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BFH - Entscheidung vom 17.05.2011

VII R 43/10

BFH, Urteil vom 17.05.2011 - Aktenzeichen VII R 43/10

DRsp Nr. 2011/15722

Gründe

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) führte im November 2001 Videokameras (sog. Camcorder) ein, die nicht nur die durch die Kamera aufgenommenen Töne und Bilder aufzeichnen konnten, sondern nach ihrer Bauart auch dafür geeignet waren, digitale Signale externer Quellen aufzuzeichnen (sog. dv-in-Funktion), deren dv-in-Funktion jedoch im Zeitpunkt der Einfuhr nicht aktiviert war, sondern erst nach Überführung der Camcorder in den freien Verkehr und vor ihrem Weiterverkauf an Kunden im Betrieb der Klägerin mittels einer Software aktiviert wurde. Die Klägerin meldete die Camcorder als Waren der Unterpos. 8525 40 91 der Kombinierten Nomenklatur (KN) in der seinerzeit geltenden Fassung des Anhangs der Verordnung (EG) Nr. 2388/2000 der Kommission vom 13. Oktober 2000 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 264/1), berichtigt durch ABlEG 2000 Nr. L 276/92, zur Abfertigung zum freien Verkehr an, das Hauptzollamt sah die Camcorder jedoch als Waren der Unterpos. 8525 40 99 KN an und erhob Einfuhrabgaben in entsprechender Höhe.

Die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Es urteilte, unter Berufung auf Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 27. September 2007 C-208/06 und C-209/06 --Medion und Canon-- (Slg. 2007, I-7963) und vom 5. Juni 2008 C-312/07 --JVC France-- (Slg. 2008, I-4165), dass die in diesen Entscheidungen genannten Voraussetzungen für die Einreihung von Camcordern in die Unterpos. 8525 40 99 KN im Streitfall vorlägen. Wenn nach dieser Rechtsprechung Camcorder in die Unterpos. 8525 40 99 KN einzureihen seien, falls die bei der Einfuhr noch nicht aktivierte dv-in-Funktion vom Benutzer leicht freigeschaltet werden könne, so gelte dies umso mehr, wenn --wie im Streitfall-- der Benutzer den Camcorder bereits mit freigeschalteter dv-in-Funktion erwerbe, er also überhaupt keine Aktivitäten entfalten müsse, um auf diese Funktion zugreifen zu können.

Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass das FG von der Tarifauffassung des EuGH abgewichen sei, indem es nicht auf die Beschaffenheitsmerkmale der Ware im Zeitpunkt ihrer Einfuhr, sondern auf die dem Benutzer der Ware erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehende dv-in-Funktion abgestellt habe. Die Freischaltung der dv-in-Funktion für den Benutzer nach der Einfuhr der Camcorder sei ein komplexer Vorgang mit Hilfe von Hard- und Software sowie geschultem Fachpersonal.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Vorentscheidung aufzuheben und den Abgabenbescheid vom 14. November 2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. September 2005 dahin zu ändern, dass Einfuhrabgaben nach einem Zollsatz von 4,9 % erhoben werden.

Das HZA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Es trägt vor, dass die Hardware der eingeführten Camcorder für eine dv-in-Funktion geeignet sei und die Klägerin von vornherein die Absicht gehabt habe, die Geräte mit dieser Funktion in den Handel zu bringen. Die Aktivierung der dv-in-Funktion sei auch in der Bedienungsanleitung für die eingeführten Camcorder beschrieben.

II.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Ein Camcorder, der im Zeitpunkt der Einfuhrabfertigung über eine sog. dv-in-Funktion verfügt, ist in die Unterpos. 8525 40 99 KN einzureihen. Auch ein Camcorder, dessen dv-in-Funktion im Zeitpunkt der Einfuhrabfertigung noch nicht freigeschaltet ist, ist nach den EuGH-Urteilen in Slg. 2007, I-7963 und in Slg. 2008, I-4165 in die Unterpos. 8525 40 99 KN einzureihen,

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wenn diese Funktion nachträglich von einem Benutzer ohne besondere Kenntnisse leicht freigeschaltet werden kann, ohne dass der Camcorder materiell verändert wird,

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und wenn der Camcorder in einem solchen Fall nachträglicher Freischaltung zum einen in der gleichen Weise funktioniert wie ein Camcorder, bei dem die dv-in-Funktion zum Zeitpunkt der Zollabfertigung aktiv ist, und er zum anderen autonom funktioniert.

