Kontakt : 0221 / 93 70 18 - 0
Wir durchsuchen unsere Datenbank

BVerwG - Entscheidung vom 19.10.2010

9 B 37.10

Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
VwGO § 125 Abs. 2 S. 3
VwGO § 128
VwGO § 130a
VwGO § 133 Abs. 3 S. 3

BVerwG, Beschluss vom 19.10.2010 - Aktenzeichen 9 B 37.10

DRsp Nr. 2010/19875

Beurteilung der Zulässigkeit der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung ( VwGO ) oder nach dem anzuwendenden materiellen Bundesrecht oder Landesrecht; Wahrung des rechtlichen Gehörs bei Nichtanhörung zu einer Entscheidung durch Beschluss gemäß § 130a VwGO aufgrund mangelnder sachlicher Kenntnis von den für durchgreifend erachteten Gründen

Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kommt nur in Betracht, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat.

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 44 640 EUR festgesetzt.

Normenkette:

GG Art. 103 Abs. 1 ; VwGO § 125 Abs. 2 S. 3; VwGO § 128 ; VwGO § 130a; VwGO § 133 Abs. 3 S. 3;

Gründe

Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde kann keinen Erfolg haben.

1.

Die Beschwerde macht geltend, der die angegriffene Entscheidung selbständig tragende Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts, dass es im Ermessen der Behörde stehe, ob sie von dem ihr grundsätzlich zustehenden Recht der reformatio in peius Gebrauch mache, stehe in Widerspruch zum Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 28. November 2001 - BVerwG 8 C 14.01 - (BVerwGE 115, 259 <265>), nach dem sich die Zulässigkeit der reformatio in peius im Widerspruchsverfahren nicht bereits aus der Verwaltungsgerichtsordnung ergibt, sondern nach Maßgabe des jeweils anzuwendenden materiellen Bundes- oder Landesrechts zu beurteilen ist. Damit ist eine Divergenz nicht hinreichend dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ). Denn das Oberverwaltungsgericht geht nicht davon aus, dass sich die Zulässigkeit der Verböserung im Widerspruchsverfahren bereits aus der Verwaltungsgerichtsordnung herleiten lässt. Diese wird vielmehr ohne weitere Ausführungen unterstellt und ausgehend davon die Auffassung vertreten, dass die Ausübung eines solchen Rechtes zur Verböserung im Widerspruchsverfahren im Ermessen der Behörde stehe. Zu dieser Frage lässt sich dem von der Beschwerde genannten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts nichts entnehmen. Soweit die Beschwerde meint, aus dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung folge eine Pflicht zur Verböserung im Widerspruchsverfahren, wendet sie sich lediglich gegen die abweichende Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, ohne eine darauf bezogene Divergenz aufzuzeigen. Davon abgesehen legt die Beschwerde auch nicht nachvollziehbar dar, weshalb gerade der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gebieten sollte, die Steuer bei einer geänderten rechtlichen Bewertung nur gegenüber denjenigen Steuerpflichtigen anzuheben, die ihren Steuerbescheid angefochten haben.

2.

Die weiteren Divergenzrügen sowie die Grundsatzrüge rechtfertigen mangels Entscheidungserheblichkeit nicht die Zulassung der Revision. Sie richten sich gegen die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass die reformatio in peius im Widerspruchsverfahren vorliegend unzulässig sei; sie verstoße gegen das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen, weil sie nicht durch unrichtige Angaben der Klägerin veranlasst worden sei, sondern auf einer veränderten rechtlichen Bewertung des Beklagten beruhe und weil die Klägerin die nachträglich erhöhte Vergnügungssteuer nicht auf die Spieler abwälzen könne. Das Oberverwaltungsgericht hat den angegriffenen Beschluss jedoch unabhängig davon auch auf die Annahme gestützt, dass der Beklagte im Falle der Zulässigkeit der reformatio in peius sein dann eröffnetes Ermessen nicht ausgeübt habe. Diese Annahme greift die Beschwerde - wie dargelegt - ohne Erfolg an. Bei einer mehrfachen, die Entscheidung jeweils selbständig tragenden Begründung bedarf es zur Zulässigkeit der Beschwerde in Bezug auf jede dieser Begründungen eines geltend gemachten und vorliegenden Zulassungsgrundes (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 15).

3.

Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

Die Beschwerde macht als Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG ) geltend, das Oberverwaltungsgericht habe den Beklagten nicht ordnungsgemäß zu einer Entscheidung durch Beschluss gemäß § 130a VwGO angehört, weil er zu den vom Oberverwaltungsgericht für durchgreifend erachteten Gründen mangels Kenntnis sachlich nicht habe Stellung nehmen können.

