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BSG - Entscheidung vom 07.04.2011

B 9 VG 15/10 B

BSG, Beschluss vom 07.04.2011 - Aktenzeichen B 9 VG 15/10 B

DRsp Nr. 2011/11793

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Februar 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die 1969 geborene Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz ( OEG ) iVm dem Bundesversorgungsgesetz ( BVG ). Das beklagte Land lehnte ihren diesbezüglichen Antrag ab, weil sich der geltend gemachte sexuelle Missbrauch, der während der Kindheit der Klägerin durch den eigenen Vater erfolgt sein soll, nicht habe feststellen lassen (Bescheid vom 11.6.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.1.2005). Das Sozialgericht ( SG ) Schleswig hat nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidung verurteilt, der Klägerin "Versorgung nach dem OEG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 80 vH zu gewähren" (Urteil des SG vom 5.3.2008). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des beklagten Landes nach Vernehmung mehrerer Zeugen (Eltern und Bruder der Klägerin; frühere Lehrerinnen der Klägerin; frühere Freundinnen und früheren Freund der Klägerin) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht habe festgestellt werden können (Urteil des LSG vom 24.2.2010).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorgenannten Urteil hat die Klägerin bei dem Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde erhoben, mit der sie ua als Verfahrensmängel geltend macht, das LSG sei ohne hinreichende Begründung den von ihr gestellten Beweisanträgen nicht gefolgt. Es hätte insbesondere die sie behandelnde Diplom-Psychologin G. zu dem Beweisthema vernehmen müssen, dass die bei ihr (der Klägerin) festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien. Frau G. habe in ihren Stellungnahmen vom 5.2.2010 die Frage einer möglichen Fremdinduzierung der Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch durch suggestive Befragungen früherer Therapeuten (sog "False-Memory-Syndrom") verneint.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG vom 24.2.2010 ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG ) ergangen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, Frau G. dazu zu vernehmen, "dass die bei der Klägerin festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend zurückzuführen sind", ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG ). Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für die unterlassene Beweiserhebung (Zeugenvernehmung) vorliegt, kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr; vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen, insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 10). Keiner dieser Ablehnungsgründe liegt hier vor, jedenfalls soweit es um die Vernehmung der Diplom-Psychologin G. zu der Frage geht, ob die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch fremdinduziert sind (sog "False-Memory-Syndrom").

Ausgehend von der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des LSG, dass nach § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung ( KOVVfG ) eine Glaubhaftmachung sexuellen Missbrauchs zur Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG ausreichen könne, hätte sich das LSG vor Erlass einer Beweislastentscheidung zu Lasten der Klägerin gedrängt fühlen müssen, die Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugin dazu zu vernehmen, auf welche Weise die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch aufgetaucht sind und welche Erkenntnisse sie (Frau G.) veranlasst haben, in ihrer dem Schriftsatz der Klägerin vom 24.2.2010 beigefügten Stellungnahme vom 5.2.2010 eine Fremdinduzierung der Erinnerungen (sog "False-Memory-Syndrom") zu verneinen.

Legt man - wie das LSG - nach § 15 KOVVfG den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde, so reicht für die Feststellung des von der Klägerin behaupteten sexuellen Missbrauchs das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dh die gute Möglichkeit, aus, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl BSG SozR 3-3900 § 15 Nr 4 S 15). Wenn nun - wie die behandelnde Diplom-Psychologin G. meint - eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch ausgeschlossen werden kann, wäre nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum die Darstellung der vom LSG als glaubwürdig angesehenen Klägerin, sie sei im Kindesalter von ihrem Vater sexuell missbraucht worden, nicht der Wahrheit entsprechen soll. Soweit das LSG festgestellt hat, bestimmte Schilderungen der Klägerin ließen sich nicht mit der Wahrnehmung mehrerer Zeugen in Einklang bringen, bezieht sich dies nicht auf den streitigen sexuellen Missbrauch selbst, sondern auf andere Umstände. Abgesehen davon, dass diese Unstimmigkeiten vom LSG nicht abschließend geklärt worden sind, könnten die betreffenden Angaben der Klägerin möglicherweise auch durch ihre psychische Erkrankung beeinflusst worden sein. Es kommt deshalb unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des LSG entscheidend darauf an, ob und inwieweit eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin ausgeschlossen werden kann.

Eine Vernehmung der Diplom-Psychologin G. als sachverständige Zeugin war auch deshalb erforderlich, weil sich das LSG in seinem Urteil ansonsten mit der Frage einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin nicht ausdrücklich befasst hat. Dagegen greifen die vom LSG pauschal zur Ablehnung einer Vernehmung von behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten vorgebrachten Gründe hier schon deshalb nicht durch, weil sie sich nicht darauf beziehen, ob eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin mit sachkundiger Hilfe - etwa auch aufgrund der Stellungnahme der Diplom-Psychologin G. vom 5.2.2010 - ausgeschlossen werden kann.

Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen weiterer Beweiserhebung kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Durchführung der beantragten Zeugenvernehmung (insbesondere zum Ausschluss einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin) neue Gesichtspunkte ergeben hätte, die möglicherweise dazu geführt hätten, dass das LSG im Rahmen seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG ) zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Jedenfalls wäre bei Ausschluss einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch eine neue berufungsgerichtliche Beweiswürdigung erforderlich gewesen, die ggf auch zu Gunsten der Klägerin hätte ausfallen können.

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG in rechtlicher Hinsicht allerdings davon auszugehen haben, dass die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG iVm § 6 Abs 3 OEG nur dann zum Tragen kommt, wenn weder Unterlagen noch sonstige Beweismittel zu beschaffen sind (vgl BSGE 65, 123 , 125 = SozR 1500 § 128 Nr 39 S 46).

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Vorinstanz: LSG Schleswig-Holstein, vom 24.02.2010 - Vorinstanzaktenzeichen L 2 VG 16/08
Vorinstanz: SG Schleswig, - Vorinstanzaktenzeichen S 14 VG 1/05