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BVerfG - Entscheidung vom 25.02.2010

2 BvC 6/07

Normen:
GG Art. 38 Abs. 1 S. 1

BVerfG, Beschluss vom 25.02.2010 - Aktenzeichen 2 BvC 6/07

DRsp Nr. 2010/6093

Öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts nach Ablauf einer Wahlperiode bei grundsätzlicher Bedeutung eines Fehlers; Öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts nach Klärung aufgeworfener wahlrechtlicher Zweifelsfragen durch das Bundesverfassungsgericht in vergleichbaren Fällen

Tenor

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.

Normenkette:

GG Art. 38 Abs. 1 S. 1;

Gründe

I.

1.

Die Beschwerdeführerin erhob mit Schreiben vom 18. November 2005 beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005. Zur Begründung machte sie geltend, die Wahlrechtsgrundsätze seien durch § 6 Abs. 5 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 3 Satz 2 BWahlG verletzt, soweit hierdurch der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts ermöglicht werde.

2.

Der Deutsche Bundestag wies den Wahleinspruch in seiner 73. Sitzung vom 14. Dezember 2006 als offensichtlich unbegründet zurück (vgl. Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 30. November 2006, BTDrucks 16/3600, S. 93 f. <Anlage 13>; Stenografischer Bericht vom 14. Dezember 2006, S. 7259 B).

3.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Wahlprüfungsbeschwerde der Beschwerdeführerin. Sie wird von mehr als einhundert Wahlberechtigten unterstützt. Die Beschwerdeführerin wiederholt ihre Rüge aus dem Einspruchsverfahren.

4.

Am 27. September 2009 hat die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag stattgefunden. Dieser hat sich am 27. Oktober 2009 konstituiert.

Die Beschwerdeführerin verfolgt ihre Beschwerde weiter.

II.

Die Wahlprüfungsbeschwerde hat sich erledigt.

1.

Das Wahlprüfungsverfahren soll die gesetzmäßige Zusammensetzung des Deutschen Bundestages gewährleisten (vgl. BVerfGE 1, 430 <433>; 103, 111 <134>; stRspr). Da die 16. Legislaturperiode abgelaufen ist und sich der 17. Deutsche Bundestag konstituiert hat, kann eine Entscheidung über die Wahlprüfungsbeschwerde keine Auswirkungen mehr auf die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 16. Deutschen Bundestages haben. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist insoweit gegenstandslos geworden (vgl. BVerfGE 22, 277 <280 f.>; 34, 201 <203>).

2.

Das Bundesverfassungsgericht bleibt grundsätzlich auch nach dem Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009

2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 2 BvC 6/04 -, jeweils veröffentlicht in [...]). 

a)

Ob eine Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt wird, obliegt der freien Entscheidung jedes Beschwerdeberechtigten. Das Bundesverfassungsgericht kann nicht von Amts wegen tätig werden. Die Wahlprüfungsbeschwerde hat demgemäß eine Anstoßfunktion. Über den weiteren Verlauf des überwiegend objektiven Verfahrens (vgl. BVerfGE 34, 81 <97>) entscheidet jedoch das Bundesverfassungsgericht. Insoweit kommt es auf das öffentliche Interesse an (vgl. BVerfGE 89, 291 <299>).

b)

Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009

2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, a.a.O.). 

aa)

Die strikte rechtliche Regelung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl und eine Kontrolle der Anwendung dieser Vorschriften entsprechen der Bedeutung der Wahl zum Deutschen Bundestag als Ausgangspunkt aller demokratischen Legitimation wie auch der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahlrechts durch Art. 38 GG (vgl. BVerfGE 89, 243 <250 f.>). In der durch das Grundgesetz verfassten freiheitlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG ). Das Volk übt sie in Wahlen und Abstimmungen aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ). Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl. BVerfGE 97, 317 <323>); die Wahlen zur Volksvertretung sind der Grundakt demokratischer Legitimation (vgl. BVerfGE 44, 125 <142>). Die Ausübung des Wahlrechts stellt sich essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar (vgl. BVerfGE 8, 104 <115>; 83, 60 <71>).