Im Streitfall ist die dv-in-Funktion der Camcorder erst nach deren Einführung freigeschaltet worden. Dass dafür keine materielle Änderung am Gerät erforderlich war, dieses danach autonom und ebenso funktionierte wie ein Camcorder mit von Anfang an vorhandener dv-in-Funktion, hat das FG bejaht, ohne dass Einwendungen gegen diese Feststellungen erhoben worden sind.

Das FG missversteht allerdings die genannten EuGH-Urteile, indem es annimmt, es komme auf die leichte Zugriffsmöglichkeit des "Benutzers" auf die dv-in-Funktion an, so dass die Voraussetzungen für die Einreihung in die Unterpos. 8525 40 99 KN nicht nur bei einer dem Benutzer leicht möglichen Freischaltung der dv-in-Funktion, sondern erst recht dann gegeben seien, wenn --wie im Streitfall-- er den Camcorder bereits mit freigeschalteter dv-in-Funktion erwerbe.

Soweit der EuGH den "Benutzer" erwähnt, geschieht dies erkennbar nur, um ein Beispiel für die leichte Möglichkeit der Freischaltung der dv-in-Funktion ohne materielle Änderung des Camcorders zu nennen, die nach Ansicht des EuGH dann gegeben ist, wenn dem Benutzer die leichte Aktivierung der dv-in-Funktion in der Bedienungsanleitung für das Gerät erläutert wird oder wenn --ohne einen solchen Hinweis in der Bedienungsanleitung-- die Einstellung von einem Benutzer ohne besondere Fähigkeiten leicht vorgenommen werden kann, ohne dass der Camcorder materiell verändert wird (EuGH-Urteil in Slg. 2007, I-7963 Rz 40). Wie der Hinweis in vorgenanntem EuGH-Urteil auf die Allgemeine Vorschrift 2 a für die Auslegung der KN (Rz 38 des Urteils) zeigt, der zufolge eine unvollständige oder unfertige Ware der vollständigen oder fertigen Ware gleichzustellen ist, wenn sie deren wesentliche Beschaffenheitsmerkmale hat, kommt es hinsichtlich der Camcorder entscheidend darauf an, ob sie im maßgebenden Zeitpunkt ihrer Einfuhr materiell bereits derart für eine dv-in-Funktion ausgerüstet sind, dass die Einstellung dieser Funktion nach der Einfuhr leicht und ohne materielle Änderung am Gerät vorgenommen werden kann. Wer nach der Wareneinfuhr in der Verkaufskette bis zum Benutzer des Camcorders dessen vorbereitete dv-in-Funktion aktiviert, ob ein Verkäufer im Zollgebiet der Gemeinschaft oder der Benutzer selbst, ist --was dann auch das FG an einer anderen Stelle der Entscheidungsgründe des Urteils meint-- unerheblich. Wenn bei einem Camcorder die in einfacher Weise wahrzunehmende Möglichkeit der Freischaltung der dv-in-Funktion besteht, ergäbe es auch keinen Sinn, darüber hinaus zu verlangen, dass nur der Benutzer des Geräts und nicht zuvor ein Dritter die dv-in-Funktion freischaltet.

