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BGH - Entscheidung vom 27.03.2012

3 StR 31/12

Normen:
StPO § 244 Abs. 3 S. 2
StPO § 244 Abs. 6

Fundstellen:
StV 2012, 580

BGH, Beschluss vom 27.03.2012 - Aktenzeichen 3 StR 31/12

DRsp Nr. 2012/9285

Hinweispflicht des Gerichts auf seine geänderte Rechtsauffassung bei Ablehnung eines Beweisantrags aufgrund einer zunächst als wahr unterstellten aber später als unerheblich eingeschätzten Beweistatsache

1. Das Tatgericht ist zwar nicht gehalten, die als wahr unterstellte Tatsache noch im Urteil als bedeutsam anzusehen und sie als solche in die Beweiswürdigung einzustellen; es ist daher nicht gehindert, eine zunächst als wahr unterstellte Behauptung im Urteil als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos zu behandeln.2. Auf einen entsprechenden Hinweis an den Angeklagten darf jedoch jedenfalls dann nicht verzichtet werden, wenn es naheliegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache im Zusammenhang steht und das - im Gegensatz zu dieser Tatsache - für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist.

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 27. Juli 2011 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Normenkette:

StPO § 244 Abs. 3 S. 2; StPO § 244 Abs. 6 ;

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Rüge der Verletzung von § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 6 StPO Erfolg.

1.

Nach den Feststellungen des Landgerichts betätigte sich der Angeklagte, ein Vollmitglied des Motorradclubs Hells Angels Westside in Bremen, im Rotlichtmilieu. Um seine diesbezüglichen Aktivitäten auszubauen, nötigte er den ebenfalls in diesem Bereich tätigen Zeugen F. zur Aufgabe der Vermietung von Wohnungen, die sich in einem Haus in Bremen befanden, an Prostituierte, indem er diesem mit Repressalien und körperlichen Misshandlungen drohte. Auf diese Weise erlangte er die Verfügungsgewalt über das Anwesen und vereinnahmte in der Folgezeit von dort tätigen Prostituierten Mieten in nicht feststellbarer Höhe.

Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegte Tat bestritten. Das Landgericht hat - ohne materiellen Rechtsfehler - seine Überzeugung vor allem auf die Aussage des Zeugen F. gestützt, deren Glaubhaftigkeit durch die Bekundungen weiterer Zeugen sowie sonstiger Indizien gestützt werde. Demgegenüber hat es die Aussage der zur Tatzeit als Prostituierte tätigen Zeugin H. als nicht glaubhaft gewertet. Diese hat unter Vorlage von Kontounterlagen und einer an sie und eine weitere Prostituierte, Frau R. , gerichteten Rechnung über die Installation von zwei Überwachungskameras in der Hauptverhandlung bekundet, der Zeuge F. habe sie und Frau R. gefragt, ob sie das betreffende Haus übernehmen könnten. Er habe berichtet, er wolle Bremen verlassen und nach Ostdeutschland ziehen. Eine zunächst vereinbarte Abschlagszahlung von 5.000 € sei auf zweimal 2.000 € reduziert worden. Die erste Rate sei bei Übergabe der Schlüssel bezahlt worden. Die zweite Rate sei nicht mehr beglichen worden, weil in dem Haus die Überwachungskameras gefehlt hätten; dies habe den Zeugen F. sehr entrüstet. In der Folgezeit seien sie, Frau R. und eine dritte Prostituierte in dem Anwesen tätig gewesen. Die Ummeldung bei den Stadtwerken habe sie gemeinsam mit Frau R. vorgenommen; mit dieser habe sie auch die Miete an den Zeugen O. bzw. den Eigentümer des Anwesens, den Zeugen P. , bezahlt. Der Angeklagte sei nach ihrer Kenntnis an einer Übernahme oder dem Betrieb des Hauses nicht beteiligt gewesen.

Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Nach der Vernehmung der Zeugin hat die Verteidigung mit insgesamt drei Anträgen im Wesentlichen unter Beweis gestellt, dass der Zeuge B. beim Umzug geholfen und dabei festgestellt habe, dass in dem Anwesen Kameras und Fernseher verschwunden seien, das Objekt sich in einem desolaten Zustand befunden habe und nicht - wie vom Zeugen F. bekundet - vor dem Umzug erhebliche Sanierungs- und Renovierungsarbeiten vorgenommen worden seien; dass der Zeuge Or. kurz darauf nach mündlicher Beauftragung durch die Zeugin H. und Frau R. eine neue Kameraanlage installiert und die Vergütung hierfür nach Rechnungstellung von diesen in bar erhalten habe; dass ab dem Umzug alle das Objekt betreffenden Zahlungen über das von der Zeugin H. benannte Konto abgewickelt worden seien. Das Landgericht hat die Beweisanträge durch in der Hauptverhandlung verkündeten Beschluss mit der Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellten Behauptungen würden so behandelt, als wären sie wahr. Nach der Verkündung eines weiteren Beschlusses nach § 244 Abs. 6 StPO ist die Beweisaufnahme geschlossen und in der Folgezeit auch nicht wieder eröffnet worden. In der Begründung des schriftlichen Urteils hat die Strafkammer ausgeführt, sie halte die Beweisbehauptungen nach Urteilsberatung nunmehr für "unerheblich". Aus den diesbezüglichen Darlegungen ergibt sich, dass das Landgericht die Beweistatsachen als aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung gewertet hat.

