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BGH - Entscheidung vom 09.06.2011

V ZB 16/11

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 5
FamFG § 420 Abs. 1 S. 1
FamFG § 74 Abs. 6 S. 1
GG Art. 104 Abs. 1 S. 1
GG Art. 104 Abs. 3 S. 1

BGH, Beschluss vom 09.06.2011 - Aktenzeichen V ZB 16/11

DRsp Nr. 2011/13138

Persönliche Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren gegen eine Haftanordnung ist grundsätzlich zwingend vorgeschrieben; Notwendigkeit der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren gegen eine Haftanordnung

1. Mit der statthaften und zulässigen Rechtsbeschwerde kann in einem Abschiebungsverfahren die Feststellung begehrt werden, dass ein betroffener Antragsteller durch eine Haftanordnung und durch die Verwerfung seiner Beschwerde dagegen in seinen Rechten verletzt worden ist.2. Eine solche Rechtsverletzung liegt vor, wenn die getroffenen Feststellungen nicht den angenommenen Haftgrund nach § 62 II S. 1 Nr. 2 AufenthG tragen. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird. Wegen dieser einschneidenden Folge muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 V AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen. Bei der Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Ausnahmefällen dazu führen kann, dass die Vermutung widerlegt werden kann.3. Ein Verstoß gegen die Hinweispflicht liegt vor, wenn sich ein solcher Hinweis den Feststellungen des Amtsgerichts nicht entnehmen entnehmen lässt, und der Aufenthaltswechsel, die Gründe hierfür und die Anzeigepflicht nicht Gegenstand der persönlichen Anhörung gewesen sind.4. Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach § 68 III S. 1 iVm § 420 I S. 1 FamFG, Art. 104 I S. 1 und III S. 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben. Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 III S. 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist, und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind.5. Das Unterlassen der notwendigen persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren drückt wegen ihrer grundlegenden Bedeutung der gleichwohl aufrechterhaltenen Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist.

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Montabaur vom 10. Dezember 2010 und der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 20. Januar 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Beteiligten zu 2 auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 , 5; FamFG § 420 Abs. 1 S. 1; FamFG § 74 Abs. 6 S. 1; GG Art. 104 Abs. 1 S. 1; GG Art. 104 Abs. 3 S. 1;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, hält sich seit 1990 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet auf. Seine Anträge auf Gewährung von Asyl blieben ohne Erfolg. Während er eine mehrjährige Jugendstrafe verbüßte, wies ihn der Beteiligte zu 2 mit Verfügung vom 3. September 2008 aus dem Bundesgebiet aus und verfügte zugleich seine Abschiebung nach Algerien. Im Juni 2009 wurde er aus der Strafhaft entlassen, war von Juli 2009 bis Oktober 2009 erneut inhaftiert und wurde am 9. Dezember 2010 festgenommen. Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von längstens drei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht ohne persönliche Anhörung des Betroffenen zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will er die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der Vorinstanzen feststellen lassen.

II.

Das Beschwerdegericht meint, neben dem Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG sei auch der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gegeben, weil der Betroffene unmittelbar nach der Haftentlassung unbekannten Aufenthalts gewesen sei. Er sei untergetaucht, indem er seinen Wohnort ohne Mitteilung an die Ausländerbehörde gewechselt habe. Unter der bei der Haftentlassung angegebenen Adresse bei seinem Vater habe er sich weder angemeldet noch habe er dort gewohnt. Eine persönliche Anhörung habe es unterlassen, weil keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.

III.

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

1.

Die Haftanordnung durch das Amtsgericht, die neben der Beschwerdeentscheidung Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens sein kann (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 14), hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Dabei kann offen bleiben, ob der Haftantrag in Amtshilfe gestellt werden durfte. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob - wie es das Beschwerdegericht angenommen hat - der Haftantrag zunächst mangels zureichender Begründung unzulässig war. Denn die Feststellungen tragen nicht den angenommenen Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG .

a)

Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird. Wegen dieser einschneidenden Folge muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen. Bei der Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Ausnahmefällen dazu führen kann, dass die Vermutung widerlegt werden kann (näher Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11 mwN).

b)

Der Betroffene hat dem Beteiligten zu 2 seinen Aufenthaltsort im Bundesgebiet zwar nicht mitgeteilt. Dass er auf seine Pflicht zur Mitteilung seines Aufenthalts an die Ausländerbehörde hingewiesen worden ist, lässt sich den Feststellungen des Amtsgerichts aber nicht entnehmen. Sein Aufenthaltswechsel, die Gründe hierfür und die Anzeigepflicht sind nicht Gegenstand der persönlichen Anhörung gewesen.

2.

Ebenso wenig hat das Beschwerdegericht Feststellungen zu der erforderlichen Belehrung getroffen. Zudem hätte es - wie von der Rechtsbeschwerde gerügt - den Betroffenen persönlich anhören müssen. Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben. Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261 Rn. 8; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 13; Beschluss vom 28. Januar 2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163 Rn. 7). An diesen Voraussetzungen fehlte es. Der Betroffene hat in dem Beschwerdeverfahren vorgetragen, er habe nach der Haftentlassung tatsächlich bei seinem Vater gewohnt und versucht, sich unter dieser Anschrift anzumelden, was ihm mit dem Hinweis, seine Aufenthaltserlaubnis sei erloschen, verwehrt worden sei. Dieses Vorbringen durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung als "vage und nicht nachvollziehbar" abtun.

3.

Ob beide Entscheidungen zudem als verhältnismäßig angesehen werden können, obwohl nahe liegt, dass eine Abschiebung aus der mehrjährigen Strafhaft heraus bei der erforderlichen Abstimmung der beteiligten Behörden ohne eine zusätzliche Inhaftierung nur wenige Wochen nach der Haftentlassung zu erreichen gewesen wäre (vgl. OLG Karlsruhe, InfAuslR 1998, 463 f.; 2007, 356; OLG Köln, OLGR 2007, 764; OLG Oldenburg, InfAuslR 2006, 281), bedarf danach keiner Entscheidung.

III.

1.

Die Sache ist ohne weitere Ermittlungen zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Das Unterlassen der notwendigen persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren drückt wegen ihrer grundlegenden Bedeutung der gleichwohl aufrechterhaltenen Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senat, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 176/10, [...] Rn. 12; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 12). Ebenso wenig lässt sich beheben, dass das Amtsgericht den zentralen Grund für die Haftanordnung in der persönlichen Anhörung nicht erörtert hat.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1 , 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, den Beteiligten zu 2 zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, [...] Rn. 18). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO .

Vorinstanz: AG Montabaur, vom 10.12.2010 - Vorinstanzaktenzeichen 11 XIV 48/10
Vorinstanz: LG Koblenz, vom 20.01.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 2 T 747/10