Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BGH - Entscheidung vom 19.05.2011

V ZB 22/11

Normen:
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 5
AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
FamFG § 64 Abs. 3 analog
FamFG § 417 Abs. 2

BGH, Beschluss vom 19.05.2011 - Aktenzeichen V ZB 22/11

DRsp Nr. 2011/10004

Aufrechterhaltung der Sicherungshaft gegen einen ohne Pass, Passersatzpapiere oder sonstige Aufenthaltstitel in die BRD eingereisten chinesischen Staatsangehörigen

Tenor

Der Antrag des Betroffenen, die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Offenbach am Main vom 24. März 2011 angeordneten und mit Beschluss der 26. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 11. Mai 2011 aufrechterhaltenen Sicherungshaft einstweilen auszusetzen, wird ebenso zurückgewiesen wie der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren.

Normenkette:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 , 5; AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1; FamFG § 64 Abs. 3 analog; FamFG § 417 Abs. 2;

Gründe

I.

Der Betroffene, ein chinesischer Staatsangehöriger, reiste im November 2003 ohne Pass, Passersatzpapiere oder sonstige Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde im Juni 2004 abgelehnt. Diese Entscheidung ist seit Juni 2005 bestandskräftig.

Im Februar 2004 wurde der Betroffene der Gemeinschaftsunterkunft in B. zugewiesen; von dort wurde er im April 2009 als unbekannt verzogen abgemeldet. Er wurde am 24. April 2011 im Rahmen einer Polizeikontrolle wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz vorläufig festgenommen. Zur Feststellung seiner Identität soll er am 6. Juni 2011 einer Expertengruppe vorgestellt werden.

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 24. März 2011 gegen den Betroffenen für die Dauer von drei Monaten die Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Die Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die von dem Betroffenen erhobene Rechtsbeschwerde. Vorab will er im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Haftanordnung erreichen.

II.

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts liegen die in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 5 AufenthG genannten Haftgründe vor. Der Betroffene sei unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist und deshalb vollziehbar ausreisepflichtig; er habe keinen festen Wohnsitz, gehe keiner geregelten Arbeit nach und verfüge nach eigenen Angaben über keine gefestigten sozialen Bindungen in Deutschland. Trotz Ausreisepflicht habe der Betroffene das Bundesgebiet nicht verlassen; er sei nicht bereit, in sein Heimatland zurückzukehren, und er wirke bei der Passersatzpapierbeschaffung nicht mit. Die Haftanordnung verstoße nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die beteiligte Behörde sei bemüht, die Identität des Betroffenen durch die Vorstellung bei einer Expertengruppe zu klären. Bei positivem Ausgang dieser Anhörung sei nach Angabe der beteiligten Behörde unter Bezugnahme auf die bundesweite Fallsammlung der Zentralen Ausländerbehörden über die Ausstellung von Passersatzpapieren für China damit zu rechnen, dass die Abschiebung bis zum Ende der angeordneten Haftdauer erfolgen könne. Schließlich habe die beteiligte Behörde nicht gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen, sondern die Durchführung der Abschiebung mit hinreichendem Nachdruck betrieben.

III.

Gründe für die Aussetzung der Vollziehung der Haftanordnung liegen nicht vor.

1.

Der Senat hat bereits entschieden, dass in einem Rechtsbeschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung der Regelung in § 64 Abs. 3 FamFG das Rechtsbeschwerdegericht vor der Entscheidung über das Rechtsmittel eine einstweilige Anordnung erlassen und anordnen kann, dass die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses auszusetzen ist (Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97 Rn. 3).

2.

Das Rechtsbeschwerdegericht hat über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sind die Erfolgaussichten der Rechtsbeschwerde und die drohenden Nachteile für den Betroffenen durch die weitere Inhaftierung gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 261/10, InfAuslR 2011, 26 Rn. 10; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440).

3.

Gemessen daran kommt eine Aussetzung der Vollziehung hier nicht in Betracht. Die Rechtsbeschwerde wird voraussichtlich keinen Erfolg haben.

a)

Die Beteiligte zu 2 ist die für die Stellung des Haftantrags zuständige Verwaltungsbehörde. Denn diejenige Ausländerbehörde, die für den dem Asylbewerber zugewiesenen Aufenthaltsort zuständig ist, bleibt für diesen auch dann zuständig, wenn der Ausländer sich unerlaubt aus ihrem Bezirk entfernt, um sich einer angedrohten Abschiebung zu entziehen (Senat, Beschluss vom 18. März 2010 - V ZB 194/09, FGPrax 2010, 156, 157 Rn. 13).

b)

Die Rüge, der Haftantrag erfülle nicht die strengen Voraussetzungen des § 417 Abs. 2 FamFG, bleibt voraussichtlich ohne Erfolg. Selbst wenn der Antrag keine Darlegungen zu dem nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendigen Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung enthält, führt das nicht ohne weiteres dazu, dass das Beschwerdegericht die Haft nicht aufrechterhalten durfte. Zwar kann das Fehlen eines zulässigen Haftantrags nicht rückwirkend geheilt werden, weil es sich bei der ordnungsgemäßen Antragstellung durch die Behörde um eine Verfahrensgarantie handelt, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG erfordert (Senat, Beschluss vom 24. Februar 2011 - V ZB 202/10 Rn. 26, [...]). Liegt im Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts das Einvernehmen vor, kann das aber dazu führen, dass insoweit erstmals ein zulässiger Haftantrag vorhanden ist. Das ist dann der Fall, wenn die antragstellende Behörde die Antragsbegründung um die Darlegungen zu dem vorliegenden Einvernehmen ergänzt und der Betroffene hierzu in einer Anhörung vor dem Beschwerdegericht Stellung nehmen kann; ab diesem Zeitpunkt fehlt es jedenfalls im Hinblick auf das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nicht mehr an einem zulässigen Haftantrag (Senat, Beschluss vom 3. Mai 2011 - V ZA 10/11, Umdr. S. 5 f.).