2.

Dieses Verfahren steht mit § 244 Abs. 3 Satz 2, Abs. 6 StPO nicht in Einklang.

a)

Nach ständiger Rechtsprechung ist das Tatgericht zwar nicht gehalten, die als wahr unterstellte Tatsache noch im Urteil als bedeutsam anzusehen und sie als solche in die Beweiswürdigung einzustellen; es ist daher nicht gehindert, eine zunächst als wahr unterstellte Behauptung im Urteil als aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos zu behandeln (BGH, Urteile vom 15. Mai 1979 - 5 StR 746/78, NStZ 1981, 96 ; vom 2. November 1982 - 5 StR 308/82, NStZ 1983, 357 ; vom 24. Januar 2006 - 5 StR 410/05, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 37; Beschlüsse vom 23. Juli 2008 - 5 StR 285/08, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung; vom 24. Februar 2009 - 5 StR 605/08, NStZ-RR 2009, 179 ). Danach soll auch eine Verpflichtung, die Verfahrensbeteiligten vor der Urteilsverkündung auf die geänderte Rechtsauffassung des Gerichts hinzuweisen, grundsätzlich nicht bestehen (aA mit beachtlichen Gründen etwa KK-Fischer, 6. Aufl., § 244 Rn. 187; LR-Becker, StPO , 26. Aufl., § 244 Rn. 310 jeweils mwN). Auf einen dahingehenden Hinweis darf jedoch bereits nach der bisherigen Rechtsprechung jedenfalls dann nicht verzichtet werden, wenn es naheliegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache im Zusammenhang steht und das - im Gegensatz zu dieser Tatsache - für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist (BGH, Beschluss vom 18. Februar 1982 - 2 StR 798/81, BGHSt 30, 383 , 385).

b)

Ein derartiger Fall liegt hier vor. Der die Beweisanträge im Wege der Wahrunterstellung zurückweisende Beschluss enthält - für sich rechtsfehlerfrei (LR/Becker aaO Rn. 305 mwN) - keine nähere Begründung. Hätte die Strafkammer die gestellten Beweisanträge in der Hauptverhandlung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der vorgebrachten Beweistatsachen zurückgewiesen, hätte sie dagegen deren Bedeutung für die Entscheidung in freier Würdigung des bisherigen Beweisergebnisses zu beurteilen gehabt und diese Würdigung im Ablehnungsbeschluss im Einzelnen darlegen müssen (LR/Becker aaO Rn. 225 mwN). Da sie die Änderung ihrer Beurteilung in der Hauptverhandlung nicht offengelegt hat, hat sie entsprechende Ausführungen erst in den schriftlichen Urteilsgründen nachgeschoben. Die Revision legt plausibel dar, dass sich im vorliegenden Fall aufgrund der bestehenden Beweislage und der in Betracht kommenden weiteren Beweisaufnahme bei Kenntnis der in den Urteilsgründen für die Bedeutungslosigkeit der Beweistatsachen angeführten Gründe weitere Verteidigungsmöglichkeiten ergeben hätten. Diese Möglichkeiten - insbesondere, auf zusätzliche, hier nicht fernliegende Beweiserhebungen anzutragen - war der Verteidigung aufgrund des Verfahrensablaufes genommen. Die Verfahrensbeteiligten haben auch aus dem weiteren Geschehen in der Hauptverhandlung nicht schließen können, dass sich die Ansicht der Strafkammer geändert hatte; denn eine weitere Beweisaufnahme hat nicht stattgefunden und das Tatgericht ist ausweislich der Urteilsbegründung erst in der Urteilsberatung zu seiner neuen Auffassung gelangt. Unter diesen Umständen war eine effektive, die berechtigten Interessen des Angeklagten wahrende Verteidigung nicht möglich.

3.

Das Urteil beruht auf dem dargelegten Rechtsfehler (§ 337 StPO ); denn es ist nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass die Entscheidung ohne diesen anders ausgefallen wäre.

Vorinstanz: LG Oldenburg, vom 27.07.2011
Fundstellen
StV 2012, 580