bb)

Das Bundesverfassungsgericht prüft im Wahlprüfungsverfahren nicht nur den angegriffenen Beschluss des Deutschen Bundestages in formeller Hinsicht und darauf, ob Vorschriften des materiellen Rechts zutreffend angewandt worden sind (vgl. BVerfGE 97, 317 <322>), sondern darüber hinaus, ob das angewandte Wahlgesetz mit der Verfassung in Einklang steht (vgl. BVerfGE 16, 130 <136>; 21, 200 <204>; 34, 81 <95>). Als letzte und in der Regel einzige Instanz hat das Bundesverfassungsgericht im Wahlprüfungsverfahren eine mittelbare Normenkontrolle angewandter Wahlrechtsnormen durchzuführen. Der Deutsche Bundestag prüft in ständiger Übung im Einspruchsverfahren nicht abschließend die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Wahlrechtsnormen (vgl. nur BTDrucks 15/1150, S. 1; 16/1800, S. 229). Ihm fehlt insoweit die Verwerfungskompetenz. Eine Pflicht des Deutschen Bundestages zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen im Wahleinspruchsverfahren besteht dementsprechend nicht (vgl. BVerfGE 121, 266 <290>).

cc)

Wahlrechtsvorschriften entfalten über die jeweilige Wahlperiode hinaus solange Wirkung, bis sie vom Gesetzgeber geändert oder vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt werden. Die Fortsetzung einer durch die Wahlprüfungsbeschwerde veranlassten mittelbaren verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle liegt daher grundsätzlich auch nach Ablauf der Wahlperiode im öffentlichen Interesse. Gleiches gilt für sonstige wahlrechtliche Zweifelsfragen, die über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung haben.

c)

Ein öffentliches Interesse an einer Sachentscheidung nach Ablauf der Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprüfungsbeschwerde von Anfang an unzulässig ist. Insoweit wäre auch vor Ablauf der Wahlperiode keine Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 -, a.a.O.).

Das öffentliche Interesse an einer Sachentscheidung kann jedoch insbesondere dann entfallen, wenn das Bundesverfassungsgericht bereits in anderem Zusammenhang die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom Beschwerdeführer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und der Beschwerdeführer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten (vgl. BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom 15. Januar 2009 - 2 BvC 4/04 -, vom 9. Februar 2009 - 2 BvC 11/04 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 6/03 -, vom 18. Februar 2009 - 2 BvC 9/04 -, vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 1/04 - und vom 26. Februar 2009 - 2 BvC 6/04 -, a.a.O.).

3.

Danach hat sich die Wahlprüfungsbeschwerde der Beschwerdeführerin erledigt. Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung zur Sache nicht entgegen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die von der Beschwerdeführerin beanstandeten Regelungen in seinem Urteil zum sogenannten negativen Stimmgewicht (vgl. BVerfGE 121, 266 ) zwischenzeitlich für verfassungswidrig erklärt. Es hat festgestellt, dass § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWahlG in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (BGBl. I S. 674) den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann (vgl. BVerfGE 121, 266 <298 ff.>). Zugleich hat es einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Unmittelbarkeit der Wahl festgestellt, weil der Wähler unter Geltung dieser Vorschriften nicht erkennen kann, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren Wahlbewerber positiv auswirkt oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht (vgl. BVerfGE 121, 266 <307 f.>).

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den Regelungskomplex, der zum Auftreten des sogenannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern, damit der Deutsche Bundestag in Zukunft aufgrund eines in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzes gewählt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen (vgl. BVerfGE 121, 266 <315>). Der Gesetzgeber ist aufgerufen, das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen (vgl. BVerfGE 121, 266 <316>).

Da das Bundesverfassungsgericht damit die Verfassungswidrigkeit des sogenannten negativen Stimmgewichts festgestellt hat, besteht kein öffentliches Interesse mehr an einer Sachentscheidung des Senats.