Mit diesem Vortrag ist ein für den angefochtenen Beschluss erheblicher Verfahrensmangel nicht hinreichend dargetan (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ). Die Beschwerde verkennt den Umfang der Anhörungsverpflichtung nach § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO . § 130a VwGO ermöglicht unter den dort genannten Voraussetzungen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Deshalb muss die Anhörung erkennen lassen, dass ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden werden soll und ob das Gericht die Berufung für begründet oder unbegründet hält (Urteil vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 39.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 49 S. 34). Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Beteiligten zu dem beabsichtigten Verfahren äußern können (vgl. Urteil vom 21. August 1981 - BVerwG 4 C 6.81 - Buchholz 312 EntlG Nr. 21 S. 6). Die - vor der Schlussberatung nur vorläufigen - Gründe für die in Betracht gezogene Sachentscheidung müssen jedoch in der Anhörungsmitteilung nicht angegeben werden (Beschluss vom 13. Dezember 1983 - BVerwG 9 B 1387.82 - Buchholz 312 EntlG Nr. 34). Das Oberverwaltungsgericht musste dem Beklagten deshalb nicht mitteilen, dass die Berufungsentscheidung sich nicht auf die Gründe des Zulassungsbeschlusses beschränken würde. Eine Verpflichtung zur weitergehenden Gewährung rechtlichen Gehörs besteht allerdings ausnahmsweise dann, wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; BVerwG, Beschluss vom 25. August 2004 - BVerwG 9 BN 2.04 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 167 S. 143). So liegen die Dinge hier jedoch nicht. Denn nach § 128 VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht im Berufungsverfahren den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht. Mit der Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Einstufung der Apparate als Geldspielgeräte unter dem Aspekt der reformatio in peius hat sich bereits das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 28. März 2007 (UA S. 10 f.) auseinander gesetzt. Schließlich war dem Beklagten nach den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts der Beschluss vom 17. Juli 2008 - 14 B 2661/06 - bekannt, in dem die Schutzwürdigkeit des Vertrauens darauf, dass die "Fun Games"-Spielgeräte nicht rückwirkend als Geldspielgeräte besteuert werden, problematisiert worden war. Selbst wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbeteiligter von sich aus grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 a.a.O. S. 145). Das gilt hier auch für die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen es im Ermessen der Behörde steht, von einem ihr zustehenden Recht zur Verböserung im Widerspruchsverfahren Gebrauch zu machen.

Ohne Erfolg muss die Gehörsrüge auch insoweit bleiben, als der Beklagte geltend macht, die mit Schreiben vom 4. Dezember 2009 beantragte Fristverlängerung zur Erwiderung auf die Berufungsbegründung und zum Vorgehen nach § 130a VwGO habe das Oberverwaltungsgericht aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen abgelehnt. Da zwar der Sachverhalt dieses Verfahrens mit dem anderer Verfahren vergleichbar gewesen sei, nicht aber die Berufungsbegründung, hätte er auf diese konkret eingehen wollen. Insbesondere die zentrale Frage des Vertrauensschutzes hätte einer ausführlichen Stellungnahme bedurft.

Mit diesem Vortrag wird ein Gehörsverstoß schon nicht schlüssig bezeichnet. Welche Frist zu einer abschließenden Stellungnahme bei einer Anhörung nach § 130a VwGO - das Anhörungsschreiben mit einer Stellungnahmefrist von drei Wochen war ihm am 16. November 2009 zugegangen - im Lichte des Verfahrensgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG angemessen ist, kann nicht allgemein, sondern nur nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden (Beschluss vom 20. April 1999 - BVerwG 9 B 97.99 - [...] Rn. 3). Dem Beschwerdevortrag lässt sich nicht entnehmen, dass der Beklagte unter den Umständen des vorliegenden Falles durch eine zu kurz bemessene Äußerungsfrist in der Wahrnehmung seines rechtlichen Gehörs eingeschränkt gewesen wäre. Denn er hat nicht dargelegt, weshalb es ihm nicht möglich gewesen sein sollte, sich bis zum 16. Dezember 2009 - erst danach sollte eine Entscheidung erfolgen -, zur Berufungsbegründung, die ihm bereits am 13. November 2009 übersandt worden war, und zur beabsichtigten Verfahrensweise des Oberverwaltungsgerichts nach § 130a VwGO zu äußern, nachdem das Oberverwaltungsgericht in der Ablehnung der Fristverlängerung auf den frühesten Entscheidungszeitpunkt und auf die gleichgelagerten Verfahren hingewiesen hatte. Die Frage des Vertrauensschutzes war nicht erst in der Berufungsbegründung angesprochen worden, sondern auch im Berufungszulassungsantrag; zudem waren dem Beklagten, wie schon dargelegt, die diesbezüglichen Zweifel des Oberverwaltungsgerichts bereits bekannt.

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO . Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 3 , § 47 Abs. 1 und 3 GKG .

Vorinstanz: OVG Nordrhein-Westfalen, vom 23.12.2009 - Vorinstanzaktenzeichen 14 A 1932/07