Für die Beantwortung der somit entscheidenden Frage nach der leichten Freischaltbarkeit der im Einfuhrzeitpunkt noch nicht vorhandenen dv-in-Funktion fehlt es an tatsächlichen Feststellungen des FG. Dem angefochtenen Urteil lässt sich nur entnehmen, dass der streitige Camcorder für die Freischaltung der dv-in-Funktion materiell nicht verändert werden muss, sondern hierfür eine Umkodierung der Software erforderlich ist. Sollte dies dahin zu verstehen sein, dass das FG im Fall einer Freischaltung der dv-in-Funktion mittels Umkodierung der Software von einer leichten Freischaltbarkeit im Sinne der EuGH-Rechtsprechung ausgeht, könnte dem nicht gefolgt werden. Denn der EuGH hat in seinem Urteil in Slg. 2007, I-7963 Rz 42 eine Freischaltung der dv-in-Funktion, die z.B. eine Suche im Internet nach einer Anleitung für die Betätigung der Tasten oder den Kauf einer bestimmten Software und den Anschluss des Camcorders an einen PC erfordert, nicht als einen leicht ausführbaren, sondern als einen verhältnismäßig komplexen Vorgang bezeichnet, woraus entnommen werden kann, dass eine Freischaltung durch Änderung der Software nicht stets als eine leicht zu bewerkstelligende Freischaltung anzusehen ist (vgl. zu den insoweit in Betracht kommenden Kriterien der "leichten Freischaltbarkeit" das dem EuGH-Urteil nachgehende Urteil des FG Düsseldorf vom 5. März 2008 4 K 1417/04, nicht veröffentlicht). Im Streitfall fehlen entsprechende Feststellungen des FG, auf welche Weise die Software des streitigen Camcorders zur Freischaltung seiner dv-in-Funktion umkodiert werden muss. Aus dem FG-Urteil ergibt sich auch nicht, ob eventuell die Freischaltung in der beim Kauf des Geräts zur Verfügung gestellten Bedienungsanleitung erläutert wird, wobei allerdings allein ein Hinweis in der Bedienungsanleitung auf eine vorhandene dv-in-Funktion insoweit nicht reichen dürfte, da der Camcorder im Zeitpunkt seines Verkaufs ja unstreitig über diese Funktion verfügt. Entsprechende Feststellungen sind im zweiten Rechtsgang nachzuholen.

Soweit der Erläuterung zur KN (ErlKN) zu Unterpos. 8525 40 99 (jetzt: Unterpos. 8525 80 99) zu entnehmen sein sollte, dass zu dieser Unterposition Camcorder gehören, bei denen die dv-in-Funktion nachträglich mit Hilfe von Software aktiviert werden kann, widerspräche dies der Tarifauffassung des EuGH, denn dieser geht ohnehin davon aus, dass für die dv-in-Funktion erforderliche nachträgliche Änderungen an der Hardware des Camcorders seine Einreihung in die Unterpos. 8525 40 99 KN ausschließen, dass aber für eine solche Einreihung notwendige (sonstige) Änderungen an den Einstellungen des Camcorders leicht und ohne besondere Kenntnisse möglich sein müssen. Die ErlKN sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur ein rechtlich unverbindliches Hilfsmittel zur Auslegung der Tarifpositionen (vgl. EuGH-Urteil in Slg. 2008, I-4165 Rz 34). Rechtlich verbindlich sind hingegen die Tarifvorschriften in der Fassung der Auslegung, welche sie durch die Rechtsprechung des EuGH erfahren haben. Danach reicht aber --wie ausgeführt-- nicht jede nachträgliche Freischaltung der dv-in-Funktion mittels Software für die Einreihung in die Unterpos. 8525 40 99 KN, sondern nur eine in einfacher Weise vorzunehmende Freischaltung. Wenn der EuGH mit seinem Urteil in Slg. 2008, I-4165 Rz 35, 36 die Ansicht vertreten hat, dass die Erläuterungen zur KN zu Unterpos. 8525 40 99 im Einklang mit den Bestimmungen der KN stehen, so bezog sich dies nur auf den Teil der Erläuterung, in dem es heißt, dass mit dv-in-Funktion ausgestattete Camcorder auch dann in die Unterpos. 8525 40 99 KN gehören, wenn diese Funktion zum Zeitpunkt der Zollabfertigung noch nicht aktiviert ist.

Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg, vom 10.09.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 1 K 1443/05