15.12.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 42 T 1942/11