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BVerfG - Entscheidung vom 04.11.2010

1 BvR 661/06

Normen:
PAG Art. 34a Abs. 1 S. 1 Nr. 2,3

Fundstellen:
DÖV 2011, 162

BVerfG, Beschluss vom 04.11.2010 - Aktenzeichen 1 BvR 661/06

DRsp Nr. 2010/20723

Geltendmachung des Unterbleibens einzelner Telefongespräche im Hinblick auf eine in der aufgehobenen Regelung liegende Rechtsgrundlage für Telekommunikationsüberwachungen als Geltendmachung eines besonders schwer wiegenden Grundrechtseingriffs

1. Ist das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren erledigt, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur dann, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt, wenn eine Wiederholungsgefahr besteht oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt. 2. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Hoheitsakt, kann es der Billigkeit entsprechen, die Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren anzuordnen.

Tenor

1

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

2

Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen aus den Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Normenkette:

PAG Art. 34a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ,3;

Gründe

1.

Die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (im Folgenden: PAG ) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und des Parlamentarischen Kontrollgremium-Gesetzes vom 24. Dezember 2005 (GVBl S. 641) richtet und sich durch die Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG durch § 1 Nr. 6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 2009 (GVBl S. 380) erledigt hat, ist nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen nach Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG nicht mehr besteht. Dies gilt auch in Bezug auf Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 PAG , der nur insoweit Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, als er an Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG anknüpfte.

Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts oder wenigstens für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit ein Rechtsschutzbedürfnis besteht (vgl. BVerfGE 50, 244 <247 f.>; stRspr). Ist wie hier das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren erledigt, so besteht ein Rechtsschutzbedürfnis dann, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt; ferner besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 50, 244 <248>; 91, 125 <133>; 99, 129 <138>; 119, 309 <317 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2010 - 1 BvR 2380/09 -, [...], Rn. 3; stRspr). Nach diesen Maßstäben besteht das für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr.

Abgesehen davon, dass für nicht mehr geltendes Recht in der Regel schon kein über den Einzelfall hinausgreifendes Interesse besteht, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären, und sich deshalb Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung insoweit regelmäßig nicht stellen (vgl. BVerfGE 91, 186 <200>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2010 - 1 BvR 2380/09 -, [...], Rn. 6), ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer durch die angegriffenen Regelungen einem besonders schwer wiegenden Grundrechtseingriff ausgesetzt gewesen wären.

Zwar stellen die durch diese Regelungen ermöglichten Datenerhebungen durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation grundsätzlich schwer wiegende Grundrechtseingriffe dar (vgl. BVerfGE 113, 348 <382>). Die Beschwerdeführer legen aber weder dar, solchen Maßnahmen in der Zeit bis zur Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG ausgesetzt gewesen zu sein, noch ist dies sonst ersichtlich. Dass im Hinblick auf die in der aufgehobenen Regelung liegende Rechtsgrundlage für Telekommunikationsüberwachungen einzelne Telefongespräche unterblieben sind, wie die Beschwerdeführer geltend machen, ist Ausdruck eines im Vergleich zu solchen Maßnahmen weit weniger schwer wiegenden Eingriffs.

Schließlich bestehen Anhaltspunkte für eine fortbestehenende Beeinträchtigung der Grundrechte der Beschwerdeführer ebenso wenig wie für eine Wiederholungsgefahr.

2.

Trotz der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung entspricht es allerdings der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG anzuordnen.

Für die Entscheidung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG kommt dem Grund, der zur Erledigung der Verfassungsbeschwerde geführt hat, wesentliche Bedeutung zu. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Hoheitsakt, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>; 91, 146 <147>). In einem solchen Fall ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. März 2004 - 1 BvR 1778/01 -, [...], Rn. 5).

Nach diesen Grundsätzen entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren anzuordnen. Denn wie sich aus der Begründung des § 1 Nr. 6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 2009 (GVBl S. 380) ergibt, mit dem Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG aufgehoben worden ist, bestanden im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung. Diese hat der Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Vorschrift vorsorglich zu streichen (vgl. LTDrucks 16/1271, S. 7). Damit hat er das Begehren der Beschwerdeführer als wahrscheinlich berechtigt erachtet. Dies rechtfertigt es, die Auslagenerstattung in gleicher Weise anzuordnen, wie wenn den Verfassungsbeschwerden stattgegeben worden wäre.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstellen
DÖV 2011, 162