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BGH - Entscheidung vom 07.08.2012

1 StR 98/12

Normen:
StGB a.F. § 66a Abs. 2
StGB a.F. § 66b Abs. 1
ThUG § 1 Abs. 1

Fundstellen:
NStZ 2013, 100

BGH, Urteil vom 07.08.2012 - Aktenzeichen 1 StR 98/12

DRsp Nr. 2012/17619

Rechtmäßigkeit einer nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei Ableiten einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person des Verurteilten

Tenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 16. September 2011 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Normenkette:

StGB a.F. § 66a Abs. 2 ; StGB a.F. § 66b Abs. 1 ; ThUG § 1 Abs. 1;

Gründe

Die Strafkammer hat die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.

I.

Die Strafkammer hat folgende Feststellungen getroffen:

1. Der Verurteilte ist pädophil (ICD 10 F 65.4). Er war bereits 1999 wegen früherer sexueller Missbrauchstaten gegen Kinder zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit - später widerrufener - Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Bereits ab 1998 - und im weiteren Fortgang von der gegen ihn 1999 ergangenen Verurteilung unbeeindruckt - bis 2001 missbrauchte er in zahlreichen Fällen seine beiden 1987 und 1992 geborenen Stieftöchter sowie seinen 1987 geborenen Stiefsohn.

Wegen dieser Taten wurde der für uneingeschränkt schuldfähig befundene Verurteilte durch das Landgericht Nürnberg-Fürth im Anlassverfahren am 12. Juni 2003 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 23 Fällen unter Einbeziehung einer Freiheitsstrafe von drei Monaten aus einem Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 24. Oktober 2002 wegen Entziehung elektrischer Energie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wurde vorbehalten. Das Urteil erlangte noch am selben Tage Rechtskraft.

2. Von Juli 2001 bis November 2011 verbüßte der Verurteilte ohne Unterbrechungen die Strafen aus den genannten Verurteilungen. Nach Rechtskraft der Anlassverurteilung wurde er von der Justizvollzugsanstalt St. Georgen-Bayreuth in die Justizvollzugsanstalt Straubing verlegt. Ende November 2011 war die mit der Anlassverurteilung ausgesprochene Freiheitsstrafe verbüßt.

3. Im Strafvollzug verhielt sich der Verurteilte unauffällig. Während seines Aufenthaltes in der Justizvollzugsanstalt St. Georgen-Bayreuth war der Verurteilte in mehrere Therapiegruppen, u.a. eine niederschwellige Gruppentherapie zur Vorbereitung einer späteren Sozialtherapie, eingebunden. Diese Gruppentherapie hatte zwar Sexualdelikte zum Inhalt, betraf allerdings nur solche, die Gegenstand der Vorverurteilung aus dem Jahr 1999 gewesen waren. Zudem war unter Berücksichtigung der Anlassverurteilung eine solche niederschwellige Gruppentherapie keinesfalls ausreichend.

Mit der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Straubing unterblieben weitere Therapien. Nur im Rahmen halbjährlicher "Konferenzgespräche" wurde der Verurteilte regelmäßig zu seiner Therapiebereitschaft befragt. Dabei gab er von April 2005 bis April 2008 stets wahrheitswidrig vor, seine Rückverlegung und Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt St. Georgen-Bayreuth vorzubereiten bzw. auf die ihm von dort zugesagte Aufnahmebestätigung zu warten, um dort eine Verhaltenstherapie ("echte Sozialtherapie") durchzuführen. Tatsächlich hatte er sich weder in Bayreuth beworben, noch wäre für ihn dort ein Therapieplatz verfügbar gewesen. Seine Angaben wurden durch die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Straubing nicht überprüft. Auch war er zu keiner Zeit ernsthaft zu einer umfassenden Therapie motiviert, sondern versuchte durch die Vorspiegelung seines Therapiewillens, der Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zu entgehen.

4. Am 14. Februar 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf den im Urteil ausgesprochenen Vorbehalt die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a.F.. Mit dem Antrag und nochmals im weiteren Verfahrensverlauf wurde von der Staatsanwaltschaft ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Sicherungsverwahrung auf den in der Anlassverhandlung ausgesprochenen Vorbehalt nach dem Ablauf der in § 66a Abs. 2 StGB a.F. bestimmten Frist nicht mehr möglich ist. Seitens der Strafkammer wurden daraufhin verschiedene Nachermittlungen veranlasst und die Antragsschrift zugestellt; eine Hauptverhandlung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung fand aber innerhalb der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F., die am 25. Juli 2008 ablief, nicht mehr statt. Auf Anregung der Strafkammer nahm die Staatsanwaltschaft den Antrag am 3. September 2008 zurück.

II.

Den nunmehr von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag, die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 und 2 StGB (i. d. bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung - § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. Art. 316e Abs. 1 EGStGB ) anzuordnen, hat das Landgericht abgelehnt.

Die Ablehnung wurde von der Strafkammer wie folgt begründet: Zwar bestehe bei dem Verurteilten ein Hang zu erheblichen Straftaten, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen. So verspüre er noch immer sexuelles Interesse an Kindern; bei ihm liege ein eingeschliffenes Verhaltensmuster vor, immer wieder Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern zu begehen. Auch habe er keine erfolgversprechende Therapie durchlaufen, und die Gefahr künftiger einschlägiger Straftaten sei deutlich überdurchschnittlich bzw. hoch, der Verurteilte sei für die Allgemeinheit gefährlich. Indes mangele es am Vorliegen neuer Tatsachen. Insbesondere sei die mangelnde Therapiebereitschaft des Verurteilten bereits im Zeitpunkt der letztmöglichen Entscheidung über eine primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung - dies sei der Zeitpunkt des Verstreichens der Frist nach § 66a Abs. 2 StGB a.F. - erkennbar gewesen.