So dürfte es hier sein. Das Beschwerdegericht hat das Vorliegen des Einvernehmens festgestellt; es hat den Betroffenen auch angehört.

c)

Die weitere Rüge, dass der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genannte Haftgrund nicht vorliege, weil der Betroffene nach seiner unerlaubten Einreise einen Asylantrag gestellt habe, der die Ursächlichkeit der unerlaubten Einreise für die vollziehbare Ausreisepflicht unterbrochen habe, könnte Erfolg haben (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, FGPrax 2011, 41 , 43 Rn. 20). Das ist für die Entscheidung über den Aussetzungsantrag jedoch unbeachtlich, weil die Annahme des Beschwerdegerichts, es liege auch der in § 62 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG genannte Haftgrund vor, nach derzeitigem Erkenntnisstand zutrifft.

d)

Die Ansicht des Betroffenen, seine Absicht, sich der Abschiebung zu entziehen, könne nicht darauf gestützt werden, dass er nur unzureichend an der Feststellung seiner Identität und an der Beschaffung von Passersatzpapieren mitgewirkt habe, mag zutreffen. Der begründete Verdacht der Entziehungsabsicht dürfte sich jedoch daraus ergeben, dass der Betroffene in der Anhörung vor dem Beschwerdegericht erklärt hat, er wolle nicht zurück nach China (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10 Rn. 23, [...] [insoweit in NVwZ 2010, 1318 nicht abgedruckt]), und dass er diesen Willen durch sein Untertauchen ab dem Jahr 2009 bekräftigt hat.

e)

Die nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG von dem Beschwerdegericht angestellte Prognose ist derzeit rechtlich nicht zu beanstanden. Nach dieser Vorschrift darf Sicherungshaft nur angeordnet werden, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172 Rn. 14 mwN). Das Beschwerdegericht durfte sich für seine Prognose auf die bundesweite Fallsammlung der Zentralen Ausländerbehörden über die Ausstellung von Passersatzpapieren für China stützen (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, aaO, Rn. 15), wonach mit der Ausstellung eines Passersatzes innerhalb von 0 bis 56 Tagen zu rechnen sei. Entgegen der Ansicht des Betroffenen musste es dabei von der kürzest möglichen Dauer der Passersatzpapierbeschaffung ausgehen. Denn nur wenn feststeht, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten voraussichtlich nicht bewerkstelligt werden kann, muss untersucht werden, ob der Ausländer dies zu vertreten hat; ist das nicht der Fall, darf Haft nicht angeordnet werden (BVerfG, NJW 2009, 2659 , 2660 Rn. 22). Bei dem hier in Rede stehenden Zeitraum von 56 Tagen steht die Unmöglichkeit der Abschiebung bis zum Ende der angeordneten Haftdauer jedoch nicht fest. Nach der möglichen Klärung der Identität des Betroffenen am 6. Juni 2011 dauert die Haft noch 18 Tage. Selbst unter Zugrundelegung einer Abschiebungsvorbereitungszeit von ein bis zwei Wochen stehen für die Beschaffung der Passersatzpapiere mindestens vier Tage zur Verfügung. Dieser Zeitraum kann ausreichen. Die mit diesen Erwägungen verbundene Ungewissheit hinsichtlich der Dauer des - von dem Betroffenen nicht zu vertretenden -Abschiebungshindernisses geht bei der -wie hier -erstmaligen Anordnung der Haft für drei Monate zu Lasten des Betroffenen (BVerfG, NJW 2009, 2659 f. Rn. 19).

f)

Schließlich dürfte die Rüge, die Beteiligte zu 2 habe das Beschleunigungsgebot nicht eingehalten, ebenfalls ohne Erfolg bleiben. Dass eine eventuelle Verzögerung bei der Verbringung des Betroffenen in die JVA L. und bei dem Aufsuchen dort am 12. April 2011 den Vollzug der Abschiebung verzögert, ist nicht ersichtlich. Das Beschwerdegericht hat nämlich festgestellt, dass es unwahrscheinlich ist, dass der Betroffene einen früheren Termin als den 6. Juni 2011 für die Vorstellung bei der Expertengruppe erhalten hätte.

4.

Die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Rechtsbeschwerde hat auch zur Folge, dass dem Betroffenen die beantragte Verfahrenskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren nicht zu bewilligen ist (§ 114 Satz 1 ZPO i.V.m. § 76 Abs. 1 FamFG).

Vorinstanz: AG Offenbach, vom 24.03.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 20 XIV 9/11
Vorinstanz: LG Darmstadt, vom 11.05.2011 - Vorinstanzaktenzeichen 26 T 8/11