III.

Die Ablehnung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung hält revisionsgerichtlicher Prüfung stand.

1. Als Grundlage einer - nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NStZ 2011, 450 ff.) noch längstens bis zum Ablauf des 31. Mai 2013 möglichen - nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB a.F. darf eine solche Maßnahme nur noch dann ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet (zusammenfassend BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2011 - 2 BvR 2846/09). Im Übrigen ist Voraussetzung einer solchen Anordnung, dass sich diese nur auf solche "neuen" Tatsachen stützen kann, die "nach einer Verurteilung" und "vor dem Ende des Vollzuges" erkennbar geworden sind. Dabei kommt es nicht auf den Entstehungszeitpunkt der Tatsachen, sondern allein auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme und Berücksichtigung im vorangegangenen Strafverfahren an (BGH, Urteil vom 11. Mai 2005 - 1 StR 37/05, BGHSt 50, 121 ff.).

Maßgeblich für die Frage, ob eine Tatsache "neu" ist, ist demnach der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem eine (primäre) Sicherungsverwahrung hätte angeordnet werden können (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 2006 - 5 StR 113/06, NStZ-RR 2006, 302 f.; Beschluss vom 15. April 2008 - 5 StR 635/07, BGHSt 52, 213 ff.). Hierzu zählt auch die Entscheidung im Vorbehaltsverfahren; denn diese ist Bestandteil des Erkenntnisverfahrens (so bereits OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Oktober 2008 - 2 Ws 405/08 [263/08], NStZ-RR 2009, 75 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2010 - 4 Ws 348/09, StV 2010, 189 ff.).

2. Nicht anders zu beurteilen ist der Fall, in dem - wie hier - eine Entscheidung über den Vorbehalt ganz unterblieben ist. Der Verurteilte ist dann so zu stellen, als sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Vorbehaltsverfahren rechtskräftig abgelehnt worden. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. eine grundsätzlich verbindliche materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung darstellt (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159 ff.); denn nach den Gesetzesmaterialien ist die Entscheidung über den Vorbehalt spätestens sechs Monate vor dem von § 66a Abs. 2 StGB a.F. in Bezug genommenen Aussetzungszeitpunkt zu treffen (BT-Drucks. 14/8586, S. 6).

An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Das hiernach zwingende Ergebnis kann nicht dadurch umgangen werden, dass Tatsachen, die als Grundlage einer auf § 66a StGB gestützten Sicherungsverwahrung nicht (mehr) herangezogen werden können, stattdessen Grundlage einer auf § 66b StGB a.F. gestützten Sicherungsverwahrung werden. Die Auffassung, dass anderes gelte, wenn die im Vorbehaltsverfahren zur Entscheidung berufene Strafkammer das Verfahren bis zum Fristablauf so sehr verzögert hat (wofür auch vorliegend einiges spricht), dass eine Sachentscheidung nicht mehr möglich war (zur Möglichkeit einer Untätigkeitsbeschwerde im strukturell vergleichbaren Fall drohender Verjährung vgl. BGH, Beschluss vom 22. Dezember 1992 - 3 BJs 960/91 - 4 [85] - StB 15/92, NJW 1993, 1279 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 29. Oktober 2001 - 3 Ws 986/01, NStZ 2002, 220 f. mwN), teilt der Senat nicht.

Die "Neuheit" von Tatsachen im Verfahren über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB a.F. beurteilt sich in diesem Falle nach dem Tag des Ablaufs der Ausschlussfrist des § 66a Abs. 2 StGB a.F.. Der Verurteilte hat einen Anspruch darauf, dass bis zu diesem Tag eine Entscheidung getroffen worden und - im Falle der Ablehnung - eine nachträgliche Anordnung dann nur noch unter den engeren Voraussetzungen des § 66b StGB a.F. möglich ist.

3. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Strafkammer das Vorliegen "neuer Tatsachen" i.S.v. § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB rechtsfehlerfrei verneint. Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg.

a) Insbesondere ist die Beweiswürdigung nicht lückenhaft oder widersprüchlich. Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der Revision versagen. Der Verurteilte hat jedenfalls seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Straubing seine Therapieunwilligkeit planmäßig verdeckt. Dies war nicht erst nach Ablauf der in § 66a Abs. 2 StGB a.F. normierten Frist erkennbar. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Staatsanwaltschaft beschränkt sich auf eine eigene Bewertung auch von der Strafkammer gesehener Gesichtspunkte und vermag daher keinen revisiblen Rechtsfehler aufzuzeigen.

b) Hinsichtlich der Feststellungen des Sachverständigen, dass der Verurteilte nach seiner Haftentlassung ein neues Umfeld aufbauen und dabei das Vertrauen fremder Kinder sich erschleichen könnte, handelt es sich um keine neue Tatsache i.S.v. § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB , denn dieser Umstand war bereits bei der Anlassverurteilung erkennbar. Auch bei den Vorverurteilungen bezüglich der Taten von Dezember 1996 bis April 1998 waren Opfer Kinder, die nicht aus seinem unmittelbaren Nahbereich stammten und deren Vertrauen er sich erschlichen hatte (UA S. 8 f.).

IV.

Der Senat weist darauf hin, dass über den Vorbehalt von Amts wegen entschieden werden muss (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06, BGHSt 51, 159 ff.; Peglau JR 2002, 449, 451). Dies gilt auch, wenn der Antrag auf Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zurückgenommen worden ist. Diese Entscheidung kann nach Auffassung des Senats entsprechend dem Rechtsgedanken des § 206a StPO auch im Beschlusswege getroffen werden.

Von Rechts wegen

Vorinstanz: LG Nürnberg-Fürth, vom 16.11.2011
Fundstellen
NStZ 2013, 100